Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
9. Februar 1986

Die Tugend der Liebe

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

„Für jetzt bleiben diese drei: Glaube, Hoffnung, Liebe. Das größte aber unter ihnen ist die Liebe!“ So haben wir eben in der Epistel des heutigen Sonntags vernommen. Wir haben an den vergangenen Sonntagen die Tugenden betrachtet, die göttlichen Tugenden und die sittlichen Tugenden. Glaube, Hoffnung, Liebe sind die göttlichen Tugenden, weil sie sich unmittelbar auf Gott richten, weil Gott ihr Ziel, ihr Gegenstand und ihr Beweggrund ist. Der Glaube ist die Wurzel. Ohne Glauben ist es unmöglich, Gott zu gefallen. Die Hoffnung ist die Krone, sie richtet den Menschen auf. Aber die Liebe ist gleichsam der ganze Inhalt unserer Gottesbeziehung. Die Liebe ist die größte der drei göttlichen Tugenden, weil sie uns unmittelbar mit Gott vereinigt.

Das ist von Christus selbst bezeugt worden. „Wenn einer mich liebt, so wird mein Vater ihn lieben, und auch ich werde ihn lieben, und wir werden kommen und Wohnung bei ihm nehmen.“ Da sieht man die vereinigende Kraft der Liebe. Die Liebe vereinigt Menschen in einer vorläufigen, provisorischen und manchmal recht irdischen Weise, aber sie vereinigt erst recht mit Gott. Die Liebe besitzt eine vereinigende Kraft. Wer Gott liebt, der trägt die Verheißung, daß er wiedergeliebt wird, und wo zwei Liebende aufeinander zugehen, da geschieht die Vereinigung in der Liebe. Die Liebe ist daher die größte der drei göttlichen Tugenden; sie ist es auch deswegen, weil sie niemals ausgeht. Der Glaube hört einmal auf, weil er nämlich zur Anschauung kommt. Wenn wir im Himmel sind, dann brauchen wir nicht mehr zu glauben, dann sehen wir, dann besitzen wir die Anschauung Gottes. Die Hoffnung hört einmal auf, denn wenn wir im Himmel sind, brauchen wir nicht mehr auf die Heilsgüter zu hoffen, wir besitzen sie. Aber die Liebe hört auch im Himmel nicht auf. Die Liebe wird vielmehr endlich zum Genuß ihres Gegenstandes, zum vollen, nie mehr aufhörenden Genuß ihres Gegenstandes, nämlich Gottes kommen. Weissagungen, Sprachengabe, Wissenschaft, das alles hört auf, aber die Liebe hört niemals auf.

Die Liebe allein verleiht den anderen Tugenden, den sittlichen Tugenden ihren Heilswert. Natürliche Tugenden haben auch die Heiden, haben auch die Menschen, die von Gott nichts wissen wollen. Aufgrund von Anlagen und Neigungen haben sie gewisse natürliche Tugenden in sich ausgebildet. Es gibt Menschen, die sind von Natur aus sanftmütig oder freigebig, brauchen kaum etwas dazuzutun; das haben sie gleichsam von Geburt an. Aber das ist keine übernatürliche Tugend, das ist keine heilswirksame Tugend, das ist keine Tugend, die ihren Lohn erwarten darf. Eine Tugend, die heilswirksam sein soll, muß aus der Liebe hervorgehen, aus der Gottesliebe, sie muß mit der   Gottesliebe verbunden sein. Und wenn jemand aus der Gottesliebe herausfällt, dann verliert er die heilswirksame, die – wie die Theologie sagt – übernatürliche Tugend. Dann mag die natürliche Tugend bleiben. Es gibt eben auch natürlich Gutes auf dieser Erde, aber es ist für die Ewigkeit verloren. Es ist etwas Gutes, was keine Frucht bringt. Es ist etwas Gutes, was nicht zum Heile führt.

Wir müssen also die Gottesliebe bewahren, wenn wir übernatürliche Tugenden erwerben, besitzen und erhalten wollen. Die Gottesliebe ist gleichsam die Wurzel dieses Baumes, auf dem die übernatürlichen Tugenden Gerechtigkeit, Tapferkeit, Mäßigkeit, Klugheit, Freigebigkeit und wie sie alle heißen wachsen. Nach Thomas von Aquin besitzt derjenige, der die vollkommene Liebe hat, alle Tugenden, aber nicht alle in gleichem Maß. Auch die Heiligen waren sehr unterschiedlich mit Tugenden ausgestattet. Sie besaßen gewiß den heroischen Grad der Tugend, d.h. die weit überdurchschnittliche Dimension, aber nicht jede Tugend war in gleichem Maße bei ihnen ausgebildet. Der Dulder Job besaß die Geduld in besonderer Weise, Abraham die Versöhnlichkeit, Ignatius von Loyola den Eifer im Guten, Franz von Sales die Sanftmut.

Und wir sollen vor allem jene Tugenden in uns ausbilden, die wir besonders nötig haben, die mit unseren Lebensumständen, mit unserem Beruf, mit unseren Verhältnissen notwendig gegeben sein sollten. Diese Tugenden sollten wir ausbilden. Die Tugenden lassen sich nämlich vermehren. Die übernatürlichen Tugenden werden vermehrt durch die heiligmachende Gnade. Wenn Gott uns heiligmachende Gnade schenkt und sie vermehrt, werden auch die Tugenden vermehrt. Wir können die sittlichen Tugenden auch durch eigene Anstrengung vermehren, indem wir uns bemühen, die entgegenstehenden Hindernisse zu überwinden und aus dem Wege zu räumen, indem wir die Tugenden bewußt und gezielt pflegen, indem wir uns immer wieder daran erinnern: Ich möchte im Dienste Gottes mich auszeichnen, und das geschieht, indem ich ein tugendhafter Mensch werde, nämlich treu, gerecht, wahrhaftig, verläßlich, rein, selbstlos, selbstvergessen werde. Ich möchte ein Mensch werden, der mit dem Tugendkleide angetan ist, wie wir es von der Muttergottes singen: „Sie strahlt im Tugendkleide.“

Die Tugenden können auch verlorengehen und vermindert werden. Verloren gehen sie immer dann als übernatürliche Tugenden, wenn wir die Gottesliebe verlieren. Der schwere Sünder verliert alle übernatürlichen Tugenden. Was übrig bleibt, sind natürliche Tugenden. Vermindert wird die Tugend durch Nicht-Übung. Das wissen wir ja schon aus unserem natürlichen Bereich. Wenn man ein Musikinstrument nicht übt, wenn man eine Sprache nicht spricht, dann verliert sich die Kunst, die wir erlernt haben, dann verliert sich die Kenntnis, die wir erworben haben. Und so kann es auch mit der Tugend gehen. Wenn wir uns gehenlassen, dann verlieren wir die Tugend. Ein Stein rollt immer leichter den Berg herab, als daß er hinaufgewälzt wird. Wir brauchen uns nur dem natürlichen Schwergewicht, der Schwäche unserer Natur zu überlassen, um von den Tugenden entblößt zu werden.

So ist also das ganze Leben des Christen, meine lieben Freunde, ein ständiger Kampf. Ich kann in gewisser Hinsicht den Aufschrei von Menschen verstehen, die sagen: Ach, wäre ich niemals mit der Wahrheit des Christentums bekanntgemacht worden! Ich würde angenehmer und bequemer leben. Ohne Frage! Ohne Frage! Aber weder das angenehme noch das bequeme Leben kann unser Ziel auf Erden sein. Das ist der fleischliche Mensch, der sich hier gegen den geistlichen Menschen erhebt. Das ist das schlechtere Ich, das gegen das bessere Ich mobil macht.

Nein, meine lieben Freunde, „du kennst deine Berufung, denn du spürst ihre Last. Aber wenn du sie preisgibst, dann verunstaltest du dich selbst.“

Amen.

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