Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
3. Juli 2016

Der gebildete Christ

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Das geistige Leben des Menschen ist eine Anlage und eine Befähigung, die der Entfaltung bedarf. Und diese Entfaltung des geistigen Lebens ist dem Menschen pflichtmäßig auferlegt. Es ist eine religiös-sittliche Verpflichtung, sich zu bilden, auszubilden und weiterzubilden. Das gilt sowohl für das Gebiet des religiösen wie des weltlichen Wissens. Der unwissende und ungebildete Heilige ist kein christliches Ideal. In meiner Jugend lief das spöttische Wort über fromme Jugendliche um: Religion: sehr gut – Mathematik: ungenügend. Das war ein Spottvers; in der Wirklichkeit war es nicht so, aber man sieht, wie das weltliche Wissen geschätzt oder auch überschätzt wird und das religiöse Wissen als unerheblich beiseite geschoben wird. Wir sollen nach Bildung streben. Bildung im aktiven Sinne ist ein Vorgang oder ein Verfahren der Menschenformung. Bildung im passiven Sinne ist ein Zustand, ein Besitz, das Gebildetsein. Gebildet ist, wer das hat, was er für seinen Lebenskreis benötigt. Bildung ist nicht identisch mit Wissensvermittlung, obwohl Wissen natürlich zur Bildung dazugehört – viel Wissen. Bildung besagt Gewinn oder Gewähr der dem Menschen angemessenen, ihn auszeichnenden Lebensform. Bildung entwickelt die dem Menschen gegebenen geistigen Kräfte, Vermögen und Anlagen, bewahrt sie vor Verunstaltung. Bildung verschafft vor allem Selbständigkeit im Denken. Um Bildung zu erlangen, muss man erzogen werden und sich selbst erziehen. Die Erziehung soll zur Bildung führen. Erziehung soll den werdenden Menschen nach einem Bildungsgut formen. Also: Man soll ihm körperliche und geistige Geschicklichkeit vermitteln, gesellschaftliche Nützlichkeit, Klugheit, sittliches Verhalten, charakterliche Werthaftigkeit. Aber Bildung überbietet die normative Erziehung. Die Bildung schließt körperliche Ertüchtigung, technische Fertigkeit, Berufsausbildung und geistige Bildung ein. Bildung ist das Ziel dieses Geschehens. Man erwirbt sich Bildung, um gebildet zu sein. Der gebildete Mensch ist der durch Bildung wertvoll gewordene Mensch. Die gebildete Person ist ein verwirklichter Wert. Die von ihr erworbene Bildung ist ein Gut für sie und für die Gemeinschaft. Man unterscheidet Fachbildung und Allgemeinbildung. Fachbildung ist die Gesamtheit der Kenntnisse und Fertigkeiten, die einer haben muss, um den Anforderungen seines Berufes gewachsen zu sein. Allgemeinbildung ist die Vermittlung von Kulturgütern an die Person, welche über die Fachbildung hinausliegen und von ihr verarbeitet werden, je nach den individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten. Unerlässlich ist eine gediegene Schulbildung. Wir haben als Kinder den Satz gelernt: Non scholae, sed vitae discimus – Wir lernen für das Leben, nicht für die Schule. Die Schulbildung soll uns Wissen vermitteln, aber sie soll uns auch lehren, wie man lernen muss, sie soll die Lernfähigkeit ausbilden. Ich kann mich an meine Schulzeit gut erinnern. Wenn Stunden ausfielen, dann freuten sich viele Kameraden. Ich habe mich nie gefreut; das weiß ich noch heute. Mir war damals schon klar, dass der Ausfall unwiederbringlich ist und niemals aufgeholt werden kann.

Wissen und Bildung allgemeiner Art sind erforderlich, damit der Einzelne seine fachliche Aufgabe erfüllen kann und seine Stellung in der Gemeinschaft ausfüllen kann. Die Allgemeinbildung soll die wesentlichen menschlichen Fähigkeiten entfalten und den Menschen einführen in die Ganzheit der Wahrheit. Bildung muss den ganzen Menschen erfassen, ihm ein umfassendes Ethos und auch ein geschlossenes Weltbild vermitteln. In jedem Menschen ist der Trieb nach Bildung; es gibt ein Drang zum Wissen. Keiner darf sein Talent vergraben. Es ist die Aufgabe der Bildung, den Menschen zu einer lebendigen Teilnahme an den Kulturgütern seiner Zeit und seiner Volksgemeinschaft zu befähigen. Gebildet ist, wer mit klarem Blick und sicherem Urteil zu den Gedanken und Lebensformen seiner Umgebung Stellung nehmen kann. Die Kirche, meine lieben Freunde, ist immer die erste Bildungsmacht der Erde gewesen. Sie setzt den Lehrstuhl neben den Altar. Sie wurde die Mutter der Schulbildung. Bevor der Staat überhaupt daran dachte, Schulen einzurichten, hat die Kirche Schulen eingerichtet. Der Gedanke der allgemeinen Volksbildung stammt aus der christlichen Überzeugung von der Gleichheit aller Menschen. Dass also nicht nur die Vornehmen und die Reichen Schulbildung genießen sollten, sondern alle Menschen, das ist der Kirche zu verdanken.

Unser Glaube lehrt uns Entscheidendes über unser Bildungsstreben. Er zeigt uns das Bildungsziel: „Nicht das viele Wissen tut’s, sondern wissen etwas Guts“, sagt der Volksmund. Das Bildungsziel soll sein, dass wir taugliche Jünger Christi, dass wir edle Gotteskinder werden, dass wir nützlich sind für die Gesellschaft und für unser eigenes Leben. Der Glaube ordnet auch den Bildungsvorgang. Bildung kann niemals nur äußere Zufuhr von Wissen sein. Gebildet wird nur der, der in eigener geistiger Arbeit das Bildungsgut in sich aufnimmt und verarbeitet. Wichtiger und notwendiger als die Allgemeinbildung ist selbstverständlich die Fachbildung, die Ausbildung in dem Berufe. Nur der Mensch, der in seinem Beruf Tüchtiges leistet, ist auch für wahre Bildung geeignet und aufnahmefähig. Man muss zuerst ein tüchtiger Bauer, ein gewissenhafter Arbeiter, ein brauchbarer Handwerker sein, bevor man sich der reichen Welt der Kulturgemeinschaft nähern kann. Man darf sich aber nicht mit geringen Kenntnissen begnügen. Nicht genügsam sein in der Bildung, meine lieben Freunde, sondern so viel Bildung erwerben, wie möglich ist, und unermüdlich danach streben und nicht müde werden. Der Glaube erhebt sowohl das Streben nach Bildung wie die Bildungsarbeit zu einer religiös-sittlichen Pflicht. Wir sind persönlich gehalten, uns allseitig zu bilden, um auf diese Weise an der Kultur- und Volksgemeinschaft Anteil zu gewinnen. Niemand darf in der Erweiterung seiner Bildung stille stehen, ohne sich zu schädigen und seine Persönlichkeitsentfaltung zu hemmen. Die Bildungspflicht ist auch eine soziale. Dadurch dass wir gebildet werden, dienen wir der Volksgemeinschaft. Ein gebildeter Mensch dient der Volksgemeinschaft mehr als ein ungebildeter. Und deswegen steht dem Recht des Einzelnen auf Teilnahme an den Kulturgütern des Volkes die Pflicht des Volkes gegenüber, ihm den Weg dazu zu erschließen. Der Staat, die Gemeinden, die Träger des Bildungswesens sind gehalten, allen Schichten des Volkes den Weg zur Bildung zu ebnen. Wer begabt und leistungswillig ist, der muss die Möglichkeit haben, seine Begabung und seinen Leistungswillen zu bewähren. Das war nicht immer so. Jahrhundertelang, meine lieben Freunde, waren die herrschenden Kreise in Deutschland bestrebt, katholische Christen von dem Erwerb höherer Bildung fernzuhalten. Es gab einen Ausschluss der Katholiken von den Bildungsanstalten. Es wurde ihnen schwer gemacht, ein Gymnasium zu besuchen, an die Universität zu gehen. Misstrauen und Geringschätzung begegnete Jungen und Mädchen, die an sich geeignet und gewillt waren, sich Bildung anzueignen. Und die Lehrer an den Universitäten suchten die Hochschulen katholikenrein zu halten. Katholischen Christen wurde der Erwerb des Doktorgrades und erst recht der Erwerb der Befähigung, akademischer Lehrer zu sein, schwer oder unmöglich gemacht. Katholische Gelehrte wurden von den Lehrstühlen ferngehalten. Jawohl, so war es lange, lange Jahre in Deutschland. Daher kommt das katholische Bildungsdefizit. Die Hindernisse der Vergangenheit sind weitgehend – nicht völlig – entfallen. Es gibt auch heute noch Vorurteile und Abneigung gegen katholische Gelehrte. Das kann ich, der ich jahrzehntelang an der Universität gelehrt habe, bezeugen. Vor allem aber muss man auch sagen: Es gibt eine katholische Genügsamkeit, sich mit bescheidenen Stellungen zu begnügen und sich nicht um Aufstieg in höhere Positionen zu bemühen. Der katholische Mensch ist leichter zufriedenzustellen mit geringen Posten als die Nichtkatholiken. Warum? Weil der katholische Mensch eben stärker auf das jenseitige Leben ausgerichtet ist als die Nichtkatholiken. „Hauptsache, dass ich den Himmel gewinne“, das ist natürlich die Hauptsache, aber es schließt den Erwerb von Bildung nicht aus, sondern ein. Den Himmel gewinnt man eben auch dadurch, dass man sich bildet, weil man damit ein Gebot Gottes erfüllt. Und deswegen haben wir die Aufgabe, junge Menschen zu ermutigen und zu fördern, dass sie nach Erwerb von Wissen und Können streben, dass sie nicht nur mit dem Minimum sich begnügen, sondern dass sie das Maximale aus sich herausholen.

Der Glaube gibt auch den zuverlässigen Maßstab gegenüber Bildungsgut und Bildungsweise und entscheidet über ihren Wert und Unwert. Was ist wahre Bildung? Was ist wertvolles Bildungsgut? Was ist fruchtbare Bildungsarbeit? Die Bildung ist echte Bildung, die der Entfaltung und Reifung der christlichen Persönlichkeit, des Kindes Gottes dient. Das Bildungsgut ist wertvoll, das dieser Entfaltung und Reifung dient. Und die Bildungsarbeit ist fruchtbar, die sich dieser Entfaltung und Reifung anpasst. Die Bildungspflicht, meine lieben Freunde, ist schwer verbindlich, d.h. wer nicht nach Bildung strebt, macht sich schuldig. Es ist für jeden Christen eine ernste religiös-sittliche Pflicht, sich ein solches Maß von Wissen, Können und Bildung anzueignen, dass er den Aufgaben seines Berufs nachkommen, ein nützliches Glied der Volksgemeinschaft werden und damit seine gottgewollte Bestimmung erfüllen kann. Diese Pflicht ist nicht eine einmalige, sie besteht nicht nur vor der Übernahme des Berufes, nein, sie ist eine dauernde. Jeder hat die Pflicht, sein Fachwissen und seine Fachbildung und sein Allgemeinwissen und seine Allgemeinbildung auf der Höhe zu erhalten und an ihrer Vervollkommnung zu arbeiten. Nur so kann jeder den gesteigerten Anforderungen seines Faches genügen und die Arbeitsleistung vollbringen. In manchen Berufen ist die Fortbildung pflichtmäßig, z.B. bei den Ärzten. Die Ärzte, die die Fortbildung versäumen, verpassen den Anschluss an die medizinische Entwicklung.

Jeder Christ hat also die Pflicht, seine Bildung zu vertiefen, aber auch die religiöse Bildung zu erweitern. Wissen und Bildung, welche die Persönlichkeit aufbauen, können ohne entsprechende Pflege des Glaubenswissens und des Glaubenslebens nicht gedacht werden. Es ist eine allgemeine Erscheinung, dass viele über Kenntnisse und Fertigkeiten in der Welt verfügen, um sich zu behaupten und voranzukommen, aber auf dem Gebiet der Religion sind sie zurückgeblieben. Sie wissen fast nichts außer den gängigen Schlagworten; ihr religiöses Wissen ist kümmerlich. Hohe zivilisatorische Bildung mit gleichzeitiger religiös-sittlicher Unbildung ist das Kennzeichen unserer Zeit. Und doch steht schon in der Heiligen Schrift, dass wir gebildet sein sollen. Der Apostel Petrus fordert die Gläubigen auf, „alle Zeit zur Verantwortung bereit zu sein, einem jeden gegenüber, der von euch Rechenschaft über eure Hoffnung fordert“, also religiöses Wissen zu besitzen, um Antwort zu geben. Wir werden unweigerlich in Gespräche mit anderen über alle möglichen Gegenstände verwickelt. Und je gebildeter wir sind, um so eher werden wir Fragen gewachsen sein und Auskunft geben können. Wir sind aufgerufen, an Wahlen, an Abstimmungen teilzunehmen. Wir müssen uns da ein Bild machen von den Personen und Parteien und von den strittigen Gegenständen, wenn wir eine bewusste und vernünftige Entscheidung fällen wollen. Ich erinnere mich an einen Vorgang, der vielleicht 50 oder 60 Jahre zurückliegt. Es war im Beichtstuhl. Im Beichtstuhl legte ein Herr los gegen die katholische Kirche, gegen die katholische Partei „das Zentrum“, in der Weimarer Zeit. „O das Zentrum“, sagte er, „die katholische Partei, hat dem Ermächtigungsgesetz von Hitler zugestimmt.“ Jawohl, das stimmt. Aber ich wusste ihm noch etwas anderes zu sagen: „Ihr Idol, der Bundespräsident Heuss, hat auch dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt.“ Da verstummte er; das hatte er noch nicht gewusst. Wissen ist Macht, meine lieben Freunde, und der Gedanke ist besorgniserregend, dass wir nicht genügend Antwort geben können, dass wir nicht genug raten können, weil wir unserer Bildungspflicht nicht nachgekommen sind.

Es ist manchen Menschen nicht möglich, gediegene Bildung zu erwerben. Sie konnten keine höhere Schule besuchen, der Lebensunterhalt musste beschafft werden, diese Notwendigkeit hinderte sie, sich weitergehende Kenntnisse anzueignen und stärker an den kulturellen Errungenschaften teilzunehmen. Dennoch gibt es unter diesen wenig gebildeten Menschen gediegene, feine und edle Personen. Sie besitzen die so genannte Herzensbildung. Die Herzensbildung, das ist das Gegenüber zur Verstandesbildung. Mit dem Herzen, das gebildet werden soll, ist die Gesinnung, das sittliche Empfinden, der Umgang mit den Menschen gemeint. Herzensbildung ist Zartheit der Empfindung, ist Anteilnahme am Leid des anderen, ist Tugendhaftigkeit. Wer Herzensbildung besitzt, der meidet alles vorlaute, selbstsichere und auftrumpfende Wesen. Er ist beherrscht und überlegt im Reden und Handeln. Es gibt auch ein Zerrbild der Bildung; das ist die Halbbildung. Halbbildung besteht in der Überschätzung des Wissens und der Bildung in Verbindung mit einer nur äußerlichen Aufnahme alles möglichen Wissensstoffes, den man weder völlig verstehen noch verarbeiten kann. Halbbildung findet sich in allen Ständen, auch bei den so genannten Gebildeten. Sie schafft eine Überheblichkeit, die sich nicht nur für klüger und gebildeter hält als andere, sondern auch zu einer großen Gefahr für das sittliche und religiöse Leben werden kann; der Halbgebildete meint nämlich, alles besser zu wissen. Er ist der typische Besserwisser. Er hält sich für berechtigt, an allem zu nörgeln und an allem zu zweifeln. Längst überwundene Denkweisen des 19. Jahrhunderts und Ansichten fristen im Halbgebildeten ein zähes Leben. Sie machen ihn unbelehrbar und hochmütig, sie führen zu Zweifeln und Ablehnung gegenüber den Lehren des christlichen Glaubens und gegenüber den sittlichen Forderungen. „Halbes Wissen wendet von Gott ab. Wahre und eigentliche Wissenschaft führt zu Gott hin “, hat einmal Francis Bacon geschrieben. Streben wir, meine lieben Freunde, danach, gebildete Menschen zu werden, damit wir die Fähigkeiten ausbilden, die Gott uns gegeben hat, damit wir die Kirche zieren mit unserer Persönlichkeit, damit wir den Begegnungen gewachsen sind, die unweigerlich über uns kommen, damit wir an den Kulturaufgaben unseres Volkes mitarbeiten können, damit wir ratlosen und führungslosen Menschen Rat und Führung zuwenden können. Erwerben wir auch Herzensbildung. Wir haben, meine lieben Freunde, ein Vorbild für die Bildung unseres Herzens: „Heiligstes Herz Jesu, sanftmütig und demütig von Herzen, bilde unser Herz nach deinem Herzen.“

Amen.  

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