Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
16. März 2003

Die Spannungen zwischen dem Diesseits und dem Jenseits

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Man hat das Christentum eine Jenseitsreligion genannt. Diese Bezeichnung war von den einen als Lob gedacht, weil das Christentum den Menschen, die in diesem Tränental pilgern, die trostvolle Aussicht auf eine jenseitige Stätte geboten habe. Von anderen aber war die Bezeichnung als Tadel gemeint, weil das Christentum die Menschen von den Aufgaben des Diesseits und der Gegenwart ablenke und sie vertröste auf das Jenseits. Besonders ausgeprägt ist diese Haltung im Marxismus, der eben die Jenseitsgläubigkeit der Christen als „Opium des Volkes“ bezeichnete.

Nun deutet schon diese verschiedene Bewertung des Jenseitsglaubens auf eine Spannung hin, die hier besteht, auf eine Spannung zwischen Diesseits und Jenseits. Man kann fragen: Wird nicht durch die Jenseitshoffnung, wird nicht durch den Jenseitsglauben das Diesseits entwertet? Ist es nicht so, daß man das Diesseits nicht mehr wichtig nehmen muß, wenn es eben ein Jenseits gibt? Der Jenseitsglaube besagt ja, daß unser Leben hier auf Erden nur eine kurze Spanne währt, und die ist noch zudem voll von Arbeit und Plackerei und Mühe, während das Jenseits eine Ewigkeit für uns bereit hält. Ja, ist dann nicht diese jenseitige Welt unendlich überlegen über die diesseitige? Und muß man nicht eigentlich sagen: Was wir hier schaffen und erreichen, das ist mehr oder weniger unwichtig, ob einer hier reich oder arm war, ob er ein König oder ein Bettler war, das ist für das Jenseits gleichgültig. Es besteht die Gefahr, daß eine falsche Sicht des Jenseits die Menschen dazu verführt, das irdische Leben, die irdische Arbeit als sinnlos, zwecklos und unbedeutend anzusehen. Es ist tatsächlich möglich, daß eine falsche Jenseitsvorstellung die Kräfte des irdischen Lebens lähmt, und daß die Menschen, die sich dieser Lähmung ergeben, passiv, weltfremd, lebensuntauglich werden.

So etwas hat es schon einmal gegeben. Wir haben eben die Lesung aus dem ersten Brief an die Thessalonicher gehört. In Thessalonich, also in dem heutigen Saloniki, gab es Christen, die sagten: Der Herr kommt bald, das ewige Leben beginnt, wir machen uns auf Erden keine besondere Mühe mehr. Sie ließen die Arbeit laufen, wie es eben ging, und warteten auf den Anbruch des Tages des Herrn. Da hat sich Paulus energisch gegen sie gewandt und sie mit Vorwürfen überschüttet, daß sie ein unordentliches Leben führen, daß sie wegen der Hoffnung auf das Jenseits die irdische Arbeit vernachlässigen. Das sei nicht recht, das müsse er ihnen verwehren. Und er hat auf sich selber verwiesen. Er hat Tag und Nacht gearbeitet, bei Tage gepredigt und in der Nacht Teppiche hergestellt. So also muß man die Spannung zwischen Diesseits und Jenseits bewältigen. Man muß das Jenseits fest im Blick haben und darf das Diesseits nicht vernachlässigen. Wir dürfen weder einseitige Jenseitsträumige noch irdische, dem weltlichen Sinn hingegebene Diesseitsmenschen werden, sondern wir müssen aus der Kraft des Jenseitsglaubens das Diesseits bewältigen; denn das Jenseits gibt dem Diesseits seinen Wert und seinen Sinn und seine Gestalt. Durch den Jenseitsglauben lernen wir das Diesseits verstehen als eine Verheißung und als eine Erfüllung.

Das Diesseits ist eine Verheißung. Es ist eine Vorbereitung. Die kurze Zeit des Lebens dient dazu, uns reif zu machen und bereit zu machen, in das Jenseits einzugehen. Es fällt also hier die Entscheidung. Und schon das zeigt uns, daß das Jenseits auf das Diesseits so einwirkt, daß das Diesseits nicht entwertet wird, sondern daß es seinen Wert dadurch erhält. Hier müssen wir uns bewähren, hier müssen wir uns vorbereiten, hier entscheidet sich, wie das Jenseits sich für uns gestalten wird. Das Jenseits ist die Liebesgemeinschaft mit Gott. Wir werden ihn sehen, und wir werden ihn lieben. Aber dieses Liebesverhältnis zu Gott muß sich hier anbahnen; es muß hier beginnen. Wir müssen hier schon mit der Gottesliebe anfangen, damit sie drüben vollendet werden kann. Und weil eben nur der die Liebe zu Gott hat, der seinen Willen erfüllt, müssen wir hier schon Gottes Willen erfüllen. Nur wer den Willen des Vaters im Himmel tut, der hat das Recht der Anwartschaft auf das ewige Leben, auf das Jenseits. Wir müssen also in allem hier den Willen Gottes suchen. Das, meine lieben Freunde, ist die entscheidende Aufgabe, die wir hier auf Erden haben: unermüdlich zu fragen: Mein Gott, was willst du, daß ich tun soll? So, wie Paulus vor Damaskus gefragt hat: „Was willst du, daß ich tun soll?“ Gottes Willen suchen, Gottes Willen erforschen, nach Gottes Willen fragen, und dann natürlich, wenn wir ihn erkannt haben, Gottes Willen erfüllen.

Manche Leute meinen, es sei schwer, zu wissen, was recht ist. Ach, es ist gar nicht schwer. Das ist gar nicht schwer, zu wissen, was recht ist. Wir brauchen doch nur zu fragen: Was will Gott? Und da dämmert es uns, und da kommt es uns, wie wir handeln müssen, denn das ist nämlich meistens das, was schwerer ist als das Gegenteil. Wir müssen also hier auf Erden Gottes Willen erfüllen, müssen nach Gottes Willen fragen, müssen die Zeit „auskaufen“, wie der Apostel sagt: „Kaufet die Zeit aus, denn die Tage sind böse!“ Das heißt, wir müssen die Zeit ausnützen wir müssen mit der Zeit etwas anfangen, wir müssen die Zeit gebrauchen, um hier im Diesseits unsere Aufgabe zu erfüllen. Die Heiligen waren die größten Jenseitsgläubigen, aber sie haben bei Tag und Nacht nach Gottes Willen geforscht und ihn erfüllt. Sie waren auch die sorgsamsten Arbeiter im Diesseits, gerade weil sie auf das Jenseits hofften.

Der religiös-sittliche Hochstand eines Menschen hängt auch von seiner naturhaften Begabung ab, hängt auch davon ab, was er mit seiner naturhaften Begabung macht, wie er mit seinem Körper, wie er mit seinem Geist, wie er mit den Kräften des Körpers und des Geistes umgeht. Es ist eben nicht gleichgültig, wie wir unser Leben gestalten, was wir in unserer Arbeit vollbringen, was wir in unserem Beruf leisten, was aus unserer Familie wird, was aus unseren Kindern wird. Das ist nicht gleichgültig; das darf uns nicht teilnahmslos lassen.

Vor vierzehn Tagen, meine lieben Freunde, ging eine Meldung durch die Mainzer Allgemeine Zeitung, die, wer sie gelesen hat, wahrscheinlich alle überrascht hat. In Langenhain bei Hofheim wurde eine Mutter vorgestellt, die siebzehn Kindern – siebzehn Kindern! – das Leben geschenkt hat. Alle siebzehn Kinder haben das Abitur gemacht, und dreizehn von ihnen haben ein Studium absolviert. Sie sagte selbst: „Ich bin oft gefragt worden: Wie haben Sie das gemacht?“ Ja, vermutlich im Vertrauen auf Gott, in der Hingabe an seinen Willen. Diese Frau hat es verstanden, daß es im Leben nicht darauf ankommt: Was bietet mir das Leben? sondern: Was mache ich aus meinem Leben? Das ist das Entscheidende: was wir aus unserem Leben machen, nicht was uns das Leben bietet an Genüssen und Erfüllungen und Freuden. Nein, wir müssen, weil uns das Leben des Diesseits aufgegeben ist als Vorbereitung für das Jenseits, aus unserem Leben etwas machen, etwas Großes, etwas Schönes, etwas Kostbares. Das irdische Leben ist eine Vorbereitung auf das Jenseits.

Aber es ist nicht bloß ein Durchgang, es ist nicht bloß eine Wartezeit. Gott gibt keine Aufträge, die in sich nutzlos und wertlos sind, sondern er will, daß wir auch hier auf Erden aus unserem Leben etwas Großes und Wertvolles und Kostbares machen. Deswegen müssen wir als zweites sagen: Das irdische Leben ist nicht nur eine Verheißung, es ist auch eine Erfüllung. Wir haben hier einen Auftrag, den wir erfüllen müssen. Wir müssen nämlich das Leben, das irdische Leben, zu zweierlei machen: zu einer Offenbarung des Geistes und zu einer Heimstätte der Liebe.

Das irdische Leben wird dann eine Erfüllung sein, wenn wir es zu einer Offenbarung des Geistes machen. Was heißt das? Nun, Gott hat ja seine Welt so geschaffen, daß sie noch nicht fertig ist. Er will uns daran beteiligen, sie fertig zu machen, sie zu gestalten, und deswegen gab er von Anfang an den Auftrag, die Erde zu bebauen und zu bewachen. Das Paradies war kein Schlaraffenland, sondern auch damals wurde gearbeitet, freilich ohne die Erfolglosigkeit und die Nutzlosigkeit, die manchmal unserer Arbeit hier anzuhaften scheint. Also, wir haben die Erde zu bebauen, wir haben die Geheimnisse zu erforschen, wir haben die Abgründe zu beherrschen. Das sind die Aufgaben, die Gott uns für das Diesseits stellt. Wir sollen mit unserem Geiste die Welt durchdringen, und das hat die Menschheit seit Jahrtausenden getan. Was war das eine Entdeckung, meine lieben Freunde, als die Menschen das Rad erfunden haben! Das Rad, mit dem man einen Wagen bauen kann! Eine unglaubliche Entdeckung des menschlichen Geistes. Kein Affe und kein Fisch hat jemals ein Rad erfunden, aber der Mensch hat das Rad erfunden. Und dieser einfachen Erfindung folgten Tausende und Abertausende nach. Der Mensch hat verstanden, sich die Elektrizität nutzbar zu machen; er weiß um die Kräfte, die im Erdinneren schlummern, die herausgeborgen werden als Erdgas oder Erdöl, die dann Maschinen treiben. Wahrhaftig, das ist eine Offenbarung des Geistes – näherhin des Geistes Gottes! Denn er hat ja den menschlichen Geist geschaffen. Er hat ihm die Fähigkeiten eingesenkt, die Erde zu erforschen und zu beherrschen. Wenn also der Mensch diesen Auftrag vollzieht, dann verherrlicht er damit Gott, dann nimmt er teil am Schöpfungswerke Gottes, dann wird er ein Teilhaber des Schöpfers an seinem Werke. Wahrhaftig, Gott ist immer noch am Schaffen, und er tut es durch uns, durch die Kräfte unseres Geistes. Und ein jeder von uns soll auf seinem Platz, in seinem Beruf, in seiner Lebensarbeit daran teilnehmen. Das ist nicht gleichgültig, das ist unsere unerläßliche Aufgabe, die wir um Gottes willen, zu seiner Verherrlichung erfüllen sollen. Dieser Hymnus auf Gott, den wir mit unserer Arbeit singen, ist wertvoll und groß. Niemand denke geringschätzig von der irdischen Lebensarbeit, wo immer er sie auch vollziehen mag.

Wir erfüllen also unsere Diesseitsaufgabe, indem wir mit unserem Geiste arbeiten und durch den Geist die Arbeit unserer Hände lenken. Wir erfüllen aber auch unsere Diesseitsaufgabe, indem wir der Liebe eine Heimstätte bereiten, der Liebe zu Gott und der Liebe zu den Menschen. Gott ist die Liebe, und Christus ist erschienen, um uns die Liebe zu lehren. Wir sollen diese Liebe uns angelegen sein lassen. Wir sollen als Kinder Gottes zusammenleben. Das Schönste, was über die Menschen und ihr Zusammenleben im Neuen Testament steht, das heißt: „Sie waren ein Herz und eine Seele.“ O, wenn das doch aus unseren Familien, aus unserer Nachbarschaft, aus unserer Bekanntschaft, aus unserem Volke werden könnte: ein Herz und eine Seele! Ein Herz und eine Seele. O, wenn das doch werden könnte! Dann würde wahrhaftig die Erde ein Paradies, ein Paradies, ein Himmel auf Erden, eine wahre Heimstätte der Liebe. Dann könnten wir dankbar und froh dieses Leben ertragen, wenn die Liebe in uns aufblühen würde, wenn einer und der andere sich gegenseitig die Liebe schenken. Dann würde es hell werden, so dunkel es auch in unserem Leben aussehen mag, die Liebe macht es hell. Es würde hell werden an manchem dunklen Punkt, an den Abgründen der Erde, im Elend des Lebens. Es würde hell werden. Und wenn wir durch die Liebe dahin kämen, daß wir alle dankbar und froh dieses Leben tragen, dann wäre wahrhaftig der Auftrag, den wir für unser Diesseits haben, erfüllt; dann haben wir aus dem Diesseits etwas gemacht.

Die beiden Aufgaben, den Geist zu offenbaren und die Liebe zu offenbaren, ergänzen sich gegenseitig. Es muß Menschen geben, die vor allem das erste auf sich nehmen, nämlich forschen, suchen und auf diese Weise in die Geheimnisse der Erde eindringen. Das sind die großen Stürmer und Dränger, die die Zeitgenossen vielleicht beunruhigen, die aber als die Giganten des Geistes in die Geschichte eingehen. Solche Menschen muß es geben. Aber noch größer als sie sind diejenigen, die der Liebe eine Heimstätte bereiten. Sie sind die Gottesengel, die Gott auf die Erde herabrufen. Sie sind nicht nur eine Brücke zwischen Diesseits und Jenseits, sondern sie sind es, die das Jenseits in das Diesseits hineinziehen. Sie leben im Tränental, als ob sie schon im Himmel wären, weil sie in der Liebe Gottes fest gegründet sind. Sie tragen den Himmel in sich, weil sie Gott in sich tragen. In diesen Menschen der Liebe, der heroischen Liebe, der selbstvergessenen Liebe, in diesen Menschen ist die Spannung zwischen Diesseits und Jenseits erfüllt. In diesen Menschen ist sie deswegen erfüllt, weil sie den Himmel auf die Erde herabziehen, weil sie Gott gleichsam von neuem Mensch werden lassen in ihrer Liebe. Siehe da, das Zelt Gottes steht schon mitten unter uns.

Amen.

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