Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
4. Januar 1998

Die Pflicht zur Selbstliebe

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Als Christen sind wir gelehrt, daß wir Gott und den Nächsten lieben sollen. „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen, aus deiner ganzen Seele, aus deinem ganzen Gemüte und mit allen deinen Kräften! Dies ist das erste und größte Gebot. Ein zweites aber ist diesem gleich:  Du sollst den Nächsten lieben wie dich selbst!“ Wir sollen Gott lieben und den Nächsten, aber dürfen wir auch uns selbst lieben? Gibt es auch ein Gebot der Selbstliebe? Oder ist es so, wie Luther und Calvin sagen, daß die Selbstliebe vitiosus amor ist, eine lasterhafte Liebe? Die Kirche, in der Wahrheit gebunden, hat immer daran festgehalten, daß der Mensch auch zur Selbstliebe verpflichtet ist. Die Selbstliebe hat einmal eine natürliche Wurzel. Es ist ein Drang im Menschen, es ist eine Naturgegebenheit im Menschen, daß er sich selbst liebt. Er muß sich aus einem von ihm nicht geschaffenen Trieb heraus selbst erhalten und selbst betätigen, er muß für sich selbst sorgen und um sein Wohl bekümmert sein. Die Kirche hat in diesem Naturtrieb immer die Stimme Gottes vernommen. Was Gott in den Menschen hineingelegt hat, das ist ein Naturgesetz, dem der Mensch zu gehorchen hat. Es gibt eine natürliche, berechtigte Selbstliebe.

Aber ist die Selbstliebe auch eine übernatürliche Tugend? Hat die Selbstliebe auch etwas mit der gnadenhaften Erhebung des Menschen zu tun? O ja. Die Selbstliebe ist auch von der übernatürlichen Liebe zu Gott und zum Nächsten umfaßt. Denn wer Gott liebt, liebt ja alles, was zu ihm gehört. Auch ich gehöre zu ihm, also darf und muß ich mich lieben. Ich muß mich lieben wegen Gottes und in Gott. Die übernatürliche Liebe zu Gott und zum Nächsten umfaßt die Selbstliebe, die geordnete, wie wir gleich sehen werden, und die maßvolle Selbstliebe. Es gibt eine natürliche und eine übernatürliche, berechtigte Selbstliebe. Der Gegenstand der natürlichen Selbstliebe ist die natürliche Gottebenbildlichkeit, also unser ganzes Wesen, vor allem unser Geist mit Verstand und Willen; der Gegenstand der übernatürlichen Selbstliebe ist unsere gnadenhafte Erhebung, unser Leben in der heiligmachenden Gnade.

Die Verpflichtung zur Selbstliebe ergibt sich aus dem Wesen des Menschen, aus dem Gebote Gottes und aus der Bedeutung der Selbstliebe. Die Verpflichtung zur Selbstliebe ergibt sich aus dem Wesen des Menschen. Er kann ohne Selbstliebe nicht bestehen. Sein Wesen verlangt nach der Selbstliebe. Er muß sich selbst lieben, wenn er seiner Aufgabe auf Erden gerecht werden will. Der Naturtrieb gehört zum Wesen des Menschen, und so fordert das Wesen des Menschen die geordnete Selbstliebe. Aber auch ein Gebot Gottes existiert, zwar kein unmittelbares, aber ein mittelbares; denn wenn wir gelehrt werden, den Nächsten zu lieben wie uns selbst, dann ist damit indirekt und virtuell auch die Selbstliebe geboten. Man muß aus der Selbstliebe das Maß für die Nächstenliebe entnehmen. Aber das kann man natürlich nur, wenn es eine berechtigte und geordnete Selbstliebe gibt. Auch an anderen Stellen der Heiligen Schrift wird die Selbstliebe wie selbstverständlich vorausgesetzt. Ich erinnere etwa an den Epheserbrief, wo Paulus schreibt: „So sollen die Männer ihre Frauen lieben wie ihren eigenen Leib. Wer seine Frau liebt, liebt sich selbst, denn niemand hat je sein eigenes Fleisch gehaßt, sondern er hegt und pflegt es, so wie Christus die Kirche.“ Die Selbstliebe ist also auch durch die Offenbarung zur Pflicht gemacht.

Sie ist aber auch deswegen notwendig, weil sie eine hohe Bedeutung hat. Die Selbstliebe ist nämlich der Ausgangspunkt für die Nächstenliebe. „Wie kann der einen anderen lieben“, fragt Clemens von Rom, „der sich selbst nicht liebt?“ Und Augustinus fordert: „Lerne zuerst dich selbst lieben, dann Gott und schließlich den Nächsten!“ Die Selbstliebe ist der Ausgangspunkt der Liebe zum anderen. Wer sich selbst schätzt, wer sich selbst wohlwill, wer sich selbst wohltut – und das ist der Inhalt der Selbstliebe –, der schätzt auch den Nächsten, der will auch dem anderen wohl, der tut auch dem anderen wohl. Die Selbstliebe ist aber auch die Grundlage für die Erfüllung unserer Pflichten. Denn wir erkennen, daß alle Pflichten, die wir haben, von der Selbstliebe gedeckt sind; denn sie dienen dazu, das Ziel, das uns gesetzt ist, zu erreichen. Wenn wir uns selbst lieben, müssen wir die Pflichten, die uns gestellt sind, erfüllen. Die Selbstliebe ist die Grundlage für die Erfüllung unserer Pflichten. Wer sich selbst nicht schätzt, wer sich selbst nicht liebt, dem werden seine Pflichten gleichgültig sein.

Es gibt eine Ordnung der Selbstliebe und ein Maß der Selbstliebe. Die Ordnung der Selbstliebe richtet sich nach der Stufenleiter der Güter. Für den Christen ist klar: Das oberste Ziel der Selbstliebe, das wertvollste Gut ist das Seelenheil. „Gott verloren – alles verloren!“ „Ohne Gott alles Spott.“ „Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, aber Schaden leidet an seiner Seele?“ Also zuoberst steht das Seelenheil, und das ist der Vorteil des katholischen Menschen. Es ist freilich auch sein Handikap. Denn wer das Seelenheil an die oberste Stelle setzt, der kann den irdischen Schätzen nicht soviel Gewicht beimessen wie diesem Wert. Und so sind manchmal die Kinder dieser Welt klüger und kommen weiter in diesem Leben als die Kinder des Lichtes. Ich sehe das mit Schmerzen, denn ich bin ein stark konfessionell bestimmter Katholik. Ich sehe das mit Schmerzen, aber es läßt sich schwer ändern.

Das oberste Ziel ist das Seelenheil des Menschen. Dann kommen die anderen Werte, das Leben, die Gesundheit, die Freiheit, die Ehre und erst zum Schluß die materiellen Güter. Diese Stufenfolge gilt es zu beachten: Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre, materielle Güter. Also nicht die materiellen Güter über die Ehre, über die Freiheit setzen oder gar über die Gesundheit, sondern in dieser Stufenfolge die Werte zu verwirklichen suchen. Die Ordnung der Selbstliebe finden wir, wenn wir Gott über alles und den Nächsten wie uns selbst lieben. Gott über alles lieben heißt, ihm nichts vorziehen, ihm nichts an irdischen Werten vorziehen. Den Nächsten lieben wie sich selbst heißt, das Maß von sich selbst nehmen, sofern wir die richtige Selbstliebe haben. Sie ist ausgedrückt in der goldenen Regel: „Alles, was ihr wollt, daß euch die Menschen tun, das sollt ihr ihnen tun!“ Vorausgesetzt, daß man keine unberechtigten Erwartungen hat, hilft die goldene Regel tatsächlich, das Maß der Nächstenliebe zu bestimmen. Alles, was ihr wollt, daß euch die Menschen tun, das sollt ihr ihnen tun!

Es gibt freilich Gegensätze zur Selbstliebe, an erster Stelle den Selbsthaß. Ja, ist denn das überhaupt möglich, daß jemand sich selbst haßt? Im eigentlichen Sinne nicht; denn selbst der Selbstmörder sucht noch einen Wert zu erringen, wenn er sich umbringt. Er will eben einem vermeintlich schlimmeren Übel entgehen und meint, der Tod, den er sich selbst zufügt, sei ein geringeres Übel, also ein gewisses Gut im Vergleich zu dem größeren Übel. Aber es ist durchaus möglich, daß ein Mensch sich selbst Schaden zufügt, indem er sittlich Minderwertiges anstrebt oder indem er das Niedere dem Höheren vorzieht. „Die Sünde tun, sind Feinde ihrer Seele.“ Das ist ein ganz wichtiges Anliegen unserer Pädagogik, meine lieben Freunde, daß wir begreifen: Der Sünder schadet niemandem mehr als sich selbst. Den größten Schaden fügt er sich selbst zu, und dann erst anderen. Wer Sünde tut, ist ein Feind seiner Seele. Und so sind Gegensätze gegen die Selbstliebe denkbar: Selbstverwünschung, Selbstmord. Gegensätze sind auch das unvernünftige Sichbegeben in Gefahren. Jede Sünde, muß man sagen, ist ein Gegensatz gegen die recht verstandene Selbstliebe.

Ein zweiter Gegensatz gegen die Selbstliebe ist die Trägheit. Denn der Träge scheut die Mühe und die Arbeit, die mit dem Begehen des steilen Weges verbunden ist. Dadurch kommt er nicht zu der berechtigten Vollkommenheit, die Gott an ihm sehen will. „Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist!“ Wir sollen unsere Kräfte ausbilden, wir sollen sie benutzen, wir sollen die Talente nicht brachliegen lassen, wir sollen rastlos tätig sein. Aber der Träge ist bequem und sucht es sich bequem zu machen. Er scheut die Anstrengung und die Mühe und verfehlt sich darum gegen die geordnete Selbstliebe.

Schließlich ist auch noch ein Vergehen gegen die Selbstliebe, wenn man zu wenig oder zu viel tut, zu wenig oder zu viel in der Sorge um das leibliche oder seelische Leben. „Zu viel und zu wing ist ein Ding“, sagt der Volksmund, und das ist richtig. Wir müssen also das rechte Maß einhalten bei der Sorge für die körperlichen, materiellen Dinge, aber auch bei der Sorge für die geistige Vervollkommnung. Immer im rechten Maß bleiben, das ist das Gebot der Selbstliebe.

Der Heiland hat im Evangelium einmal einen Mann geschildert, der reich geworden war und der deswegen sprach: Was soll ich tun? Ich habe keinen Platz mehr, meine Früchte unterzubringen. Da sagte er sich: So werde ich es machen: Ich will meine Scheuern abbrechen und größere bauen. Dort werde ich alle meine Erzeugnisse und meine Güter unterbringen. Dann werde ich zu meiner Seele sagen: Meine Seele, du hast viele Güter auf manches Jahr bereit liegen. Ruhe dich aus, iß und trink und laß dir’s wohl sein. Gott aber sprach zu ihm: „Du Tor! Heute nacht noch wird man deine Seele von dir fordern, und wem wird das gehören, was du aufgespeichert hast?“ Das war eine verkehrte Sorge für die materiellen Dinge, die uns hier vorgeführt wird.

Schließlich ergeben sich aus der Selbstliebe Pflichten, Pflichten für unser leibliches und unser geistiges Leben. Wir sollen unsere von Gott gegebenen Gaben entwickeln und mit ihnen arbeiten. Jede Erfüllung einer Pflicht ist eigentlich von der Selbstliebe diktiert. Die Selbstliebe fordert, daß wir unsere Pflichten genau, pünktlich, nicht schludrig oder nachlässig erledigen. Jede Pflichtlosigkeit steht gegen die Selbstliebe. Wir sollen uns lieben, weil wir nach dem Ebenbild Gottes erschaffen sind, weil unsere Natur noch wunderbarer erneuert ist durch die Gnade. Wir sollen uns lieben, weil wir um teuren Preis erkauft sind, nicht mit vergänglichem Gold und Silber, sondern mit dem Blute des kostbaren Lammes. Wir sollen uns lieben, weil wir zur ewigen Seligkeit bestimmt sind. „Erkenne, o Christ, deine Würde!“ ruft Papst Leo der Große aus. „Du bist göttlicher Natur teilhaftig geworden und ein Glied am Leibe Christi. Erinnere dich, daß du den Mächten der Finsternis entrissen und bestimmt bist für die Glorie des ewigen Reiches!“

Amen.

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