Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
21. Mai 1989

Das Ziel des Menschen

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Der Mensch hat ein Ziel, und dieses Ziel heißt Gott. Alle Menschen, die darüber nachgedacht haben, welches der Sinn und der Zweck des menschlichen Lebens sei, haben sich bemüht, ein Ziel anzugeben, denn ohne Ziel läuft man ziellos, ohne Richtung geht man richtungslos, und ohne Zweck ist das Leben zwecklos. Bei der Angabe des Zieles gehen die Menschen freilich weit auseinander. Im 1. Jahrhundert v.Chr. lebte ein lateinischer Schriftsteller namens Terentius Varro, ein Schriftsteller, von dem uns verhältnismäßig viele Schriften überliefert sind. In einem seiner Bücher stellte er die Meinungen zusammen, welche die Menschen über das letzte Zielgut haben – zweihundertachtundachtzig. 288 verschiedene Meinungen über Sinn, Zweck und Ziel des menschlichen Lebens.

Ich glaube, so viele sind es heute nicht mehr. Wenn man mit den Menschen über Sinn und Zweck ihres Lebens spricht, hört man beim Gros der Menschen im wesentlichen zwei Meinungen. Die einen sagen: Ich will es mir auf der Erde, so lange es geht, so schön wie möglich machen. Ich will das Leben genießen, ich will etwas vom Leben haben. Es ist die große Masse der Menschen, die so spricht. Ein kleinerer Teil sagt: Ich will etwas leisten. Ich will in meinem Leben etwas vollbringen, etwas, was Dauer besitzt. Es soll sich eine Spur von meinem Leben erhalten. Man könnte diese Gesinnung mit den Worten von Friedrich Nietzsche wiedergeben: „Trachte ich denn nach meinem Glücke? Ich trachte nach meinem Werke.“

Daß Arbeit und Genuß nicht genügen, um das Leben des Menschen zu erfüllen, ist schon oft erkannt worden aus Äußerungen von Menschen, die nun alles geschaffen und alles genossen haben in diesem Leben. Vor einigen Jahren starb ein junger Engländer auf merkwürdige Weise. Es war ein Sohn aus gutem Hause, verwöhnt, reich. Alle Lebensgenüsse lagen hinter ihm. Er begab sich in die Schweiz und nahm sich einen Bergführer und stieg mit ihm auf einen hohen Gipfel. Dort genoß er den Sonnenaufgang, dann nahm er eine gute Mahlzeit ein, riß ein Blatt aus seinem Notizbuch, gab es dem Bergführer und stürzte sich vor dem Angesicht des Bergführers in den Abgrund. Auf dem Zettel stand geschrieben: „Je m' ennuyais“ – „Ich langweilte mich.“

Unser Glaube gibt uns auf die Frage, welches das Ziel des Menschen ist, in erhabener Weise Antwort. Im alten, niemals veralteten Katechismus lautete die erste Frage: „Wozu ist der Mensch auf Erden?“ Die Antwort in kristallener Klarheit: „Der Mensch ist auf Erden, um Gottes Willen zu tun und dadurch in den Himmel zu kommen.“ Jawohl, das ist es! Das ist die Antwort auf die Fragen: Wozu das Rennen, Laufen und Jagen? Wozu das Arbeiten und Mühen? Wozu das Tragen und Dulden auf dieser Erde? Wir sind auf Erden, um Gottes Willen zu tun und dadurch in den Himmel zu kommen.

Wir sind dazu da, um Gottes Willen zu tun, denn dieser Wille ist unser Heil. Die Erde ist so gebaut, meine lieben Freunde, daß sie nur dann einen heilvollen Verlauf nimmt, wenn der Mensch Gottes Willen tut. Gottes Wille drückt sich aus in den Gesetzen der Natur und der Moral. In den Gesetzen der Natur: Wenn man eine Last bewegen will, erinnert man sich an das Gesetz der Mechanik: Last mal Lastarm gleich Kraft mal Kraftarm. Oder wenn man es mit der Elektrizität zu tun hat, muß man das Ohmsche Gesetz beachten: Stromstärke gleich Spannung durch Widerstand. Wer die Naturgesetze mißachtet, gegen den schlagen sie zurück. In den Schäden, die angerichtet werden, wo die Naturgesetze nicht berücksichtigt werden, deutet sich die Ordnung Gottes, die Macht der Ordnung Gottes an.

In Afrika rückt die Wüste jedes Jahr zehn Kilometer nach Süden. Unrettbar verloren der breite Gürtel, wo kein Baum und kein Strauch mehr steht, sondern nur Sand, Hitze, Trockenheit. Schuld ist der Mensch, der das Land überweidet, der die Wasservorräte überbeansprucht, der die Vegetation zerstört. Die Natur begehrt gegen den auf, der sie stört und zerstört.

So ist es aber auch im Bereich der Moral. Der Mensch ist ein verantwortliches Wesen, und seine Verantwortung drückt sich aus in der Rechenschaftspflicht gegenüber der moralischen Instanz, die wir Gott nennen. Die Moralgesetze sind die Wegweiser, die Gott an den Lebensweg der Menschen gestellt hat. Die Gebote Gottes sind unsere Gesetze. Sie sind uns von Gott gegeben, um uns heil heimzugeleiten in den Zustand des Himmels. Gottes Gebote sind anspruchsvoll, fordern viel vom Menschen. Manche Männer der Kirche meinen, sie müßten barmherziger sein als Gott. Ich kann nur immer staunen, wenn katholische Theologen beispielsweise die Gesetze Gottes über der Ehe umbiegen wollen, als ob Gott hartherzig wäre und Gesetze gegeben hätte, die sie erweichen müßten. Wie kann man einer solchen Hybris, einer solchen Verkehrung, einer solchen Arroganz verfallen! Die Gesetze Gottes über der Ehe sind ja seine Barmherzigkeit. Daß er die Ordnung der Geschlechtlichkeit festgelegt hat, das ist sein barmherziger Wille. Daß er die liebende Einigung der Gatten mit der Fruchtbarkeit verbunden hat, so daß der Mensch diese beiden Zweck- und Sinninhalte nicht willkürlich trennen darf, das ist sein barmherziger Wille. Daß er die Ehe unauflöslich geschaffen hat, das ist sein barmherziger Wille.

Auch im Moralbereich schlägt die Natur gegen den zurück, der diese Gesetze verletzt. Natürlich ist das nicht so offensichtlich wie im Bereich der Mechanik oder auch der Vegetation. Aber unweigerlich macht sich die Mißachtung der Moralgesetze Gottes geltend im Herzen des Menschen. Das Herz des Menschen wird verfinstert, es breitet sich eine harte Kruste über seine Seele. Der Mensch wird blind für bestimmte Werte, und allmählich verfinstert sich und verdunkelt sich sein ganzes Herz. „Wir sind auf Erden, um Gottes Willen zu tun und dadurch in den Himmel zu kommen.“ Gott hat uns ein Ziel gesetzt, das über der Erde hinaus liegt. Der Mensch ist auf Transzendenz, auf Sich-selbst-Überschreiten, angelegt. Er findet in sich und in der Erde nicht sein Genügen, nicht seine Erfüllung. Das sind Einfälle primitiver Menschen, die meinen, im Genuß und im Vergnügen könnten sie ihre Erfüllung finden. Das sind Menschen, die kurzsichtig sind und und nicht weiter denken. Wer dagegen weiter sieht, der begreift, daß der Erfüllungszweck des Menschen über dieser Erde hinaus liegt. Und das kommt daher, daß wir Gott entstammen und daß wir auf Gott hin angelegt sind. Gott ist unser Schöpfer und unser Beseliger.

Der heilige Augustinus drückt das aus in dem ergreifenden Wort: „Du hast uns, o Herr für dich geschaffen, und unruhig ist unser Herz, bis es ruhet in dir!“ Wir sind von Gott geschaffen; natürlich unser Leib durch Zwischenursachen. Wir verdanken unser Leben unseren Eltern, diese wieder ihren Eltern. Aber wenn man die Reihe der Zwischenursachen durchschreitet, kommt man an die letzte Ursache, an den unbewegten Beweger, wie die Griechen ihn nannten, kommt man an Gott, der die Welt aus nichts geschaffen hat, und der die Welt so geschaffen hat, daß sie an seiner schöpferischen Tätigkeit, etwa in der Weise der Eltern, teilnehmen kann. Wir sind Gott entstammt, wir sind aber auch auf Gott hingerichtet. Der Mensch tendiert auf die Ewigkeit. Deswegen hat ihm Gott einen Ewigkeitskeim eingesetzt, den nennen wir Seele, Geistseele. Es ist falsch, wenn Friedrich Nietzsche sagt: „Leib und Leib bin ich ganz und gar, und die Seele ist etwas an meinem Leibe.“ Nein, so ist es nicht. Die Seele ist zwar auf Erden mit dem Leibe verbunden, aber sie ist fähig, allein, auch ohne Leib, zu existieren. Die Seele ist selbständiger Existenz mächtig.

Das zeigen uns die Offenbarung und die Vernunft. Die Offenbarung: Der Herr hat oft davon gesprochen, man solle sich nicht vor denen fürchten, die nur den Leib töten können. „Fürchtet euch nicht vor denen, die nur den Leib töten können, sonst aber weiter euch nichts anhaben können!“ Ja, was ist denn sonst noch zu fürchten? „Fürchtet vielmehr den, der Leib und Seele in der Hölle verderben kann! Ja, sage ich euch, den sollt ihr fürchten!“

Im Gleichnis vom reichen Prasser und vom armen Lazarus hat er das Weiterleben der Seele geschildert. Wenn beide sterben, sinken sie nicht in den Abgrund des Nichts, sondern werden je nach ihren irdischen Taten verschieden behandelt, der eine wird in der Hölle begraben, der andere im Schoße Abrahams – ein klarer Hinweis darauf, daß mit dem Tode eben nicht alles aus ist. Und als Paulus im Gefängnis saß in Rom, schrieb er an die Gemeinde in Philippi einen Brief. In diesem Brief stehen die Worte: „Ich wünsche, aufgelöst zu werden und mit Christus zu sein.“ Was heißt das denn anderes als: Paulus hat Sehnsucht nach dem Tode, aber nicht nach der Vernichtung, denn wenn der Tod kommt, dann will er ja bei Christus sein. „Ich wünsche, aufgelöst zu werden“ – also dem körperlichen Befunde nach, auf Erden die Zeltwohnung abzubrechen – „und mit Christus zu sein.“

Die weisen Menschen dieser Erde haben immer gewußt, daß mit dem Tode nicht alles aus ist. Wir feiern jetzt das 200-jährige Jubiläum der Französischen Revolution. In dieser Zeit traten auch Kräfte auf, die gegen Gott, Religion, Kirche, Christentum aufbegehrten. Der Bürgermeister von Paris ließ an einem Friedhof die Inschrift schreiben: Der Tod ist ein ewiger Schlaf. Aber da trat der Unbestechliche, wie man ihn nannte, Maximilian Robespierre, im Konvent auf und hielt eine berühmte Rede. In dieser Rede sagte er: „Nein, der Tod ist kein ewiger Schlaf. Der Tod ist der Beginn der Unsterblichkeit.“ Dann ließ er ein Gesetz ausarbeiten und vom Konvent annehmen. In diesem Gesetz waren zwei Paragraphen, die lauteten: „Das französische Volk erkennt die Existenz Gottes an. Das französische Volk erkennt die Unsterblichkeit der Seele an.“

Wir haben in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte in der Erkenntnis der Seele gemacht, so daß es wenige überragende Gelehrte gibt, die an einer solchen Existenz zweifeln. Um ein Beispiel zu erwähnen: Der Hirnforscher und Nobelpreisträger John Carew Eccles in Göttingen, ein Australier, hat vor kurzem seine feste Überzeugung kundgetan, daß der Mensch, die menschliche Seele, von Gott geschaffen ist, und daß sie nach dem Zerfall des Körpers und des Gehirns eine eigene Existenz gewinnt. Wir sind dazu auf Erden, um Gott zu dienen und dadurch in den Himmel zu kommen.

Das ist unser Ziel, meine lieben Freunde. Das ist das höchste, das ist das letzte, das ist das entscheidende Ziel. Vor einigen Jahren war einmal ein Professor in Italien. Er kam mit einem Taxifahrer in nähere Beziehung. Als er sich von ihm verabschiedete, fragte er den Mann, was ihm eigentlich das Höchste auf Erden sei. Da besann sich der Taxifahrer eine Weile; dann sagte er, um die Augen feucht: „Morire in pace con dio“ – „Sterben im Frieden mit Gott.“ Wahrhaftig, dieser einfache Mann hatte begriffen, welches das Ziel des Menschen ist. Wir sind auf Erden, um Gott zu dienen, ihn zu lieben, seine Gebote zu halten, und dadurch in den Himmel zu kommen. Morire in pace con dio.

Amen.

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