Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
30. Januar 1994

Der Kreuzestod Jesu aus der Sicht Gottes

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wir haben uns vorgenommen, Jesus Christus zu erkennen. Denn in der christlichen Religion hängt alles an Jesus Christus. Wer die rechte Vorstellung von unserem Herrn und Heiland hat, dem fällt es nicht mehr schwer, die Geheimnisse unserer Religion zu glauben. Wer aber nicht überzeugt ist von der Wirklichkeit, der gottmenschlichen Wirklichkeit unseres Herrn, dem lassen sich auch die anderen Heilsgeheimnisse nicht verdeutlichen.

Jesus Christus hatten wir vorgestellt als den Mittler. Er steht in der Mitte zwischen Gott und den Menschen; nicht als ein Hindernis, sondern als eine Brücke. Sein Mittlertum hat er als Priester bewährt. Christus ist der Priester, der einzige Priester des Neuen Bundes. Sein Priestertum hat er das ganze Leben über ausgewirkt, aber es gipfelte im Kreuzestod. Der Kreuzestod muß deswegen heute noch einmal der Gegenstand unserer Überlegungen sein; denn er ist das Lebensopfer unseres Hohenpriesters Jesus Christus. Wir können den Kreuzestod von Gott her, dem Vater, und von Christus her, dem Sohn, betrachten. Das wollen wir tun. Wir wollen ihn zuerst vom himmlischen Vater aus ansehen und dann vom himmlischen Sohne aus.

Gott hat die Menschheit von der Sünde erretten wollen. Er hat deswegen zugelassen, daß der Fluch der Sünde sich auswirkte an seinem Sohne. Die ganze Abgründigkeit der Sünde hat sich gezeigt im Sterben Christi. Wenn man wissen will, was die Sünde ist, muß man auf den gekreuzigten Jesus schauen. Da enthüllt sich ihre Bosheit, der furchtbare Gegensatz, ja der absolute Widerspruch zwischen dem heiligen Gott und dem sündigen Menschen. Wenn die Heiligkeit Gottes über den sündigen Menschen kommt, dann kann er nicht leben, dann muß er sterben. Das ist die Botschaft des geopferten Jesus Christus, das ist die Botschaft seines Kreuzes. Am Kreuze hat Gott die Sünde bloßgestellt. Alle Leiden vor Christus waren auch schon Gerichte über die Sünde, aber in der Zeit vor Christus hat Gott gleichsam an sich gehalten, er hat die Sünden nicht mit der vollen Mächtigkeit seiner Heiligkeit an den Menschen gestraft. Die Strafgerichte vor Christus hatten vorläuferische Bedeutung. Erst in Christus ist die Heiligkeit Gottes mit ebenbürtiger Mächtigkeit über die Sünde gekommen. An dem unschuldigen Jesus, der die Sünden an seinem Leibe auf das Kreuz trug, hat Gott seine Heiligkeit vor aller Welt enthüllt. Er hat sie im Kosmos, gegenwärtiggesetzt, und in der Gegenwärtigsetzung seiner Heiligkeit hat er seine Herrschaft aufgerichtet. Der gekreuzigte Christus ist der Vollmachtsträger des Vaters im Himmel zur Aufrichtung der Gottesherrschaft. Das Kreuz Christi ist der Sieg Gottes über die Sünde, ist die Aufrichtung der Königsherrschaft Gottes. Die Heiligkeit Gottes wurde im Strafgericht am Kreuze den Menschen vor Augen geführt; aber es war auch ein Gericht der Liebe, und es war auch ein Gericht der Gnade.

Es war ein Gericht der Liebe aus zwei Gründen. Einmal, weil dieses furchtbare Strafgericht nur an einem vollzogen wurde, am eingeborenen Sohne Gottes; und zum anderen, weil dieses Strafgericht der Durchgang war zur Auferstehung, zur Verklärung, zur Erhöhung für Christus und zur Teilnahme der Menschen an seiner unvergänglichen Existenzweise. Der Zusammenbruch am Kreuze war gleichzeitig der Aufgang in die Herrlichkeit Gottes. Und die Menschen, die sich zu Jesus im Glauben und im Sakrament bekennen, dürfen Anteil gewinnen an seiner Herrlichkeit. Die Auferstehung war die Antwort auf den Gehorsam des Sohnes am Kreuze. Durch das Kreuz hat Gott den Menschen Gnade erwiesen, so daß sie aus den Wunden Jesu das Heil schöpfen können.

Der Mensch hatte sich durch seine Sünde gleichsam selbst zum Tode verurteilt. Das wissen wir schon aus dem Alten Bunde, daß der Mensch der Zerstörer seiner eigenen herrlichen Existenzform geworden ist. Aber die letzte Aufgipfelung dieses Todesurteils erleben wir erst im Kreuze Christi. Da enthüllt Gott den Menschen, was sie sind, nämlich Empörer gegen Gott, Vernichter ihrer Freude und ihres Glückes. Im Kreuze Christi gibt Gott gleichsam die authentische Interpretation dafür, wer der Mensch ist, ein Abtrünniger und deswegen ein Todgeweihter.

Die Schrecken dieser Wahrheit werden vermehrt durch die weitere Tatsache, daß es Menschen waren, sündige Menschen, die den Tod Jesu bewirkt haben. Der menschgewordene Gottessohn wurde von Menschen ans Kreuz gebracht, und das hat eine tiefe Bedeutung. Man sieht daraus, wie abgründig die Sünde ist, nämlich so, daß der Mensch darauf aus ist, Gott zu morden. Was er grundsätzlich in jeder Sünde will, nämlich den Wisser seiner bösen Taten umbringen, das zeigt sich am Kreuze Christi. Da sieht man, was der Mensch eigentlich in seiner Sünde beabsichtigt: Er will den, der sein Herr ist und dem er sich nicht unterwerfen mag, umbringen! Der Tod Christi enthüllt den Menschen in seiner ganzen Schlechtigkeit und Verworfenheit, in seinem Haß gegen Gott, der sich in der Sünde kundtut.

Die Bloßstellung des Menschen in dem Kreuzestode Christi hat aber gleichzeitig auch die Wende gebracht, und zwar in ontologischer und in psychologischer Hinsicht. In ontologischer Hinsicht ist die Wende daran zu erkennen, daß jetzt die Heiligkeit Gottes in der Welt sichtbar und wirksam ist. Wer sich an Christus anschließt, der kann an dieser Heiligkeit Anteil gewinnen, der kann aber auch an der Lebendigkeit, die in dem auferstandenen Christus ist, Anteil gewinnen. Und psychologisch ist die Wende dadurch erzielt worden, daß der Mensch jetzt an dem Grauen des Todes Christi, an der Furchtbarkeit dieses Sterbens die Schrecken der Sünde, die Tragweite der Sünde erkennen kann. Der Tod Christi, der Opfertod Christi ist eine ständige Mahnung an den Menschen, eingedenk zu sein seiner Verantwortung, eingedenk zu sein der Tat, die Christus um Gottes willen und die Gott um unseretwillen gewirkt hat. Das ist also die Sicht des Opfertodes Christi von Gott her. In dem Opfertod Christi hat Gott seine Heiligkeit unübersehbar und anschaulich dargestellt. Er hat die Abgründigkeit der Sünde enthüllt, er hat den Menschen als einen Todgeweihten, als einen, der sich selbst dem Tode überantwortet hat, bloßgestellt.

Die andere Sicht ist von Christus her. Christus hat sich der Weisung des Vaters unterworfen. Er hat die Verfügung des Vaters in sich hineingenommen und ist gehorsam geworden bis zum Tode am Kreuze. Er hat sich binden lassen vom Vater. Als er am Kreuze angenagelt wurde und jede Bewegungsmöglichkeit verlor, da hat er den Vater Herr sein lassen, da hat er sich in vorbehaltlosem Gehorsam dem Vater unterworfen, und durch diesen vorbehaltlosen Gehorsam hat er die überspitzte Autonomie der Menschen wettgemacht. Als er am Kreuze bewegungslos war durch die Nägel, die in seine Hände und Füße gedrungen waren, da hat er den Vater im Himmel Herr sein lassen, da hat er die Herrschaft Gottes aufgerichtet. Da ist er im vollen und letzten Sinn der Gottesknecht geworden, das gefügige Werkzeug in der Hand Gottes zur Aufrichtung seiner königlichen Herrschaft. Und weil er den Willen des Vaters in den seinigen aufnahm, hat er den Segen dieses Gehorsams erfahren dürfen in der ewigen Gemeinschaft mit Gott. Sein Gehorsam führte zwar zum Untergang der vergänglichen Existenzweise, aber er brachte gleichzeitig den Aufgang der unvergänglichen Daseinsweise.

Im Geschehen der Auferstehung und der Himmelfahrt hat Gott die Tat des Gehorsams seines Sohnes beantwortet. Für das Leiden, das er aus Gehorsam auf sich genommen hat, durfte er die Herrlichkeit schauen. Gott hat ihn emporgerissen aus dem Tode in die immerwährende Seinsweise des Himmels. Da sieht man, wie fruchtbar der Tod Jesu war. Er weilt jetzt im Himmel als der Verklärte und Auferstandene. Im Himmel ist er als unser Hoherpriester nach wie vor tätig. Er steht vor dem Vater und stellt ihm sein Opferleiden vor als Bürge unseres Heiles. Er zeigt dem Vater gleichsam – bildlich gesprochen – seine Wunden und fleht ihn um Erbarmen für die Sünder an.

Christus ist Hoherpriester auch in seiner himmlischen Existenzform. Und weil es kein Priestertum ohne Opfer gibt, müssen wir auch von seinem ewigen Opfer sprechen. Er ist ewiger Hoherpriester, aber ewig ist auch sein Opfer. Er hat sein Opfer hineingenommen in die Herrlichkeit des Vaters. Sein Leben in der Verklärung ist ein Leben als der geopferte Gekreuzigte und Verklärte.

Das ist also die Sicht des Opfertodes Christi von Jesus her gesehen. Wenn Jesus der einzige und ewige Hohepriester des Neuen Bundes ist, dann ist jedes wahre Priestertum von ihm abhängig, dann gibt es kein echtes Priestertum ohne den Anschluß an ihn. Aber auch umgekehrt: Wer immer mit Jesus in Verbindung tritt, der gewinnt auch Anteil an seinem Priestertum. Es ist also keine Übertreibung zu sagen: Alle Getauften sind in einem wirklichen Sinne teilhaftig des Priestertums Christi. Es gibt ein allgemeines Priestertum aller Getauften. Dieses allgemeine Priestertum wird in zweifacher Weise ausgeübt. Die erste Weise ist die Teilnahme am Kreuzesopfer Christi, das in der heiligen Messe vergegenwärtigt wird. Wenn Sie, meine lieben Freunde, in dieser heiligen Messe mit Herz und Verstand, mit Hingabe und Aufopferung sich beteiligen, dann üben Sie Ihr Priestertum aus. Es ist das eine wirkliche, eine reale Ausübung des allgemeinen Priestertums.

Die zweite Weise, dieses Priestertum auszuüben, ist die Hingabe an Gott in den Kreuzen des Alltags. Wer immer die Leiden und Plagen, die jeder Tag mit sich bringt, in der Gemeinschaft mit dem geopferten Christus auf sich nimmt, der übt priesterliches Tun. Seine Leiden und seine Mühen, die er in der Verbindung mit Christus dem Vater entgegenhält, sind sein geistlicher Gottesdienst.

Daneben gibt es das besondere Priestertum. Auch dieses ist natürlich Teilnahme am Priestertum Christi, und zwar in einer gesteigerten Weise, ja in einer vom allgemeinen Priestertum der Art nach verschiedenen Weise. In dem besonderen Priestertum setzt nämlich Christus sein priesterliches Wirken durch spezifisch geprägte menschliche Werkzeuge fort. Er ist ja in seiner Kirche lebendig gegenwärtig, aber er ist unsichtbar gegenwärtig, und er bedarf deswegen des sichtbaren Priestertums. Und die sichtbaren Priester vollziehen in seinem Namen und in seiner Kraft das Priestertum Christi. Sie stehen also dem Priestertum Christi nicht im Wege, sondern sie dienen seinem Vollzug. Sie sorgen dafür, daß das Priestertum Christi wirksam wird. Aber man muß daran festhalten: Das besondere Priestertum ist immer nur ein relatives, ein rückbezügliches, nämlich ein auf Christus bezogenes Priestertum, kein selbständiges, denn es gibt nur ein einziges absolutes Priestertum im Neuen Bund, das ist das Priestertum Christi. Und indem die von Christus abhängigen geweihten Getauften den Priesterdienst vollziehen, leihen sie gleichsam Christus einen Mund und leihen sie Christus ihre Hände.

Wenn wir also das Kreuzbild sehen, meine lieben Freunde, dann wissen wir, daß das Kreuzbild das sichtbare Symbol unseres Opferpriesters Jesus Christus ist. Wir wissen, daß der, der da hängt, Hoherpriester des Neuen Bundes, Opferer, aber auch Opfergabe ist. „Seht das Lamm Gottes, das hinwegträgt die Sünden der Welt!“ Wir wissen, daß dieses Opfer geschehen ist aus der milden und gnädigen Gesinnung des Vaters, der dadurch die Menschheit retten wollte. Nicht, als ob die Menschen durch das Opfer Gott milde und gnädig stimmen wollten, sondern der milde und gnädige Gott hat dieses Opfer hingehen lassen, hat dieses Opfer darbringen lassen, um die Menschheit von der Sünde zu befreien.

Wenn wir also dieses Kreuzesbild sehen, dann wissen wir, es ist das Bild unseres Erlösers. Es ist das Bild, das wir anschauen, das wir lieben, das wir endlos küssen können. Es ist das Bild, das in unser Herz gegraben ist, das uns leuchten muß im Leben und das unser Trost sein muß im Sterben, das Bild unseres gekreuzigten Priesters Jesus Christus.

Amen.

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