Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
15. Juli 2018

Der gerechte Gott

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

In der Verkündigung der Kirche nimmt eine Eigenschaft Gottes eine hervorragende, eine überragende Stellung ein. Es ist die Liebe – mit Recht. Denn das Evangelium ist die frohe Botschaft von der Liebe und der Barmherzigkeit Gottes. So beglückend es sein mag, wenn der Apostel Johannes schreibt: „Gott ist die Liebe“, so muss doch diese Wirklichkeit im Zusammenhang mit anderen Eigenschaften Gottes gesehen werden. Denn die Liebe Gottes ist sachgerecht, seinsgerecht, d.h. sie vollzieht sich in der Weise der Gerechtigkeit. Gott ist in sich unendlich gerecht. Diese Aussage besagt, dass Gott seinen eigenen absoluten Wert sachgerecht würdigt und bejaht. Es tut das nicht, indem er seinen eigenen Wert vorfindet, sich zum Bewusstsein bringt, durchschaut und ebenbürtig schätzt, vielmehr ist seine Vollkommenheit und deren ebenbürtige Schätzung ein und dieselbe Wirklichkeit. Das personale göttliche Selbst, also Gott, existiert als Gerechtigkeit, insofern es als personhafter, sich selbst mit unantastbarer Festigkeit und Kraft behauptender Wert existiert. Gott hat keine Norm und kein Gesetz über sich. Er ist selbst Norm und Gesetz. Er ist Gesetz als Person.

Die Gerechtigkeit Gottes äußert sich im außergöttlichen Bereich in dreifacher Weise, nämlich als schöpferische, als gesetzgeberische und als vergeltende Gerechtigkeit. Die schöpferische Gerechtigkeit Gottes besagt, dass er durch die Erschaffung der außergöttlichen Dinge den absoluten Wert, den er selbst darstellt, in mannigfachen Brechungen auf endliche Weise offenbart. Die Gerechtigkeit Gottes verlangt, dass er in den Geschöpfen sich selbst als den absoluten Wert in endlicher Weise zur Darstellung bringt. Sie verlangt, dass nichts existiert, das nicht den absoluten Wert offenbart. Es ist kein Verstoß gegen die Gerechtigkeit, wenn Gott dem einen Ding ein größeres Seinsmaß zuweist als dem anderen. Er ist absoluter Herr, er ist frei, er bestimmt in voller Freiheit und Oberhoheit jedem Geschöpf sein Seinsmaß. Er schätzt und würdigt jedes Ding in strenger Sachgerechtigkeit. Jedes Ding ist von ihm gesetzt und besteht durch ihn. Der erschaffende Gott schafft in Gerechtigkeit. Die gesetzgeberische Gerechtigkeit Gottes besteht darin, dass er in jedes Ding jene Kräfte und Neigungen legt, durch die sein keimhaftes Wesen zur vollen, von Gott gewollten Gestalt entwickelt werden soll. Dem vernünftigen Geschöpf werden durch göttliche Gesetze die Wege gewiesen, die zu der von Gott gewollten Vollendung führen. Sie legen den vernunftbegabten Geschöpfen nicht wesensfremde Pflichten auf, sondern sind Anweisungen zur Verwirklichung des natürlichen oder übernatürlichen Zieles, auf das hin Gott sie angelegt hat. Sie führen zur letzten Verwirklichung des menschlichen Wesens. Der Gehorsam gegen sie bedeutet deswegen wesensgemäßes Handeln; der Ungehorsam bedeutet wesenswidriges Handeln. Die Gebote Gottes enthüllen als Offenbarungen Gottes seine Liebe, jene Liebe, welche die Menschen zur Fülle und Kraft des Lebens und der Existenz ruft. Es ist daher die Freude verständlich, mit der im Alten Bunde die frommen Beter Gottes Gesetze preisen. „Keinem anderen Volke“, heißt es im Psalm 147, „hat er seine Gesetze geoffenbart wie uns.“ Eine andere Gerechtigkeit, die wir auf Erden sehr schätzen, kommt für Gott nicht in Frage. Es ist die Tauschgerechtigkeit, die auf Leistung und Gegenleistung beruht. Wer eine Ware erwirbt, muss den Kaufpreis entrichten. Wer einen anderen zur Arbeit verpflichtet, muss den vereinbarten Lohn zahlen. Das nennt man die Tauschgerechtigkeit. Sie kann von Gott nicht ausgesagt werden, denn Gott gegenüber gibt es keine Rechtspflicht. „Wer hat ihm zuerst etwas gegeben, dass es ihm vergolten werden müsste? Was hast du, das du nicht empfangen hast? Hast du es aber empfangen, was rühmst du dich, als hättest du es nicht empfangen?“, so schreibt Paulus und schließt damit die Tauschgerechtigkeit aus.

Die uns gewöhnlich am meisten beschäftigende Gerechtigkeit ist die vergeltende Gerechtigkeit Gottes. Sie besteht darin, dass Gott das Gute belohnt und das Böse bestraft. Gott hat angeordnet, dass mit dem guten Tun der Lohn und mit dem bösen Tun die Strafe verbunden sein soll. Im Alten Testament ist oft von der belohnenden und strafenden Gerechtigkeit Gottes die Rede. Jahwe, also der alttestamentliche Gott, ist Ursprung und Hort aller Gerechtigkeit und sittlichen Ordnung. Wer sie beobachtet, empfängt Segen und Lohn, wer sie verletzt, empfängt Fluch und Strafe. Gott bestraft das Böse. Er verhängt Abschreckungs- und Besserungsstrafen, aber auch Vergeltungsstrafen. So wird die gestörte Gerechtigkeit wiederhergestellt. Wenn Gott auch als strenger Richter geschildert wird, so liegt ihm doch Laune und Willkür fern. Maßstab für seine Gerichte ist seine eigene Vollkommenheit, die er freilich mit Unerbittlichkeit behauptet. „Glück und Unglück“, heißt es im Buche Sirach, „Armut und Reichtum kommen vom Herrn.“ Der Prophet Sophonias kündigt den Tag des Herrn an, das ist der Tag des Gerichtes: „Ein Tag des Grimmes, der Angst und der Bedrängnis, ein Tag der Verwüstung, der Finsternis und des Dunkels, ein Tag des Zornes des Herrn.“ Auch die Psalmen wissen vom Gericht Gottes zu künden. Im Psalm 94 heißt es: „Gott zahlt den Frevlern ihr Unrecht heim. Er lässt sie verderben ob ihrer Bosheit. Vertilgen wird sie der Herr, unser Gott.“ Im Psalm 11 heißt es: „Der Herr prüft Fromme und Frevler. Er lässt auf die Frevler Glutkohlen und Schwefel regnen. Ihr Lohn ist flammende Lohe.“ Beim Propheten Jeremias steht sogar der furchtbare Satz: „Die Schuld der Väter zahlt Gott den Kindern heim.“ Aber gerecht bleibt Gott, selbst in diesem Falle. Auch das Neue Testament kennt Gottes richtende und strafende Gerechtigkeit. Jesus Christus spricht häufig vom Gericht. In der Bergpredigt kündigt er das Gericht an: „Jeder, der seinem Bruder zürnt, wird dem Gericht verfallen.“ Immer wieder weist er auf den Tag des Gerichtes hin und fordert dazu auf, den zu fürchten, der die Macht hat, in die Hölle zu stoßen: „Ja, sage ich euch, den sollt ihr fürchten.“ Die Apostel folgen seiner Verkündigung. Auf dem Areopag in Athen kündigt Paulus an: „Gott hat einen Tag festgesetzt, an dem er den Erdkreis in Gerechtigkeit richten wird, durch einen Mann, den er bestimmt und durch die Auferweckung von den Toten beglaubigt hat.“ Er kündigt an, dass der Herr kommen wird, der auch das Verborgene der Finsternis aufhellen und die Entschlüsse des Herzens offenbaren wird. An die Gemeinde von Korinth schreibt Paulus: „Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, damit ein jeder erhalte, was er bei Lebzeiten verdient hat: Gutes oder Böses.“ Gott belohnt die kleinste gute Handlung, er bestraft aber auch die kleinste Sünde. Christus verspricht selbst jeden Becher frischen Wassers zu belohnen, den wir den Seinigen reichen, sagt aber auch: „Die Menschen werden über jedes unnütze Wort, das sie reden, am Tage des Gerichtes Rechenschaft geben müssen.“ Gott bestraft den Menschen zumeist in derselben Weise, wie er gesündigt hat. Womit einer sündigt, damit wird er bestraft. Worin der sündige Mensch seine größte Lust sucht, darin wird er auch die schwerste Strafe finden. Gott nimmt beim Belohnen und Strafen genau auf alle Verhältnisse des Menschen Rücksicht. Er schaut in das Innere, er beurteilt die Absichten, er untersucht die Talente, die einer bekommen hat, aber er kennt kein Ansehen der Person. Viele, die hier die Ersten sind, werden im Jenseits die Letzten sein. Gott belohnt und bestraft den Menschen teilweise schon auf Erden, vollkommen aber erst nach dem Tode. So muss es sein. Augustinus hat es in wunderbarer Weise ausgedrückt, warum es so sein muss: „Würde Gott jede Sünde in diesem Leben strafen, dann möchten die Menschen meinen, dass dem letzten Gericht nichts vorbehalten bliebe. Würde aber Gott keine Sünde in diesem Leben strafen, dann würden die Menschen meinen, es gäbe keine Vorsehung Gottes.“ Weil Gott höchst gerecht ist, sollen wir ihn fürchten. Christus fordert dazu auf: „Fürchtet den, der Leib und Seele ins Verderben der Hölle stoßen kann.“ Unsere Furcht soll freilich keine knechtische sein. Sie soll sich nicht so sehr auf die Strafe richten als darauf, dass wir Gott nicht betrüben wollen. Die Furcht soll der Beleidigung Gottes gelten und nicht so sehr der Strafe. „Doch tue zumindest aus Furcht vor der Strafe, was du aus Liebe zu Gott noch nicht tun kannst.“ Ich denke manchmal darüber nach, was sein wird, wenn Gott einmal am Ende der Tage das Tun und Lassen, das Tollen und Treiben der Menschen richten wird. Lange Zeit haben die Menschen Zeit gehabt, sich nach Gottes Willen zu richten. Aber sie haben seinen Willen missachtet, verspottet und verhöhnt. Gott hat ihnen Zeit gelassen zur Bekehrung. Einmal aber ist die Geduld Gottes zu Ende. Dann bricht sein furchtbares Strafgericht herein. Dann wird die Erde sich aufbäumen gegen den Menschen, der sie geschändet und missbraucht hat. Dürre und Trockenheit und Brausen und Schäumen des Meeres werden dann eintreten. Dann trifft der Zorn Gottes den Schuldigen mit dem Unschuldigen, den Gerechten und den Ungerechten. Aber auch das wird ohne Verletzung der göttlichen Gerechtigkeit vor sich gehen. Dann werden die Menschen fragen: Wie haben wir das verdient? Aber vorher haben sie nie gefragt: Wie lange wird Gott sich die Herausforderung der gottvergessenen Menschen noch ansehen können?

Liebe und Gerechtigkeit Gottes widersprechen sich nicht. Im Alten Testament trat der Zug der herben Strenge Gottes stärker in den Vordergrund als die Liebe. Das geschah in heilspädagogischem Interesse. Das bedeutet nicht, dass sich Gott im Laufe der Zeit etwa milder gemacht habe, dass er milder geworden sei und seine Liebe allmählich die Gerechtigkeit zurückgedrängt habe, nein, nein, im Alten Testament fehlt die Offenbarung der Liebe Gottes nicht. Sie geschieht vielmehr in einer für das Auge des Gläubigen so deutlichen Weise, dass sein Herz vor Freude überströmt. Sie erreicht nur nicht die Klarheit und die Kraft des Neuen Testamentes. Liebe und Gerechtigkeit liegen bei Gott nicht im Kampfe. Die Liebe äußert sich nicht darin, dass sie die Gerechtigkeit schwächt oder zum Schweigen bringt, vielmehr durchdringen sich Liebe und Gerechtigkeit. Liebe und Gerechtigkeit laufen auch nicht nebeneinander her wie zwei Haltungen, nein, sie sind vielmehr eine Tatwirklichkeit. Gott umfasst jedes Geschöpf mit gerechter Liebe und mit liebender Gerechtigkeit. Indem er jedes gerecht behandelt, liebt er es; indem er es liebt, behandelt er es gerecht. Die Liebe äußert sich in der Achtung vor dem freien Willen des Menschen. Gott drängt ihm seine Liebe nicht auf. Er lässt ihm seinen Willen, mit dem er vor der Liebe Gottes fliehen kann. Die Flucht vor Gott, die Flucht vor Gottes Liebe, d.h. die Auflehnung gegen Gott hat für den Einzelnen, für die Gemeinschaft und für die Erde zerstörerische Folgen. Der Sünder ist der Selbstzerstörer und der Erdzerstörer. Gott lässt den Sünder in dem Unheil, dass er über ihn hereinbrechen lässt, den Widersinn der Sünde, der Auflehnung gegen die Liebe spüren; darin behandelt er den Sünder gerecht. So greifen Liebe und Gerechtigkeit Gottes ineinander. Die Liebe wird für den, der sich ihr öffnet, zur belohnenden, für den, der sich ihr verschließt, zur verurteilenden Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit ist die Form der Liebe und die Liebe ist die Form der Gerechtigkeit. Die Behauptung, dass die Gerechtigkeit in Gott formell mit der Liebe zusammenfällt, widerspricht nicht der Tatsache der Hölle. Diese Lebensform ist von der Liebe getragen, die zugleich Gerechtigkeit ist. Gott zwingt nämlich demjenigen, der das Los der Liebe und das Leben der Liebe und der Anbetung endgültig verschmäht, eine solche Existenz nicht auf. Er will die menschliche Freiheit nicht antasten, er betrachtet ihn als ein für sein Tun verantwortliches Wesen. Indem der Mensch sich von Gott wegwendet, den absoluten Wert also ablehnt, gibt er der Selbstmitteilung der göttlichen Liebe keinen Raum. Und Gott gewährt ihm, was er will: ein Leben der radikalen Autonomie. Es ist sachgerecht, dass er die Ferne von Gott, der die Liebe ist, als eisige Einsamkeit und endgültige Hoffnungslosigkeit erfährt. Der Verdammte bekehrt sich aber trotzdem nicht. Er kann sich nicht bekehren. Er zieht das Leben der Auflehnung dem Leben der Anbetung vor und nimmt die Folgen in Kauf. Wenn er seine Lebenserfüllung nur um den Preis der Unterwerfung unter Gott gewinnen kann, verzichtet er darauf.

Meine lieben Freunde, wir fürchten Gottes Gerechtigkeit und wir fürchten sie mit Recht. Jesus hat diese Furcht nicht von uns genommen, sie vielmehr eingeschärft und den Hinweis gegeben, dass Gott Leib und Seele in der Hölle verdammen kann. Rufen wir nicht mit Jesu Jüngern in Samaria das Feuer der Gerechtigkeit auf andere herab, denn ihr wird doch nichts entgehen. Wir brauchen Gott nicht zu mahnen, dass er nach seiner Natur handelt, denn er kann gar nicht anders. Der Maßstab, womit Gott die geschöpfliche Sittlichkeit bemisst, ist kein menschlicher, sondern ein göttlicher. Ein Nachmessen, ein Nachurteilen ist uns auf Erden unmöglich. Deswegen mahnt die Heilige Schrift, nicht zu hadern mit Gott. Im Übrigen, meine lieben Freunde, leben wir alle viel mehr von Gottes Barmherzigkeit als von seiner Gerechtigkeit. Das göttliche Richteramt maßen wir uns zwar oft über andere an, aber es ist uns im Alten wie im Neuen Testament wiederholt und nachdrücklich verboten worden. Vereinigen wir uns in dem Gebet: „Gott, lass uns, die wir mit Recht für unsere Missetaten gezüchtigt werden, durch den Trost deiner Gnade das ewige Leben erlangen.“

Amen.

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