1. November 2025
Die Heiligenlegende
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Es gibt ein Buch, es heißt: die Heiligenlegende. Die Heiligenlegende ist wie ein Spaziergang durch 20 Jahrhunderte; sie erzählt von Mönchen und Soldaten, Martyrern und Jungfrauen, Einsiedlern und Fürsten, Werktätigen und Gelehrten, Kindern und Greisen. Aber so gern wir sie lesen, bei manchen Erzählungen, besonders über Martyrer der alten Zeit, schütteln wir den Kopf. Da kommt uns manches so fremd und unwahrscheinlich vor, dass wir unwillkürlich fragen: Hat sich das alles wirklich so zugetragen? Nun, wir müssen uns bewusst werden, wie diese Legenden erstanden sind. Manchmal hat sich nach dem Tode eines Martyrers sofort jemand hingesetzt, um die Einzelheiten aufzuschreiben; warum und wie der Christ verhaftet wurde, was man ihm zur Last legte, was man von ihm forderte, was der Richter ihn fragte, was er dem Richter antwortete, wie das Urteil lautete, wie die Behandlung im Gefängnis war, wie das Urteil vollstreckt wurde. Solche Berichte von Zeitgenossen oder gar Augenzeugen sind sehr wertvoll. Aber solche Berichte sind selten, und das ist nicht zu verwundern. In Zeiten der Verfolgung denkt man an anderes als an Aufzeichnungen über den Tod anderer. Überhaupt macht man in allen Jahrhunderten die Wahrnehmung, dass die meisten Menschen nicht die Neigung haben, etwas von der Gegenwart für künftige Geschlechter aufzuzeichnen. Die Aufzeichnung der Augenzeugen und Zeitgenossen der Martyrer der alten Zeit sind uns auch nicht alle erhalten geblieben. Denn sie geschahen auf losen Blättern, und wir wissen, wie leicht solche Blätter verloren gehen. So kam es, dass von vielen Martyrern nur der Name bekannt ist und die Tatsache, dass er für den Glauben sein Leben gelassen hatte. Die Einzelheiten gerieten immer mehr in Vergessenheit, je weiter die Zeit voranschritt. Aber eines Tages wurde in der Gemeinde der Wunsch lebendig: Hätten wir doch eine Lebensbeschreibung von ihm; wir haben sein Grab, wir verehren ihn, wir feiern sein Fest. Wie schön wäre es, wenn wir beim Gottesdienst etwas über ihn vorlesen könnten. Und dann setzte sich in einem Kloster ein Mönch hin und schrieb eine Legende; weil ihm keine Einzelheiten zur Verfügung standen, schrieb er so, wie es sich zugetragen haben konnte. Ob heute auch etwas Ähnliches vorkommt? Der schweizerische Schriftsteller Heinrich Federer (1866-1928) hat die Erzählung geschrieben „Das letzte Stündlein des Papstes“ (1914). Sie handelt von dem großen Papst Innozenz III. Federer erzählt, wie der Papst eines Tages schwerkrank wird und noch am selben Tag stirbt. Er liegt auf seinem Ruhebett, seine Augen sind noch offen, aber sein Mund kann nicht mehr sprechen. Um ihn stehen die Prälaten, Bischöfe und Kardinäle. Sie merken, der Papst hat noch einen Wunsch, doch er kann ihn nicht mehr äußern. Da kommt ihnen der Gedanke, ob der Papst nicht den Mönch Franziskus von Assisi haben will, der ganz in der Nähe weilt. Nach manchem Hin und Her gelingt es, Franziskus herbeizuholen. Und nun schildert Federer, wie Franziskus in seiner kindlichen Art zum Sterbenden spricht, so lieb und gut, dass der Papst ruhig und zufrieden wird und mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen stirbt. Aber das Ganze ist erfunden. Zwar hat Innozenz III. gelebt und auch Franz von Assisi ist eine geschichtliche Persönlichkeit. Aber was da vom Sterben des Papstes erzählt wird und von Franziskus, der dem Papst die Zeichen seiner Würde abnimmt und dafür seine zerschlissene Kutte über ihn breitet, ist erfunden. Schelten wir darum Federer einen Lügner? Nein, wir freuen uns, dass er eine so reiche Phantasie hat und alles so anschaulich zu beschreiben weiß. Auch die alten Legendenschreiber waren keine Lügner. Die von ihnen behandelten Personen haben wirklich gelebt, sind wirklich für den Glauben gestorben; nur die Einzelheiten haben sie erfunden. Aber da sind in allen Legenden die furchtbaren Martern; das ist ja gar nicht möglich, dass ein Mensch das alles aushält; und dann die gehäuften Wunder, eins immer seltsamer als das andere. Ja, das war der Geschmack früherer Zeiten, die wollten gerade das haben. Unser Geschmack ist anders. Wir sind empfindsam, hören nicht gern von Qualen, und bei jedem Wunder werden wir kritisch. Wir lieben etwas anderes. Der Erzähler soll uns einführen in das Seelenleben der handelnden Personen, je tiefer, desto besser. Frühere Jahrhunderte hatten diesen Wunsch nicht. Äußere Ereignisse wollten sie haben, je mehr Martern und Wunder, desto besser. Der Katechismus ist das Buch des Glaubens. Er fasst die religiösen Wahrheiten zusammen, die uns die Kirche im Auftrag Jesu Christi und unter dem Beistand des Heiligen Geistes lehrt. Die Heiligenlegende ist kein Katechismus, sondern eine Sammlung von Erzählungen. Diese Erzählungen sind von verschiedenem Wert, auch von verschiedenem geschichtlichem Wert. Wir brauchen nicht die einzelne Legende auf ihren geschichtlichen Wert zu prüfen, können es gar nicht. Darüber werden wir auch nicht vor Gott Rechenschaft ablegen müssen. Rechenschaft haben wir abzulegen, ob wir die Heiligenlegenden richtig gelesen haben, richtig benutzt haben. Du und ich, wir benützen die Heiligenlegende als Erbauungsbuch. Wir freuen uns über den hl. Diakon Stephanus, wir freuen uns über Ignatius von Antiochien, von dem wir sieben auf der Todesfahrt nach Rom geschriebene Briefe besitzen; wir freuen uns über Polykarp von Smirna, der in hohem Alter dem Feuertod ausgeliefert wurde; wir freuen uns über Irenäus von Lyon, Perpetua und Felicitas und die vielen anderen, von denen wir zuverlässige Berichte besitzen. Bei den übrigen lassen wir es dahingestellt, was Tatsache ist und was dichterische Ausschmückung. Alles aber benutzen wir, um uns zu bestärken in dem Glauben an den unendlichen dreieinigen Gott und sein Heilswirken; in der Hoffnung auf den endgültigen Sieg des Reiches Gottes; und in der Liebe, die das Band der Vollkommenheit ist. So lesen wir die Heiligenlegende.
Amen.