Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Was erwartet uns nach dem Tode? (Teil 2)

15. November 2015

Wir werden lieben

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Am vergangenen Sonntag haben wir versucht, aus Offenbarung und Vernunft zu erkennen, was uns nach unserem Tode erwartet. Wir haben erkannt: Offenbarung und Vernunft lehren die Unvergänglichkeit, die Unsterblichkeit des Menschen. Zu wem Gott einmal ein Du gesprochen hat, der wird nie mehr vergehen. Es ist die Anlage zur Liebe, die wir in uns tragen, welche Gott veranlasst, uns nicht ins Nichts zurückfallen zu lassen. Er hat uns als liebende Wesen geschaffen und darum will er auch, dass wir ewig bei ihm weilen. Wir werden leben, weil Gott uns liebt und weil wir die Fähigkeit haben, ihn zu lieben. Im Buch von der „Nachfolge Christi“ ist diese Wahrheit einmal wunderbar ausgesprochen worden: „Deine Liebe hat mich erschaffen, als ich noch nicht war, sie hat mich zu dir, dass ich dir diene, wieder zurückgeführt, als ich mich verirrt hatte, sie hat mir ein süßes Gebot ins Herz geschrieben, das Gebot, dich zu lieben.“ So spricht der Mensch zu Gott. Und Gott spricht zum Menschen: „Mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt. Ich will dein Gott sein, und ihr sollt mein Volk sein.“ Gott will uns seine Liebe schenken, der treue Gott, und er möchte auch unsere Liebe nicht missen. Es hat eben jeder Mensch kraft dieser Liebesfähigkeit und der treuen Liebe Gottes etwas Unersetzliches in sich, eine Köstlichkeit, die Gott nicht missen möchte. Und deswegen lässt er uns nicht ins Nichts zurückfallen. Das Größte, was man einmal von uns wird sagen können, ist: Wir werden lieben. Wir werden Gott lieben, wir werden zu ihm sagen können: Du bist mein Gott, und ich bin dein Kind. Die Offenbarung der Liebe Gottes ist das Größte, was wir erwarten können. Die Heilige Schrift spricht von der Anschauung Gottes, wir werden Gott schauen. Das ist natürlich ein Bild, ein Bildwort, das aus unseren irdischen Verhältnissen genommen ist. Aber dieses Bildwort hat eine erschreckende Tiefe. Es besagt nämlich, dass nichts mehr zwischen Gott und uns stehen wird: kein Geschöpf, kein Schatten, keine Hemmung, keine Fremde, keine Ferne, keine Schuld, auch kein Weg, kein Gleichnis, kein Medium, das uns erst mit Gott verbinden sollte, nein, es wird ein unmittelbares und widerstandsloses Zusammensein mit Gott sein. Das Wort von der Anschauung Gottes drückt aus, dass jenes unstillbare Leid, das auch zwischen den wärmsten Liebenden auf Erden besteht, nämlich das Leid, dass auch in der größten Liebe immer noch eine Ferne ist, eine Unerfülltheit, eine Ohnmacht, ein Nichtkönnen, dieses Leid wird aufhören in der Ewigkeit, so unglaublich das klingt. Es wird so sein, dass die Liebe zwischen Gott und den Menschen Gott und den Menschen genugtun kann; sie wird sich sättigen können. Endlich wird unser Herz nichts mehr vermissen und die göttliche Liebe nichts mehr suchen. Auch seine Liebe wird mit unserer Liebe zufrieden sein.

Unsere ewige Vollendung wird also ein Leben in Gemeinschaft sein, in Gemeinschaft mit dem ewigen Gott. Es bestätigt sich das, was wir auch auf Erden immer wieder erfahren können, dass ein vollendeter Mensch, ein vollkommener Mensch nur der sein kann, der in der Gemeinschaft lebt. Nur ein Gemeinschaftswesen kann ein heiliger und seliger Mensch werden. Wenn der Mensch liebt, was Gott liebt, steigt er zum Reiche dessen auf, der die Liebe ist. Aber nicht nur das. Die Gemeinschaft mit Gott ist auch die Gemeinschaft mit allen gottverbundenen Menschen. Wer Gott findet, der findet auch den Menschen. Eine große Zahl von Lieben erwartet uns drüben; eine stattliche Zahl von Eltern, Geschwistern und Kindern sehnt sich nach uns. Um die eigene Rettung bereits unbekümmert und nur nach unserem Heil strebend, werden sie uns erwarten und empfangen. Unter ihre Augen, in ihre Arme zu eilen, das wird die Freude für uns sein. Die Misshelligkeiten, die auf Erden immer die Gemeinschaft der Menschen trüben, diese Misshelligkeiten werden im Himmel aufgehoben sein. Jeder wird im Himmel den anderen lieben wie sich selbst und daher sich über das Gute des anderen freuen wie über das eigene Gut. Dadurch werden die Freude und das Glück des einen um so viel gesteigert, als sie die Freude aller ist. Das ist die Gemeinschaft der Heiligen, welche die Kirche als ein heiliges Dogma verkündet hat: die Gemeinschaft aller Menschen auf Erden, im Himmel und im Fegfeuer, die in der heiligmachenden Gnade leben, die gegenseitige Mitteilung der Hilfen, Sühneleistungen, Gebete und guten Werke, durch die alle Christgläubigen zum einen großen Reiche in Christus zusammengeschlossen sind.

Daraus ergibt sich aber auch, dass der Mensch, der seine ewige Vollendung nicht gefunden hat, also der verlorene, der verworfene Mensch ein einsamer Mensch sein wird, ein Mensch ohne Du, ein Ich-Mensch. Auch er wird ewig leben, denn auch er trägt in sich jene Einmaligkeit und Einzigartigkeit, die seine Zerstörung ausschließt, aber er wird in alle Ewigkeit nur ein Ich und kein Du sein. Er wird niemals Du sagen und niemals Du hören. Jetzt wissen wir, worin der Himmel und worin die Hölle besteht. Der Himmel ist die Liebesgemeinschaft mit Gott und allen Kreaturen, die in Gott sind, eine Gemeinschaft von unausdenkbarer Nähe, Vertraulichkeit und Seligkeit. Die Hölle ist das gemeinschaftslose Leben von unausdenkbarer Schmerzhaftigkeit, das liebeleere Leben, das Leben eines Geistes, der nichts hat, weil er nichts liebt als sein Ich, und das allein kann man nicht eine Ewigkeit lieben. So lieben kann man nur das Du, den Nächsten und Gott. Und wer kein Du mehr hat, der hat nichts mehr. Daher kommt es, dass die Menschen, die nicht lieben können, wie lebendig Begrabene sind, abgeschlossen von allem, was noch da ist, außer ihrem eigenen Ich, sie führen ein Leben in unerhörter Verlassenheit, ein Leben in unbegreiflicher Ausgestoßenheit und Heimatlosigkeit. Ein solcher Mensch kann auch kein Geschöpf mehr besitzen. Man könnte sich ja vorstellen, dass sich die Verdammten gegenseitig trösten, nein, sie könnten sich nur gegenseitig besitzen, wenn sie lieben könnten, aber eben das können sie nicht mehr. Darum können die verlornen Menschen, die ewig Hoffnungslosen auch einander nicht lieben, weil sie überhaupt keine Liebe haben. Dort drüben, in jenem furchtbaren Reich ewiger Kälte und Finsternis, bestehen alle Wesen in Ich-Atomen. Jeder von ihnen muss sich in alle Ewigkeit sagen: Ich habe keinen Menschen. So furchtbar rächt sich der Egoismus des Menschen, der von sich besessen war, der auf Erden nur sich kennt, nur sich gelten lässt, nur sich sucht, nur sich anbetet und vergöttert. Weil er niemand sucht, wird er niemand finden; weil er niemandem dient, wird er niemandem gehorchen und gehören; weil er niemand bejaht, wird er zu niemand sprechen; weil er zu niemandem geht, wird er bei niemandem sein. Das ist seine Hölle. So schrecklich ist es um die Forderung des Liebesgebotes. Auf das ewige Leben kann man sich hienieden nur durch Liebe und durch Ausbildung der Liebesfähigkeit zu Gott und den Menschen vorbereiten.

Nun gibt es das Wort Liebe in allen Sprachen. Aber, meine lieben Freunde, es ist das am meisten missbrauchte Wort in allen Sprachen. Wer von Liebe spricht, den muss man fragen: Was meinen Sie damit? Was verstehen Sie unter Liebe? Es sei deswegen darauf hingewiesen, dass die Liebe, die Gott von uns erwartet, eine geordnete Liebe sein muss, d.h. die Liebe, die uns in den Himmel trägt, ist eine Liebe, die die gesamte sittliche Ordnung Gottes bejaht. Man hört manchmal von Menschen das Wort des heiligen Augustinus angeführt: „Habe die Liebe, und dann tue, was du willst.“ Das heißt nicht, die Liebe ist ein Freibrief für die Missachtung der Gebote, sondern das bedeutet: Wer die wahre Liebe hat, der erfüllt auch wie selbstverständlich alle Gebote, der weiß nämlich, was er tun muss. Mir sagte einmal eine Dame: „Mein Schwager verfolgt mich mit der Liebe.“ Sie meinte damit, er wolle mit ihr Unzucht treiben. So wird das Wort Liebe missbraucht.

Da möchten wir nun erschrecken in tiefer Bangigkeit um das Schicksal fast aller Menschen, um unser eigenes Schicksal. Denn jene grenzenlose Liebe zwischen Gott und der Seele ist doch etwas so Großes und so Seltenes, dass wohl nur die wenigsten Menschen es fassen können. Das schönste Wort, das Christus, der Sohn Gottes, über den Himmel gesagt hat, lautet: „Vater, ich will, dass die, die an meinen Namen glauben, auch da seien, wo ich bin, und die Herrlichkeit schauen, die du mir geschenkt hast von Anbeginn.“ Er setzt also voraus, dass wir mit ihm in solcher Liebesgemeinschaft leben werden, und dass es unsere Seligkeit ausmacht, seine Herrlichkeit zu schauen. Aber das ist nur etwas für Liebende. Wer keine Liebe zu Christus hat, dem bedeutet auch seine Herrlichkeit nichts und die Gemeinschaft mit ihm. Für ihn hat der Himmel keinen Sinn. Wenn wir nun in unsere eigene Seele schauen, müssen wir doch mit tiefem Erschrecken feststellen, dass wir weit entfernt sind von jener Liebe. Und wenn wir die Menschen betrachten, die uns umgeben, dann zeigt sich täglich aufs Neue, wie unendlich selten die wahre Liebe unter ihnen ist, ja, wie sie unfähig zu sein scheinen, die Liebe zu besitzen und zu üben. Werden diese alle, werden wir alle, wenn wir drüben ankommen, in unserer eigenen furchtbaren Enge begraben sein? Diese bange Frage ist wohl am Platze. Die wahre und reine Liebe ist selten. Aber nicht, weil die Menschen unfähig sind dazu, sondern weil die Liebe so tief vergraben und verschüttet ist in ihrer Selbstsucht und in ihrer Unlauterkeit, weil die Menschen den Zugang zu ihr nicht finden und sie nicht herausgraben aus den tiefen Abgründen ihrer Herzen wie einen goldenen Schatz, der dort im Dunkeln liegt. Aber der goldene Schatz ist doch da, und deswegen kann und wird er nicht verloren gehen, solange der Mensch ihn nicht selbst wegwirft. Und dann kann er doch einmal ausgegraben werden. Und wenn diese goldschürfende Arbeit nicht hienieden geschieht, muss sie drüben nachgeholt werden. Das ist der innerste Sinn der kirchlichen Lehre vom Fegfeuer. Die heilige katholische Kirche – so hat das Konzil von Trient gelehrt – lehrt, aufgrund der Heiligen Schriften und der Überlieferung der Väter, dass es einen Reinigungsort gibt und dass die dort festgehaltenen Seelen durch die Fürbitten der Gläubigen und durch die Feier des Opfers des Altares Hilfe empfangen. Diese Wahrheit vom Fegfeuer ist in der nachkonziliaren Zeit weitgehend unterschlagen worden. Haben Sie, meine lieben Freunde, jemals – außer in dieser Kirche – eine Predigt über das Fegfeuer gehört? Haben Sie jemals einen Bischof einen Hirtenbrief über das Fegfeuer schreiben oder hören sehen? Nein, diese vergessene Wahrheit muss aus der Vergessenheit erweckt werden. Wir dürfen die Wahrheit Gottes nicht unterschlagen. Es gibt einen Läuterungszustand, in dem die Seelen der Abgeschiedenen in schmerzhafter Weise gereinigt werden, damit sie den Zugang in die ewige Heimat finden. Dort, in diesem Reinigungszustand, müssen die Seelen in unvorstellbarer Pein alles wegräumen, was ihrer vollkommenen Liebe entgegensteht. Nur in schweren, tiefen Leiden kann diese Läuterung gelingen. Wir sehen es doch schon auf Erden: Nur die Menschen, die selbst etwas durchmachen, durchgemacht haben an Seele und Leib, sind reif und aufgeschlossen für eine wahre Liebe. Wer nicht gelitten hat, was weiß denn der? Freilich, nicht jedes Leid wirkt reifend und läuternd, aber jede Seele, die reif und lauter geworden ist, ist durch das Leid gegangen. Jeder Mensch, der ein herzliches und inniges Du sprechen kann, hat es gelernt in Stunden, wo er sein eigenes Ich nur noch weinend aussprechen konnte. So gehört das Fegefeuer zu den letzen Dingen. Es ist ein Trost, dass es auch nach dem Tode noch eine Frist gibt – vielleicht eine unvorstellbar lange –, aber eine doch einmal zu Ende gehende Frist, die es uns ermöglicht, durch alle irdischen Trübungen und Hemmungen vorzudringen zu dem großen und ewigen Geheimnis der ganz reinen, der ganz lauteren, der vollkommenen Liebe. Die Lehre vom Fegfeuer soll uns aufrütteln und ermutigen. Sie soll uns treiben, dass wir in unseren Sünden und Schwächen nicht erschlaffen. Sie soll uns trösten, dass wir in unseren Sünden und Schwächen nicht verzagen.

Meine lieben Freunde, möchten wir doch am heutigen Sonntag unsere Sehnsucht nach dem Himmel erneuern. Möchten wir auch unsere Entschlossenheit erneuern, alles zu tun, was notwendig ist, um das Ziel des Himmels zu erreichen, und alles zu vermeiden, was uns davon abhält. „Das hab ich mir vorgenommen: In den Himmel will ich kommen. Mag es kosten, was es will, für den Himmel ist nichts zu viel.“ Was kostet es? Es kostet die Einübung in die selbstvergessene Liebe. „Mensch, in das Paradies kommt man nicht unbewehrt. Willst du hinein, du musst durch Feuer und durch Schwert!“, so hat unser schlesischer Dichter Angelus Silesius einmal geschrieben. Mensch, in das Paradies kommt man nicht unbewehrt. Willst du hinein, du musst durch Feuer und durch Schwert! In Rom gibt es in einer Kirche das Grabmal eines Kardinals. Auf diesem Grabmal ist eine Inschrift angebracht, und die lautet: „Ut moriens viveret vixit ut moriturus.“ Damit er nach dem Tode zu leben anfange, lebte er wie einer, der weiß: Ich muss sterben, sich selbst absterben, der Selbstsucht entsagen, Gott lauteren Herzens dienen. Aber wenn wir das tun, meine lieben Freunde, dann dürfen wir hoffen. „Wenn du nur ernstlich willst, so ist der Himmel dein. Wie unermesslich reich kann auch der Ärmste sein!“

Amen.

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