Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Die Begleiter der Passion (Teil 2)

8. Februar 2015

Judas

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Kennen Sie den Ausdruck „Abgefallene“? Er bezieht sich auf Menschen, die durch die Gnade und die Nähe Gottes gesegnet waren und darauf verzichtet haben. Unser Heiland sagt von ihnen im Gleichnis vom Sämann: „Sie haben keine Wurzeln.“ Wir nennen diese Menschen abgefallene Katholiken, wohl auch Abtrünnige. An solchen besteht kein Mangel. Ein sehr bekannter Abgefallener trug den Namen Adolf Hitler. Am 27. Februar 1942 sah er in der katholischen Religion einen „satanischen Aberglauben“, und am 19. Dezember 1941 bezeichnete er die Kirche als „die organisierte Lüge“. Ein Abgefallener umgibt sich mit Abgefallenen. In der Hitlerumgebung gab es nicht einen einzigen praktizierenden Katholiken, wohl aber eine Reihe von Abgefallenen. Sein oberster militärischer Berater, der Generaloberst Jodl, war ein abtrünniger Katholik; der Propagandaminister Joseph Goebbels war ein abgefallener Katholik; der Reichsführer SS Heinrich Himmler war ein abgefallener bayerischer Katholik. Besonders schmerzlich ist der Abfall immer, wenn er von einem Priester vollzogen wird. Denn Christus liefert sich ja dem Priester in gewisser Hinsicht aus, er vertraut sich ihm an und gibt sich ihm preis. Leider sind Abfälle von Priestern nicht selten. Es gab einmal einen Reichsgrafen Paul von Hoensbroech, einen Verwandten des Mainzer Bischofs Ketteler. Er war zunächst Verwaltungsbeamter, dann trat er in den Jesuitenorden ein, bis er aus dem Verband wieder austrat, zum Protestantismus abfiel und jahrzehntelang ein erbitterter Feind der katholischen Kirche war, mit vielen Büchern diese Kirche schmähte, in zahllosen Vorträgen über sie herfiel. Ihm sind so manche Priester und Ordensleute gefolgt. Ich nenne beispielsweise Joseph Schnitzer, Hugo Koch, Leonhard Fendt, Friedrich Heiler, um nur die Bekanntesten zu nennen. Noch niemand, meine lieben Freunde, hat den Leib Christi, seine Kirche aus einem vernünftigen Grunde verlassen. Das Erste Vatikanische Konzil hat erklärt: „Wer den katholischen Glauben einmal unter der Leitung der Kirche angenommen hat, kann niemals einen triftigen Grund haben, diesen Glauben zu wechseln oder in Zweifel zu ziehen.“ Aus welchen Gründen verlassen die Menschen die Kirche? Um des Hochmuts, um des Reichtums, um der Fleischeslust willen, um Dinge willen, die als Ersatz für Gott dienen. Und das zeigt sich am besten am Beispiel des Judas, des einzigen Mannes im Evangelium, der unseren Heiland um des irdischen Besitzes willen verließ und von dem unser Herr sagt: „Es wäre besser für ihn, er wäre nicht geboren.“

Eines Tages wurde in Kariot ein Kind geboren. Freunde und Verwandte kamen mit Geschenken, denn er war ein Kind der Verheißung. Unweit davon wurde ein anderes Kind geboren, in Bethlehem. Auch zu ihm kamen Männer mit Geschenken, denn auch er war ein Kind der Verheißung. Beide Knaben wuchsen heran. Und eines Tages begegnete der Mann aus Bethlehem dem Mann aus Kariot. Und unser Herr erwählte ihn zu seinem Apostel. Er war der einzige aus Judäa stammende Apostel, die anderen waren Galiläer. Und da die Judäer in Geldsachen besser beschlagen waren als die Galiläer, wurde ihm die Kasse anvertraut. Er erhielt das Geld zur Verwahrung. Wahrscheinlich war er für diese Aufgabe von Natur aus besser geeignet als andere. Einem Menschen eine Tätigkeit zu geben, die ihm von Natur aus liegt, sollte ihn vor Abfall, Entfremdung und Unzufriedenheit bewahren. Aber andererseits kommen die Versuchungen des Lebens oft gerade durch Dinge, die uns am meisten liegen. Zuerst muss ein inneres Versagen vorliegen, ehe ein äußeres möglich ist. Judas war geizig. Der Geiz ist eine schwere Sünde. Denn während andere Sünden mit der Zeit schwächer werden, bleibt der Geiz immer lebendig, kann sogar wachsen. Der Geiz des Judas zeigte sich, als im Hause des Simon ein ungeladener Gast kam, eine Frau, die Salböl über die Füße des Herrn schüttete und es mit ihren Haaren trocknete. Das ganze Haus war erfüllt vom Wohlgeruch des Salböls. Judas saß mit am Tische. Er wusste, wie nahe der Verrat des Herrn war; die Frau wusste, wie nahe sein Tod war. Er heuchelte den Schein des Wohltätigen. Er gab vor, erzürnt darüber zu sein, dass man das Salböl nicht verkauft und den Armen den Erlös gegeben hätte. „Das sagte er aber nicht“, schreibt Johannes in seinem Evangelium, „weil ihm an den Armen lag, sondern weil er ein Dieb war und das, was in die Kasse eingelegt wurde, für sich behielt.“ Unserem Herrn, den Judas gekränkt hatte, hat es nicht angefallen, Kränkung mit Kränkung zu vergelten. Er sagte nur mit einem Worte der Zartheit und der Sanftmut: „Lasst sie!“ Ein solcher Dienst an der göttlichen Liebe konnte keine Verschwendung sein. Es wird immer Menschen wie Judas geben, die Anstoß nehmen am Reichtum, der Christus in seiner Kirche dargebracht wird. Meine lieben Freunde, wenn ein Mann seiner geliebten Frau Juwelen schenken kann, ohne Ärgernis zu erregen, warum kann dann die Kirche ihren Besitz nicht dem Herrn als Zeichen ihrer Hingabe weihen? Ich habe einmal den Vorwurf von protestantischer Seite gelesen, die Kirche nutze und beute ihre Glieder aus, indem sie Geld und Gaben für kostspielige Gotteshäuser von ihnen einfordert. Es ist wahr: Kirchen werden errichtet, um Gott zu ehren; sie sind Weihegeschenke – von daher erklärt sich der Aufwand, der mit ihnen betrieben wird. Jahrhunderte haben Christen an großen Domen gebaut. Der Kölner Dom wurde erst im 19. Jahrhundert fertig, obwohl er im 13. begonnen wurde. Aber was Gott geschenkt wird, kommt den Menschen zugute, denn Gott sieht gnädig auf die Opfergaben, mit denen die Bauten finanziert werden. Gott sieht gnädig auf die Steinmetze, Maurer und Zimmerleute, die den Bau in die Höhe ziehen. Und wenn er fertig ist, dient er den Gläubigen zur Erbauung und Erhebung, zur Freude an Gott. Wie viele Millionen mögen sich schon erfreut haben an den Rokokokirchen in Steingaden und Rottenbuch in Bayern. Wie viele mögen eine Ahnung von der Majestät Gottes gewonnen haben in den Domen, die an der Elbe und am Rhein stehen. Unser Herr lobte die Frau und sagte, dass sie ihn für sein Begräbnis salbe. Judas war entsetzt: Er sollte also sterben.

Kurze Zeit darauf, am Mittwoch in der Osterwoche, teilte der Herr den Aposteln mit, was geschehen werde: „Ihr wisst, dass in zwei Tagen Ostern ist. Da wird der Menschensohn ausgeliefert und gekreuzigt werden.“ Christus würde gekreuzigt werden – das war sicher. In dem allgemeinen Zusammenbruch wollte Judas noch etwas für sich haben. „Hierauf ging einer von den Zwölfen, der Judas Iskariot hieß, zu den Hohenpriestern und sprach: ,Was wollt ihr mir geben, wenn ich ihn euch ausliefere?‘ Sie aber setzten für ihn 30 Silberlinge fest“ – 70 Euro. Achthundert Jahre zuvor hatte Zacharias prophezeit: „Gefällt es euch, so gebt mir den Lohn, wo nicht, lasst es. Da wogen sie mir den Lohn von dreißig Silberlingen ab.“ Der die Gestalt eines Knechtes angenommen hatte, wurde um den Preis eines Sklaven verkauft. Verrat muss stets bezahlt werden, meine lieben Freunde. Der Verrat verlangt seinen Lohn. So ist es immer gewesen. Der zum Luthertum abgefallene Herzog Moritz von Sachsen trat 1546 in ein Bündnis mit dem katholischen Kaiser Karl V. und nahm am Schmalkaldischen Krieg gegen seine eigenen Glaubensgenossen teil. Zur Belohnung für den Verrat erhielt er das Kurfürstentum Sachsen. Zum Dank schloss er sich einer Verschwörung gegen den Kaiser an, lieferte die Städte Metz, Toul, Verdun, Cambrai den Franzosen aus und griff den Kaiser an und zwang ihn zur Flucht aus Innsbruck. Dieser Mann trägt zu Recht den Namen „der Judas von Meißen“, dem ihm seine Zeitgenossen gegeben haben – der Judas von Meißen.

Am nächsten Abend, nachdem der Heiland beim letzten Abendmahl sein Testament verkündet und uns das vermacht hatte, was noch kein Sterbender je hinterließ, nämlich sich selbst, da wurde er in seinem Inneren erschüttert und sprach: „Ich sage euch: Einer von euch wird mich überliefern.“ Da sahen die Jünger einander an, ratlos, von wem er rede. Es war noch kein Verdacht auf den Judas gefallen; er hatte sich vorsichtig verhalten. Johannes wagte zu fragen: „Herr, wer ist es?“ Da antwortete Jesus: „Der ist es, dem ich den Bissen eintauchen und geben werde.“ Er tauchte den Bissen ein und gab ihn dem Judas. Und nachdem er den Bissen genommen hatte, fuhr der Teufel in ihn. Jetzt ergriff der Satan ganz von ihm Besitz. Kein Gewissen, meine lieben Freunde, ist rein vor dem Angesichte Gottes. Niemand kann seiner Unschuld sicher sein. Als Judas fragte: „Bin ich es, Rabbi?“ antwortete der Herr: „Du hast es gesagt.“ Da ging Judas hinaus, und es war Nacht. Es ist immer Nacht, wenn sich jemand von Gott abwendet! Man kann fragen: Warum hat Jesus einen Mann zum Apostel erwählt, von dem er wusste, dass er ihn verraten wird? Die Antwort lautet: Ohne Judas kein Kreuz; ohne Kreuz keine Erfüllung des Heilsplanes. Wenn Jesus für das Heil der Menschen sterben sollte, musste einer da sein, der ihn der Macht auslieferte, die allein das Todesurteil verhängen konnte, nämlich den Römern. Judas hat eine unverzichtbare Stelle im Heilsplan Gottes. Zu diesem Verständnis passt es, dass Jesus beim Letzten Abendmahl Judas aufforderte: „Was du tun willst, tue bald!“ Diese Aufforderung zeigt, dass Jesus von dem Verrat nicht überrascht wurde, sondern freiwillig in den Tod ging. Jesus ist nicht das widerstrebende Opfer, sondern er ist der Herr des Passionsgeschehens. Judas ist lediglich das Werkzeug. Das Werkzeug des Vaters, der Jesu Erhöhung durch sein Sterben wirkt. Weil Jesus in allem dem Willen des Vaters gehorsam war, hat er Judas aufgefordert, die Tat zu vollbringen, die seinem verräterischen Willen entsprungen ist –der Verräter verlässt den Saal. Im Laufe der Geschichte, meine Freunde, haben viele „Judasse“ am Tisch gesessen mit ihren Freunden und Vertrauten, haben harmlos mit ihnen geplaudert, ihr Herz erleichtert, ohne zu wissen, dass ein Verräter unter ihnen war. In der Zeit des Zweiten Weltkrieges versammelten sich in Stettin im Pfarrhaus katholische Männer mit den drei Priestern. Man sprach über den Glauben, wollte den Glauben vertiefen, führte religiöse Gespräche. Natürlich kamen auch die Verfolgungsmaßnahmen des Regimes zur Sprache. Unter den Teilnehmern tat sich ein österreichischer Ingenieur hervor. Eines Tages wurden die drei Priester verhaftet, vor Gericht gestellt, zum Tode verurteilt und hingerichtet. Der österreichische Ingenieur hatte alle Gespräche aufgezeichnet und der Geheimen Staatspolizei überliefert.

Judas nahm den Bissen und ging hinaus; es war Nacht. Einige Stunden später, nachdem Judas den Abendmahlsaal verlassen hatte, führte er eine Rotte Soldaten hinab in den Ölgarten. Obwohl der Vollmond schien, wussten die Soldaten nicht, wen sie verhaften sollten und wo er sich befand. Deswegen baten sie Judas, ihnen ein Zeichen zu geben, und „dieses Zeichen“, sagte Judas, „wird sein: Den ich küssen werde, der ist es.“ Nachdem der Kedron-Bach überschritten war, trat Judas in den Garten, legte seine Arme um den Herrn und versenkte seine Lippen mit einem Kuss. Nur ein Wort bekam er zu hören: „Freund, wozu bist du gekommen?“ Es war das letzte Mal, dass Jesus zu Judas sprach. Nur Judas wusste, wo der Herr nach Hereinbrechen der Finsternis zu finden war; die Soldaten wussten es nicht. Christus ist in seiner Kirche immer den Händen seiner Feinde ausgeliefert – seiner inneren Feinde! Es sind die schlechten Katholiken, die ihn verraten. Nicht durch seine äußeren Feinde wird der Sache Christi der größte Schaden zugefügt, sondern durch diejenigen, die in seine heilige Gemeinschaft aufgenommen und den Glauben angenommen haben. Das Ärgernis der Abgefallenen bietet den Feinden die gewünscht Gelegenheit, anzugreifen. Die Feinde verrichten das blutige Werk der Kreuzigung, aber diejenigen, die in Christi Gemeinde gelebt haben, bereiten ihnen den Weg. So ist es auch in der Geschichte weitergegangen, meine lieben Freunde. Abgefallene Priester berieten in der Zeit des Dritten Reiches die Partei und die Behörden, wie sie der Religion und der Kirche am wirksamsten schaden können. Ich erinnere an den ehemaligen Theologieprofessor Eduard Winter; ich erinnere an Albert Hartl im Reichssicherheitshauptamt – ehemalige Priester. Hitler selbst, der ja ein abgefallener Katholik war, war stolz darauf, er wisse, wie man der Kirche schaden könne. „Nur ein Katholik wie ich“, sagte er, „kennt die schwachen Punkte der Kirche. Ich weiß, wie man den Brüdern beikommen muss“ – wörtliche Äußerungen von Adolf Hitler. Judas war eifriger für die Sache der Feinde tätig als für die seines Herrn. Menschen, die ihm gleich die Kirche verlassen, versuchen ihr unruhiges Gewissen durch Angriffe gegen die Kirche zu beruhigen. Da sie keine Ruhe finden, lassen sie den Führer ihres Gewissens nicht in Ruhe. Der Hass entspringt nicht ihrem Unglauben, sondern der Unglaube entspringt dem Hass. Die Kirche beunruhigt sie in ihrer Sündhaftigkeit, und sie glauben, ungestraft sündigen zu können, wenn sie die Kirche zum Schweigen bringen, wenn sie ihre Diener umbringen.

Aber warum geht dem Verrat ein Kuss voraus? Weil der Verrat an Gott ein so verabscheuungswürdiges Verbrechen ist, dass ihm stets eine Geste der Zuneigung vorausgehen muss. Wie oft hören wir in Gesprächen zunächst ein lobendes Wort über die Kirche, aber dann wird giftiger Spott und Hohn über sie ausgegossen. Wieviele Menschen greifen die Glaubenswahrheiten angeblich nur an, um die Lehre der Kirche rein zu erhalten. Wenn sie ihre Strenge und Unbeirrbarkeit tadeln, tun sie es angeblich, weil sie die Freiheit erhalten wissen wollen. Wenn sie der Kirche vorwerfen, sie sei zu weltlich, dann spielen sie sich als Verteidiger der höchsten Ideale auf, obwohl noch keiner je gesagt hat, wie geistlich sie sein muss, damit sie sich ihr anschließen. Bei jeder Gelegenheit geht der Feindseligkeit gegen Gott eine Beteuerung der Achtung voraus: „Sei gegrüßt, Meister! Und er küsste ihn.“

Kaum war das Verbrechen begangen, als Judas schon den Abscheu in sich fühlte. In ihm brachen die tiefen Quellen der Reue auf. Aber wie so viele Menschen in unserer Zeit ging er mit seiner Reue an den falschen Ort. Er kehrte zu denen zurück, mit denen er geschachert hatte. Um 30 Silberlinge hatte er den Herrn verkauft – also etwa 70 Euro. Der Verrat an Gott steht nie im Verhältnis zu dem, was man dafür erhält. Am Ende sind wir immer betrogen, wenn wir Christus verkauft haben, sei es im Interesse unseres Vorwärtskommens, unserer Bequemlichkeit oder sei es um des Geldes willen. Kein Wunder, dass Judas die 30 Silberlinge denen zurückbrachte, die sie ihm gegeben hatten. Er warf sie ihnen vor die Füße; er schleuderte sie in den Tempel: „Ich habe gesündigt, da ich unschuldiges Blut verraten habe.“ Und wonach er sich am meisten gesehnt hatte, das wollte er nicht mehr. Der Glanz des Geldes war verblichen. Judas gab das Geld zurück. Aber die Menschen werden nicht dadurch gerettet, dass sie aufgeben, was sie besitzen, sondern dass sie aufgeben, was sie sind. Der Oberpriester erwiderte ihm eiskalt: „Was geht das uns an? Sieh du zu.“ Man liebt den Verrat, aber man verachtet den Verräter.

Es genügt nicht, von der Sünde angewidert zu sein, wir müssen sie auch bereuen. Das Evangelium berichtet: „Da nun Judas, der ihn verraten hatte, sah, dass er zum Tode verurteilt war, reute es ihn.“ Judas bereute, aber nicht gegenüber Christus, es reute ihn, das bedeutet nur Hass gegen sich selbst. Sich selbst zu hassen aber ist der erste Schritt zum Selbstmord. Hass gegen sich selbst ist nur heilsam in Verbindung mit Liebe zu Gott. Enttäuschung und Ekel können ein Schritt näher zur Religion sein, aber sie sind noch nicht Religion. Mancher glaubt, Gott zu lieben, weil das Leben nicht alles gehalten hat, was es versprach. Manche sehnen sich nach dem Irdischen, aber es hat sich als trügerisch erwiesen. Sie beginnen die Eitelkeit der Welt zu erkennen: Niedergeschlagenheit, Sorge, Krankheit, Enttäuschung haben sie sich nach und nach von der Welt abkehren lassen. Sie verwechseln Weisheit mit Übersättigung. Sie halten sich für rein, weil sie keine Versuchungen mehr haben; sie beurteilen die Tugenden nach den Lastern, deren sie sich enthalten; sie kümmern sich nicht mehr um die Zustimmung oder Ablehnung der Welt. So kommt es, dass sie in der Religion einen Trost suchen. Sie beginnen die Gebote zu halten, weil sie keinen besonderen Grund haben, es nicht zu tun. Geben das Trinken und andere Laster auf, weil sie ihrer Gesundheit schaden. Ihre Güte ist im Grunde Trägheit. Sie bereuen, aber nur sich selbst gegenüber, sie tun sich selbst leid, nicht weil sie Gott beleidigt haben.

Wann begann der Verrat des Judas? Zum ersten Mal lesen wir über den beginnenden Verrat an dem Tage, an dem der Heiland erklärte, dass er sich selbst der Welt in der Eucharistie hinterlassen werde. In dem Bericht über die Eucharistie ist die Angabe eingeflochten, dass der Herr wusste, wer ihn verraten würde. Er hatte gerade angekündigt, dass er im Brot verborgen sich der Welt gegenwärtig halten würde: „Wie mich der lebendige Vater gesandt hat, und ich durch den Vater lebe, so wird auch der, der mich isst, durch mich leben. Wer dieses Brot isst, wird leben in Ewigkeit.“ Aber der Herr wusste auch, was in den Seelen der Menschen, die ihn anhörten, vorging, und fuhr daher fort: „Es sind einige unter euch, die nicht glauben.“ Und das Evangelium setzt hinzu: „Jesus wusste von Anfang an, welche nicht glauben und ihn verraten würden.“ Der wirkliche Verrat fand dann am gleichen Abend statt, an dem Jesus die Eucharistie einsetzte, indem er uns das gab, was er für das Leben der Welt zu geben versprochen hatte. Es waren also nicht nur materielle Dinge, um deretwillen sich Judas von Jesus entfernte, auch seine seelische Verfassung schlug nicht mehr im Gleichklang mit Jesus; er fand es zu viel, was ihm der Herr da zumutete: sein Fleisch essen, sein Blut trinken. Wie soll das geschehen? Vielleicht war er ein Rationalist. Kein Teil des Evangeliums enthüllt so stark wie die Tragödie des Verräterapostels die Macht einer Leidenschaft, den Charakter einzuspinnen, zu fesseln, in Besitz zu nehmen und zu verderben. Welche religiösen Eindrücke hätten stärker sein können als das Beispiel des Herrn, seiner Worte, seiner Taten, seines Wesens, das Beispiel eines unvergleichlichen Lebens. Aber Judas entzog sich ihnen.

So können auch wir, die wir ihn kennen und seine Wahrheit besitzen und sein Leben in uns aufnehmen, so können auch wir ihn mehr verwunden als diejenigen, die ihn nicht kennen. Wir werden vielleicht nie offen die Rolle des Verräters spielen, sondern in einer mehr unauffälligen Weise wie der Kuss des Judas durch unser Schweigen, wenn wir sprechen sollen, durch unsere Furcht vor Spott, wenn wir bekennen sollen, durch Kritik, wenn wir Zeugnis ablegen sollen, durch Achselzucken, wenn wir unsere Hände im Gebet falten sollen. Und dann kann der Heiland uns fragen: „Freund, wozu bist du gekommen? Mit einem Kusse verrätst du den Menschensohn?“ Viele Erklärer der Heiligen Schrift sind überzeugt, dass Habsucht und Unglaube nicht zureichen, um das Verhalten des Judas zu erklären. Sie suchen ein weiteres Motiv für seinen Abfall. Sie meinen, Judas habe sich von der Sendung Jesu getrennt. Er habe sich dem Weg und Wollen Jesu gegenüber immer mehr skeptisch verhalten. Er sei an seinem religiösen Messiastum irre geworden, habe die Hoffnung vieler geteilt – anfangs geteilt –, Jesus werde die Herrlichkeit des Davidischen Reiches wiederherstellen, und dann werde er einen hohen Posten erlangen, er werde ein politischer Messias sein. Als er sich darin enttäuscht sah, habe er Jesus seine Treue aufgekündigt. Wir wissen nicht, ob der Verrat des Judas in seinem Sinneswandel vom Gefolgsmann Jesu zum politischen Gegner Jesu wurzelt – unmöglich ist es nicht, aber die Evangelien schweigen darüber.

Judas beobachtete, was mit Jesus geschah. Er erlebte, dass er zum Tode verurteilt wurde. Er muss sterben, sagte Kaiphas, damit das Volk leben kann. Und dann ging er in das Tal von Hinnom hinab, dieses Tal schauderhafter Erinnerungen, dieses Tal Gehenna der Zukunft. Er schritt über den kalten, steinigen Boden zwischen rauen Felsen und verkrüppelten Ölbäumen, die seiner gequälten Seele glichen. Ein einziger Gedanke beherrschte ihn: sich von sich selbst zu befreien. Alles schien gegen ihn zu zeugen. Der Staub war gleichsam wie sein Schicksal. Die Felsen waren wie sein Herz. Die Bäume schienen zu sprechen, ihre Äste waren wie anklagende Arme und drohende Finger. Die Blätter schienen im Protest zu rauschen, dass sie Zeuge waren seiner zwecklosen Selbstzerstörung. Sie schienen sich zuzuflüstern, dass die Bäume bis ans Ende der Weltzeit vor Scham zittern würden. Dann nahm er den Strick von seinem Gürtel, warf ihn über einen starken Ast und befestigte das eine Ende um seinen Hals. Der Wind schien ihm das Echo der Worte zuzutragen, die er einmal aus dem Munde des Herrn gehört hatte: „Kommet alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.“ Er bereute, aber er bereute nur um seiner selbst willen, nicht um Gottes Willen. Und als die Sonne sich verdunkelte, gingen zwei Bäume auf zwei entgegengesetzten Hügeln Sions für immer in die Geschichte ein: einer als Zeichen der Hoffnung auf Kalvaria, einer als Zeichen der Verzweiflung im Tal von Hinnom. An einem hing er, der Himmel und Erde vereinte, am anderen der, der von beiden nichts wissen wollte.

Amen.

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