Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Die Letzten Dinge (Teil 3)

7. Dezember 2014

Es muss doch etwas geben

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wir alle wissen: Es gibt Menschen, die leben, als ob es Gott nicht gäbe. Sie denken nicht an ihn, sie beten nicht zu ihm, sie fragen nicht nach seinem Willen. Aber auch wenn die Menschen Gott vergessen, Gott vergisst die Menschen nicht. Unter irgendeiner Chiffre meldet sich das verdrängte Wissen um Gottes Wirklichkeit: in einer ruhigen Stunde, in der Einsamkeit, wenn die Schminke abgenommen ist und ein müdes Antlitz im Spiegel die Trauer verrät, wenn die Vergnügen schal werden, wenn der Ekel aufsteigt, weil man sich verloren hat, wenn die Scham drückt, weil man alle Würde vergaß. Oder auch, wenn alle Wünsche in Erfüllung gegangen sind, aber das Herz leer blieb, wenn alle Geschäfte glückten, aber der Mensch nicht satt wurde, dann kann es geschehen, dass die Seele schmerzt und blutet. Dass sich aus ihr die Klage erhebt und das Weinen. Dass dann durch alle Berge von Schutt sich die Ahnung durchkämpft: Es muss doch etwas geben, etwas anderes, etwas größeres, etwas erfüllenderes als die Erde und ihre glitzernde Armut. Es muss doch eine Wirklichkeit sein, die alle Nichtigkeiten meines Lebens aufzuwerten vermag, die allem Treiben und Hetzen, allem Streiten und Kämpfen, allem Leiden und Quälen einen Sinn gibt, ein großes Ziel, einen letzten Zweck. Es muss doch etwas da sein, für das zu leben sich lohnt. Es ist nicht leicht, sich als Gläubiger in die seelische Lage eines Ungläubigen zu versetzen. Vor allem ist es nicht einfach, zu erkennen, unter welchen Wendungen die Ahnung eines Höheren, die Unzufriedenheit mit dem Zustand des Unglaubens sich ausdrückt. Oft ist es zögernd, dass sich dieses dumpfe Ahnen einer höheren Wirklichkeit emporringt bei denen, die nicht mehr den Glauben ihrer Kindheit bewahrt haben. Eine dieser Wendungen lautet: Es muss doch etwas geben. Mit diesem „etwas“, das da nach der Meinung der Ungläubigen, der Zweifelnden, der Unsicheren unbedingt da sein muss, tut sich kund, dass sie nach einer letzten Begründung ihres Lebens suchen. Vor allem bei drei Gelegenheiten ringt sich die Ahnung einer jenseitigen Wirklichkeit in den Menschen hoch. Nämlich einmal: wenn sie die Welt betrachten, zum anderen: wenn sie an ihre Schuld denken, und zum Dritten: wenn der Tod ihnen begegnet.

Der Königsberger Philosoph Immanuel Kant schreibt in seiner „Kritik der praktischen Vernunft“: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und nachhaltiger sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir.“ In der Tat: Das Weltall stellt den nachdenklichen Menschen unausweichlich vor die Frage: Woher kommt denn das? Warum ist etwas da? Warum ist nicht nichts? Wenn man unter dem bestirnten Himmel, unter dem nächtlichen Himmel steht, meine lieben Freunde, da sieht man die Sterne aufsteigen – ein unermessliches Heer. Und doch sieht das unbewaffnete Auge nur einen verschwindend kleinen Bruchteil. Mit bloßem Auge können wir etwa 3000 Sterne erkennen. Mit dem Fernrohr kann man die Helligkeit von 500 000 Sternen berechnen. Die Gesamtzahl der Sterne ist unbekannt – sie geht in die Milliarden und Billionen. Der uns nächste Fixstern ist der Stern Proxima Centauri. Dieser Stern ist von uns 4,2 Lichtjahre entfernt. Das Lichtjahr aber ist die Entfernung, die der Lichtstrahl mit seiner Geschwindigkeit von 300 000 km/s in einem Jahr zurücklegt. Die nächste Weltinsel ist der Adromedanebel. Er ist von uns 1 600 000 Lichtjahre entfernt. In unsere Sonne passt die Erde 1 297 000 mal. In dem Stern Epsilon Aurigae finden 20 Milliarden Sonnen Platz – ungeheure Ausmaße, unbegreifliche Zahlen, endlose Räume, unfassbare Mengen. Und das soll von selbst entstanden sein? Der Unglaube verbietet, danach zu fragen, weil er keine Antwort hat. Jede Wirkung hat eine Ursache. Wir müssen uns jedes Werk auf Erden mühsam abringen. Kant hat ja bekanntlich ein Denkverbot erlassen. Das Kausalgesetz, sagt er, gilt nur innerhalb der Erfahrung, nur innerhalb der Physik, nicht innerhalb der Metaphysik. Wir lassen uns das Denken von Kant nicht verbieten. Wir sind überzeugt, dass das Kausalgesetz immer und überall gilt, also auch für das Weltall. Das Weltall trägt doch gar keine Züge des Unendlichen und Ewigen. Es ist in dauernder Bewegung, es weitet sich unermesslich aus, es genügt sich selbst nicht. Es ist kontingent, wie die Philosophie sagt, d.h. es trägt den Grund seiner Existenz nicht in sich selbst. Die Vernunft – nicht schon der Glaube – die Vernunft sagt uns: Das Werk ruft nach dem Werkmeister. Die Bewegung ruft nach dem ersten Beweger. Die Ordnung ruft nach dem überlegenen Ordner. Der Gedanke, das alles könnte von selbst entstanden sein, ist viel rätselhafter als die Auskunft, die uns der Glaube gibt, nämlich dass ein Schöpfer die unermessliche Welt erschaffen hat. Die größten Geister der Physik waren überzeugt: Gott steht hinter dem Universum. Eine unendliche, personale Macht voller Weisheit hat alles, was ist, hervorgebracht. Ein mathematischer Geist hat die Natur und ihre Gesetze geschaffen. Die Ahnung des Menschen: es muss doch etwas geben, die Ahnung trügt nicht. Vernunft und Glaube konvergieren zu der Erkenntnis, die der 18. Psalm ausspricht: „Die Himmel künden des Ewigen Ehre.“ Sein unsichtbares Wesen, seine ewige Macht und Herrlichkeit wird seit Erschaffung der Welt in seinen Werken erkennbar. Aus der Größe und Schönheit der Schöpfung kann man schlussweise den Schöpfer erkennen. Das All ist eine Fußspur Gottes. Das Universum ist ein Gedanke Gottes. Es wird berichtet, dass ein ungläubiger französischer Forscher in der Wüste mit seinen arabischen Dienern unterwegs war. Und er wollte sie, die ja gläubig waren, von seinem Unglauben überzeugen. „Ja, hast du Gott schon einmal gesehen?“ Der Araber gab keine Antwort. Aber als sie am nächsten Tage aus dem Zelte krochen und die Sonne aufging, da machte er den Forscher aufmerksam: „Sieh da, die Fußspur Gottes: die Sonne.“

Es gibt, meine lieben Freunde, die Schuld. In rätselhafter Weise spürt der Mensch, dass er gegenüber einem Sollen, das aus seinem Inneren aufsteigt, zurückgeblieben ist. Die Scham, die er über sein Tun empfindet, klagt ihn an. Das Gewissen gebietet und verbietet, lobt und tadelt. Der Wille eines Überlegenen kündet sich im Gewissen an. Wer spricht im Gewissen? Da muss eine Ahnung im Menschen sein: Es muss doch irgendetwas geben, es muss doch irgendjemanden geben, der dieses Sollen in die Brust hineingelegt hat. Die Allgemeinheit und die Unaufhebbarkeit dieser Erscheinung rufen nach einer Erklärung. Es gibt auch im moralischen Bereich kein Gesetz ohne Gesetzgeber. Die Vernunft erschließt es, und der Glaube bestätigt es: Wer im Gewissen spricht, das ist Gott. Wer anklagt, das ist Gott. „Ganz leise spricht ein Gott in unserer Brust, ganz leise, ganz vernehmlich, zeigt uns an, was zu ergreifen ist und was zu fliehen“, so heißt es im „Tasso“ von Goethe. Man kann das Gewissen verbilden, und Unzählige tun es. Man kann es überhören, und viele überhören es. Man kann versuchen, es zum Schweigen zu bringen, aber man kann es nicht auslöschen. Keiner kann sagen, er habe Gott gesehen, aber auch keiner kann sagen, er habe ihn nicht gehört. Der Mensch, jeder Mensch erlebt sich als Schuldigen. Irgendwann einmal schlägt ihm das Gewissen, steht die ernste Frage auf: Was hast du getan? Die Schuld belastet, quält und drückt den Menschen. Er möchte von ihr freiwerden, aber er kann sich nicht selbst befreien. Auch kein anderer Mensch kann ihn befreien. Von den anderen Menschen gilt vielmehr das Wort Goethes: „Ihr lasst den Armen schuldig werden, und dann überlasst ihr ihn der Pein.“ Es muss doch etwas geben, das von der Schuld befreit. Die Menschen ahnen es, sie hoffen es, und ihre Ahnung und ihre Hoffnung geht nicht ins Leere. Es gibt etwas: Es gibt den barmherzigen Gott. Wer sich da nicht zurechtfindet, der gerät in Verzweiflung oder Wahnsinn. Ich habe gelesen, ein 16-jähriges Mädchen in Japan hat sich in einen Vulkan gestürzt, weil es mit seiner Schuld nicht zurechtkam. In Japan gibt es den Kegon Wasserfall. Von diesem Wasserfall haben sich schon Tausende von Japanern in den Tod gestürzt. Mehr junge Menschen im Alter von 15 bis 25 Jahren kommen in Japan durch Selbstmord ums Leben als durch irgendeine andere Todesursache. Der Glaube macht es zur Gewissheit: Es gibt etwas, das die Schuld hinwegnimmt. Es ist das Lamm Gottes! „Seht da, das Lamm, das hinwegnimmt – hinwegträgt – die Sünden der Welt“, weil es sie auf sich nimmt. „Wären eure Sünden rot wie Scharlach, weiß sollen sie werden wie Schnee. Wären sie rot wie Purpur, weiß sollen sie werden wie Wolle“, das ist die Botschaft des Advents, das ist die Botschaft des Propheten Isaias. „Das Lamm löscht den Schuldschein, der wider uns lautete, aus, indem es ihn an das Kreuz heftete.“ Es gibt einen, der uns rettet von Sünde und Schuld. Wir nennen ihn den Heiland, den Erlöser. Wir haben als Kinder die nordischen Sagas gelesen. Eine dieser Sagas erzählt von einem Ehepaar, das in aller Stille an seinen Nachbarn einen Mordbrand verübte. Diesem Mordbrand fiel das Haus mit allen seinen Bewohnern zum Opfer. Um das Verbrechen voll zu machen, lenkten die beiden den Verdacht ihrer Tat auf ihren Pflegesohn. Er wurde vom Thing zum Tode verurteilt, gefesselt auf ein Boot gesetzt und ins Meer hinausgeschickt. Jahre vergingen. Da stand eines Tages Sigrid – so hieß die Frau – vor ihrem Manne und sprach: „Du weißt, was zwischen uns beiden steht und was sonst niemand von den Menschen weiß. Ich aber sage dir, dass ich es nicht länger tragen kann. Nun habe ich gehört, dass weit in der Welt ein anderer Glaube ist, als den wir haben. Sie nennen sich nach ihrem Gott, und der heißt ‚der weiße Christ‘. Und nun haben sie mir gesagt, wie dieser weiße Christ so barmherzig ist, dass er einem alles verzeiht, wenn einer Christ werden und seinen Glauben halten will. So will ich denn jetzt hinüber nach England, wo unser König (Olaf) gerade weilt. Und wenn ich alles so finde, wie es mir gesagt wurde, dann nehme ich den Glauben an, den sie verkünden. Mag sein, dass es dann gut wird. So jedenfalls tut es nicht gut, wie jetzt unsere Sachen stehen.“ Sigrid fuhr von Norwegen über das Meer und kehrte, von schwerer Schuld entsühnt, glücklich und froh als Christin zurück. Meine lieben Freunde, es gibt einen, einen einzigen, der die Schuld der Welt tilgt: den gnädigen Gott, reich an Erbarmen, der seine Allmacht an liebsten durch Nachsicht und Erbarmung offenbart. Niemand, der ernstlich bittet, findet die Pforten der göttlichen Barmherzigkeit verschlossen.

Wie oft stehen wir an Sterbebetten und an Totenbahren. Der Tod ruft Alte und Junge aus der Bahn. Solche, der das Leben hinter sich hatte, und andere, die es noch vor sich hatten. Menschen, die jahrzehntelang gearbeitet, gekämpft, gelitten haben und andere, die zeitlebens mit einem Minimum an Arbeit auskamen, denen alles glückte, die ihre Zeit mit Vergnügungen verbrachten. Die Lose auf dieser Erde fallen verschieden! Und dann soll alles aus sein? Dann soll es keinen Ausgleich geben für erlittene Schmerzen und für angetanes Unrecht? Dann soll es keine Vergeltung geben für Bosheit und Gewalt? Dann soll alles Wirken und Schaffen, alles Entbehren und Dulden umsonst gewesen sein? Nein. Angesichts des Todes drängt sich die Ahnung auf: Es muss doch etwas geben. Kant hat einen vergeltenden Gott postuliert. Es sagt, dass Gott existiert, ist ein „Postulat der praktischen Vernunft“. Warum? Nun ja, wenn man Gott nicht annimmt, dann erscheint das Sittengesetz und seine Befolgung sinnlos. Das „Kantische Postulat“ reicht aber nicht aus, um Gott zu beweisen. Es kann auch ins Leere laufen, und die Atheisten unserer Tage lassen sich von dem Postulat Kants nicht beunruhigen. Zu echter Gewissheit ist die Evidenz des Sachverhaltes erforderlich. Diese verschafft uns allein der lebendige Gott in seiner Offenbarung. Die Offenbarung sagt uns: Es gibt etwas über der Erde, über dem Gelde, über dem Genuss. Es gibt etwas über der Arbeit, über der Plage, dem Leid. Es gibt einen Gott, einen gerechten Vergelter. Einen Gott, der alles sieht, der alles weiß, der alles lohnt und alles straft. Es gibt einen Ausgleich im Jenseits! Es gibt ein Gericht, einen Himmel und eine Hölle, eine ewige Seligkeit und eine ewige Verdammnis. In den ersten Exerzitien, die ich als Priesterseminarist mitmachte, hat der Priester, der uns die Exerzitien hielt, ein Wort gesprochen, das ich nie vergessen habe. Dieses Wort lautet: „Wer auch nur einen Funken guten Willens hat, den wird Gott nicht verstoßen.“ Das ist keine Meinung des Priesters, das ist die Lehre der Kirche. Wer auch nur einen Funken guten Willens hat, den wird Gott nicht verstoßen. „Es gibt einen Gott, zu strafen und zu rächen“, sagt Schiller im „Wilhelm Tell“, aber es gibt auch einen Gott, zu lohnen und zu vergelten. Die Gewissheit, dass es etwas gibt über der Materie und der Energie, dass nicht bloß Erde und Weltall existieren, sondern dass über allem und in allem eine personale Wirklichkeit von selbstgenügsamer Macht steht, diese Gewissheit gibt uns Christus. Deswegen war vor seinem Kommen Advent – Erwartung. Jetzt ist er mit unübersehbarer Leuchtkraft gekommen, um uns die Wirklichkeit Gottes anzustrahlen. Er ist der Offenbarer. Er bringt die Kunde von dem, aus dem er hervorgegangen ist. Jetzt braucht Gott nicht nur geahnt, gefühlt, erschlossen zu werden, jetzt hat er sich gezeigt, „denn das Wort ist Fleisch geworden“.

Jeder Tag zeigt uns, wie haltlos die Menschen vor den Lockungen des Geldes und des Genusses stehen. Das ist die ewige Tragik der Weltgeschichte. Und es gibt nur ein einziges und ganz radikales Mittel dagegen: Das ist das Christentum. Wir brauchen Gnadenhaftes, wir brauchen Geoffenbartes, wir brauchen himmelhoch zu uns Geworfenes, die Sterne müssen zu uns kommen. Über dem Altar reckt der Gekreuzigte sich empor. Alle Not umklammert seine Füße. Es gibt Not, die keine Reform des Gesetzes lindert. Es gibt Leid, das kein Zukunftsstaat überwindet. Es gibt individuellen Schmerz des Leibes und der Seele, die kein Fortschritt der Medizin kuriert. Hier tröstet nur der gekreuzigte Gott. Hier heilt nur Christus. Dieser Christus aber, meine lieben Freunde, lebt in seiner Kirche. Ich weiß, dass der Wegweiser der Kirche die rechte Kompassrichtung weist, sie führt. Nur in dieser Richtung geht der Weg. Sie ist der Strom zum Weltmeer. Ob auch hüben und drüben noch Seen blinken, ob auch hüben und drüben noch Bäche rauschen, ob hüben und drüben die Sonne im Tau der Tropfen steht, sie ist der Strom. Sie ist der Hauch über alle Lüfte. Sie ist der Sturm über allen Winden. Sie ist das Licht über allen Feuern. Sie geht ihren Weg. In ihren Händen gegen alle Verwirrung, gegen alle Verblassung, gegen alle Verharmlosung den Herrn und Meister selbst, den lebendigen Christus durch die Jahrhunderte tragend. Der Nazarener steht irgendwo traumverloren zwischen den Dingen der Welt. Er ist aber doch ihre stärkste Realität.

Amen.

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