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Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Pre­digtreihe: Recht­fer­ti­gung aus Gnade (Teil 17)

16. Juli 2000

Der Zustand der Recht­fer­ti­gung

Im Namen des Vaters und des Soh­nes und des Hei­li­gen Geis­tes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Die­ser Tage las ich in einem Buch, das von einem evan­ge­li­schen Kir­chen­his­to­ri­ker über die Ereig­nisse des 16. Jahr­hun­derts, also über die soge­nannte Refor­ma­tion, in Thü­rin­gen geschrie­ben wurde. Er schil­dert mit erstaun­li­cher Offen­heit und mit Frei­mut, was der Abfall von der katho­li­schen Kir­che besagte: Nie­mand will mehr stif­ten, kei­ner will mehr spen­den, über­all gehen die Erträg­nisse für die Armen und für die Kran­ken und für die Brest­haf­ten zurück. Nicht ein­mal die Die­ner des Wor­tes (also die Geist­li­chen) haben genug zu essen und zu trin­ken, um ihre Fami­lie zu ernäh­ren. Das waren die Wir­kun­gen des Evan­ge­li­ums nach Mar­tin Luther. Er hatte näm­lich erklärt: Es braucht nur den Ver­trau­ens­glau­ben, und dann ist man geret­tet. Die guten Werke sind völ­lig uner­heb­lich für das Heil; man kann nicht durch gute Werke das Heil sicher­stel­len.

Diese Bege­ben­heit erzähle ich Ihnen, damit Sie nicht den­ken, unsere so lange andau­ern­den Über­le­gun­gen über die Recht­fer­ti­gung seien theo­re­ti­scher Kram, der für das prak­ti­sche Leben keine Aus­wir­kung hat. O ja! Die Theo­rie prägt die Pra­xis, die Lehre formt das Leben. Wie wir glau­ben, so han­deln wir, und des­we­gen ist es so wich­tig, den rech­ten Glau­ben zu haben, auch die rechte Lehre über die Recht­fer­ti­gung in uns zu bewah­ren.

Wir hat­ten am letz­ten Sonn­tag begon­nen, die Eigen­schaf­ten der Recht­fer­ti­gung zu beden­ken. Die erste Eigen­schaft, über die wir uns Gedan­ken mach­ten, war die Unan­schau­lich­keit. Der Recht­fer­ti­gungs­zu­stand ist ver­bor­gen; man kann ihn nicht sehen, nicht mes­sen, nicht wägen. Heute haben wir zwei andere Eigen­schaf­ten zu beden­ken, näm­lich

1. Der Recht­fer­ti­gungs­zu­stand ist dem Wesen nach gleich bei allen, aber dem Ver­wirk­li­chungs­grade nach ver­schie­den.

2. Der Recht­fer­ti­gungs­zu­stand kann wach­sen.

Beide Wahr­hei­ten sind vom Kon­zil von Tri­ent gegen Luther auf­ge­stellt und ans Licht gestellt wor­den; denn Luther erklärte: Die Recht­fer­ti­gung ist bei allen gleich, und sie kann weder zuneh­men noch abneh­men. Diese Irr­lehre wurde vom Kon­zil von Tri­ent in ent­schei­den­der Weise zurück­ge­wie­sen. „Wir neh­men“, so sagt das Kon­zil, „die Gerech­tig­keit in uns auf, jeder seine eigene nach dem Maß – nach dem Maß! –, das der Hei­lige Geist den ein­zel­nen zuteilt, wie er will, und ent­spre­chend der eige­nen Berei­tung und Mit­wir­kung eines jeden.“ Hier ist also die Ver­schie­den­heit der Recht­fer­ti­gung aus­ge­sagt. Auch das Wachs­tum wird deut­lich aus­ge­spro­chen: „So schrei­ten also die Gerecht­fer­tig­ten in wach­sen­der Tugend­kraft voran. Sie wer­den neu von Tag zu Tag, indem sie näm­lich die irdi­sche Lust in ihren Glie­dern ertö­ten und sie als Waf­fen der Gerech­tig­keit gebrau­chen zur Hei­li­gung durch Beob­ach­tung der Gebote Got­tes und der Kir­che. In die­ser Gerech­tig­keit, die sie durch Christi Gnade emp­fan­gen haben, wach­sen sie – wach­sen sie! – unter Mit­wir­kung des Glau­bens an ihren guten Wer­ken, und sie neh­men zu in ihrer Recht­fer­ti­gung nach dem Schrift­wort: Wer gerecht ist, soll noch gerech­ter wer­den. Laß nicht ab, bis zum Tode nach Gerech­tig­keit zu stre­ben, und wei­ter: Ihr seht, daß der Mensch aus den Wer­ken gerecht­fer­tigt wird und nicht nur aus dem Glau­ben. Um die­sen Zuwachs an Gerech­tig­keit bit­tet die hei­lige Kir­che, wenn sie betet: Mehre in uns, Herr, Glaube, Hoff­nung und Liebe!“

Um diese Wahr­heit ganz deut­lich den Gläu­bi­gen ein­zu­schär­fen, hat das Kon­zil noch zwei Lehr­sätze auf­ge­stellt, näm­lich: „Wer behaup­tet, die emp­fan­gene Gerech­tig­keit werde nicht bewahrt und auch nicht vor Gott ver­mehrt durch gute Werke, son­dern die Werke selbst seien nur Frucht und Anzei­chen der erlang­ten Recht­fer­ti­gung, nicht aber auch Ursa­che ihres Wachs­tums, der sei aus­ge­schlos­sen.“ Und an einer andere Stelle: „Wer behaup­tet, die guten Werke des Gerecht­fer­tig­ten seien in der Weise Geschenke Got­tes, daß sie nicht auch die guten Ver­dienste des Gerecht­fer­tig­ten selbst sind, oder der Gerecht­fer­tigte ver­diene nicht eigent­lich durch die guten Werke, die er in der Kraft der gött­li­chen Gnade und des Ver­diens­tes Jesu Christi tut, einen Zuwachs an Gnade, das ewige Leben und, wenn er im Gna­den­stand hin­über­geht, den Ein­tritt in das ewige Leben sowie auch nicht eine Meh­rung sei­ner Herr­lich­keit, der sei aus­ge­schlos­sen.“

Wir haben also zu beden­ken, daß der Recht­fer­ti­gungs­zu­stand zwar dem Wesen nach in allen Gerecht­fer­tig­ten gleich ist, aber sei­ner Ver­wirk­li­chungs­mög­lich­keit nach ver­schie­den ist. Der Recht­fer­ti­gungs­zu­stand ist gleich, das heißt: Alle, die gerecht­fer­tigt sind, die also im Zustand der hei­lig­ma­chen­den Gnade sind, alle sind mit dem Tode und der Auf­er­ste­hung Christi zusam­men­ge­wach­sen. Das Lei­den Christi hat sich in ihnen aus­ge­wirkt; sie sind des Heils­ver­diens­tes Christi teil­haf­tig gewor­den. Die Herr­lich­keit Got­tes glüht und leuch­tet in ihnen. Das ist die Gleich­heit des Gna­den­stan­des in den Gerecht­fer­tig­ten. Aber es gibt eine gra­du­elle, eine grad­mä­ßige Ver­schie­den­heit je nach der Auf­nah­me­be­reit­schaft. Je nach­dem, wie sich der Mensch öff­net für die Gnade, emp­fängt er eben mehr oder weni­ger. Eine sehr ein­fa­che und ein­leuch­tende Über­le­gung. Wer sich stär­ker dem Gna­den­ein­fluß öff­net, in dem wird die Got­tes­herr­lich­keit deut­li­cher her­aus­ge­ar­bei­tet, in dem wird die Welt­haf­tig­keit stär­ker zurück­ge­drängt. In einem sol­chen Men­schen wird die Durch­hel­lung und die Durch­glü­hung mit dem Feuer Got­tes und mit dem Lichte Got­tes viel offen­kun­di­ger als in einem ande­ren Men­schen. Wir haben es in unse­rer Hand, in der Gnade zu wach­sen, wenn wir uns mehr für den Ein­fluß, für das Ein­flie­ßen der Gnade öff­nen. Und wir kön­nen immer mehr in der Welt­haf­tig­keit zurück­ge­hen, die Welt­ver­fan­gen­heit zurück­drän­gen, je mehr wir uns vom Lichte Got­tes und vom Feuer Got­tes durch­glü­hen und durch­hel­len las­sen. Die­ses Wachs­tum in der Gnade wird in der Lit­ur­gie aus­ge­drückt, wenn die Kir­che betet um Wachs­tum, um Sieg, um Behü­tung, um Kräf­ti­gung. Es han­delt sich eben hier um eine Art Ana­lo­gie zu dem natür­li­chen Wachs­tum. So wie in der Natur ein Zweig zu einem Baum her­an­wach­sen kann, so kann auch der Mensch in der Gnade wach­sen.

Die Hei­lige Schrift bezeugt diese Zunahme, wenn sie uns meh­rere Gleich­nisse über­lie­fert, in denen von dem Wachs­tum die Rede ist. Der Herr erzählt das Gleich­nis von den Talen­ten. Der eine bekam zehn, der andere fünf, ein drit­ter eines. Hier wird ange­deu­tet, daß die Gna­den­gabe nicht in allen gleich ist, daß es Unter­schiede gibt je nach dem freien Wil­len Got­tes und nach der Auf­nah­me­be­reit­schaft, nach der Auf­ge­schlos­sen­heit des Men­schen. In einem ande­ren Gleich­nis schil­dert der Herr das Ver­hält­nis von Gott oder Chris­tus und den Gerecht­fer­tig­ten unter dem Bilde des Wein­stocks und der Reben. Da sagt er: „Jede Rebe, die Frucht bringt, rei­nigt er, damit sie noch mehr Frucht bringt.“ Hier ist also ein­deu­tig aus­ge­sagt, daß es ein Wachs­tum im Frucht­brin­gen gibt. Und schließ­lich, um noch ein drit­tes Bei­spiel zu erwäh­nen: Die Frau, wel­cher der Herr viele Sün­den ver­ge­ben hat, hat diese Ver­ge­bung des­we­gen erlangt, weil sie viel geliebt hat. Wer wenig liebt, dem wird weni­ger ver­ge­ben. Das Maß der Ver­ge­bung hat also sein Maß in der Liebe. Es gibt auch einige andere ganz deut­li­che Stel­len der Hei­li­gen Schrift, in denen das Wachs­tum in der Gnade aus­ge­spro­chen ist, etwa wenn es im zwei­ten Petrsub­rief heißt: „Wach­set in der Gnade und der Erkennt­nis unse­res Herrn und Hei­lan­des Jesus Chris­tus!“ Hier wird direkt die Auf­for­de­rung an uns gerich­tet, in der Gnade und in der Erkennt­nis des Hei­lan­des zuzu­neh­men. „Wach­set in der Gnade und der Erkennt­nis unse­res Herrn und Hei­lan­des Jesus Chris­tus!“ Im letz­ten Buch der Hei­li­gen Schrift, näm­lich in der Apo­ka­lypse, ist noch ein­mal davon die Rede, wo es heißt: „Der Gerechte soll sich noch mehr recht­fer­ti­gen, und der Hei­lige soll sich noch mehr hei­li­gen.“ Es gibt also eine Ver­meh­rung der Recht­fer­ti­gung, es gibt eine Kräf­ti­gung und ein Wachs­tum in der Hei­li­gung.

Jetzt erhebt sich natür­lich für uns die Frage: Wie geschieht denn die­ses Wach­sen? Wie kann man in der Recht­fer­ti­gung zuneh­men? Wie kann man die Hei­li­gung ver­meh­ren? Wie kann man die Welt­haf­tig­keit zurück­drän­gen? Wel­che Mit­tel sind dazu not­wen­dig? Um noch ein­mal auf die Ana­lo­gie zurück­zu­kom­men zwi­schen natür­li­chem und über­na­tür­li­chem Wach­sen: Das natür­li­che Leben muß genährt und gekräf­tigt, es muß geschützt und behü­tet wer­den. Das sind die bei­den Haupt­funk­tio­nen: näh­ren und kräf­ti­gen, schüt­zen und behü­ten. Ähn­lich-unähn­lich ist es auch mit dem Gna­den­le­ben; es muß genährt und gekräf­tigt, es muß geschützt und behü­tet wer­den. Wie wird es genährt und gekräf­tigt? Wie wird es geschützt und behü­tet? Genau so, wie es ent­steht. Es ent­steht durch Glaube und Taufe. In Glaube und Taufe wer­den wir aus dem Zustand der Unge­rech­tig­keit in den der Gerech­tig­keit ver­setzt. Und so ist es dann auch mit dem Wachs­tum in der Gnade. Durch Glaube und Taufe, durch Aus­fal­tung des­sen, was in der Taufe uns gege­ben ist, wächst die Gnade. Sie wächst auch durch die übri­gen Sakra­mente. Jede hei­lige Kom­mu­nion kann, wenn der Mensch, der sie emp­fängt, sich ihr öff­net, zum Wachs­tum in der Gnade bei­tra­gen. Jeder Sakra­men­ten­emp­fang ver­mehrt, stärkt, kräf­tigt und hütet in dem rich­tig dis­po­nier­ten Chris­ten die hei­lig­ma­chende Gnade. Es gibt sogar ein Heil­mit­tel, um die ver­lo­rene Gnade wie­der­zu­ge­win­nen oder um die geschwächte Gnade wie­der zu kräf­ti­gen, näm­lich das Bußsa­kra­ment. Also die Sakra­mente sind das grund­le­gende Mit­tel des Wachs­tums in der Gnade. Da die Sakra­mente in der Lit­ur­gie gespen­det wer­den, kann man sagen: Die Lit­ur­gie und die Teil­nahme an der Lit­ur­gie führt zum Wachs­tum in der Gnade. Und da die Lit­ur­gie sich aus­fal­tet im Kir­chen­jahr, kann man wie­derum noch ergän­zend hin­zu­fü­gen: Wer im Sinne der Kir­che am Kir­chen­jahr teil­nimmt, das heißt ja an dem Lebens- und  Lei­dens­gang unse­res Hei­lan­des durch die Zeit, der ver­mehrt in sich die Gnade. Durch diese Gemein­schaft mit Chris­tus in den Ereig­nis­sen des Kir­chen­jah­res wird das gött­li­che Leben in ihm stär­ker durch­hellt und durch­feu­ert.

Die Sakra­mente sind aber nur die Grund­lage für das, was der Mensch selbst tun soll und tun kann, näm­lich: Er soll in sich die Welt­haf­tig­keit zurück­drän­gen. Wodurch? Durch Aszese, durch Beherr­schung, durch Über­win­dung. Der Mensch muß etwas dazu­tun. Die Gnade gibt die Kraft, aber der Mensch muß sich der Kraft bedie­nen; die Anstren­gung bleibt ihm nicht erspart.

Die wei­tere Auf­gabe des Men­schen im Wachs­tum der Gnade besteht darin, daß er die Gebote hält, wie das Tri­den­ti­num ein­deu­tig erklärt hat. Er muß die Gebote Got­tes und der Kir­che hal­ten. Dadurch wächst die Gnade. Jedes treue Fest­hal­ten an den Gebo­ten, jede wirk­li­che Erfül­lung der Gebote läßt das Gna­den­le­ben sich ver­meh­ren. Auch durch das Gebet wächst das Gna­den­le­ben. Aber da bin ich schon bei dem ent­schei­den­den Punkte, von dem ich am Anfang aus­ge­gan­gen bin. Das Gebet ist ein gutes Werk, und die Gnade wächst durch gute Werke. Die Kir­che hat frü­her die Trias von Gebet, Fas­ten, Almo­sen auf­ge­stellt, und das ist ja rich­tig. Nur muß man bei jedem die­ser drei Gegen­stände hin­zu­fü­gen, daß damit eine ganze Fülle von guten Wer­ken gemeint ist. Zum Bei­spiel beim Almo­sen ist nicht nur gemeint, daß man dem am Stra­ßen­rand sit­zen­den Bett­ler ein Mark­stück in die Mütze wirft, son­dern Almo­sen sind auch alle Werke der geist­li­chen und der zeit­li­chen Barm­her­zig­keit. Alles, was wir tun für Men­schen, alles, was wir weg­schen­ken, über­all, wo wir Men­schen in Not bei­ste­hen, das sind gute Werke. Las­sen Sie sich, meine lie­ben Freunde, nicht am Sinn, am Wert, am Nut­zen der guten Werke irre machen. Die guten Werke ver­die­nen uns wahr­haft den Him­mel. Das ist katho­li­sche Lehre, ob es dem Herrn Spi­tal paßt oder nicht. Das ist katho­li­sche Lehre.

Daß die guten Werke uns bei der Erlan­gung der Him­mels­se­lig­keit hel­fen, daß sie gewis­ser­ma­ßen eine Bedin­gung dafür sind, das ist in der Hei­li­gen Schrift über jeden Zwei­fel aus­ge­spro­chen. „Seid dar­auf bedacht, daß ihr eure Beru­fung und Aus­er­wäh­lung sicher­stel­let durch gute Werke!“ Das schreibt der erste Papst, Petrus, in einem sei­ner Briefe. „Seid dar­auf bedacht, daß ihr eure Beru­fung und Aus­er­wäh­lung sicher­stel­let durch gute Werke!“ Und der Völ­ke­ra­pos­tel Pau­lus steht ihm bei, wenn er schreibt, daß man in der Gnade Frucht brin­gen soll, daß man den Glau­ben bewei­sen soll, der in der Liebe wirk­sam ist. So im Gala­ter­brief. Der Glaube, der durch die Liebe wirk­sam ist, der erwirbt den Him­mel. Und so hat Augus­ti­nus diese ganze Lehre zusam­men­ge­faßt in einem ein­zi­gen Satz. Augus­ti­nus sagt näm­lich: „Das ist das ent­schei­dende Wort, der Glaube, der in der Liebe wirk­sam ist.“

Amen.

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