Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Das Wesen Gottes (Teil 6)

9. Februar 1997

Die Zeit- und Raumlosigkeit Gottes

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Gott ist anders als der Mensch, und wir sind im Begriff, uns die Andersartigkeit Gottes vor Augen zu führen. Wer Gott vermenschlicht, wer Gott auf Menschenmaß zurückschneidet, der muß die Wirklichkeit Gottes verfehlen. Gott ist anders als der Mensch; man kann mit Recht sagen: Er ist der ganz Andere. Ihm ist, wie wir am vergangenen Sonntag sahen, die Ewigkeit zu eigen. Gott ist zeitlos. Er erstreckt sich nicht von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft, sondern er ist gesammelt das stehende Jetzt. In ihm gibt es nur lautere Wirklichkeit ohne Auseinanderlegung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Aber ihm ist nicht nur die Seinsweise der Zeitlosigkeit zu eigen, er lebt auch in der Seinsweise der Raumlosigkeit. Er ist nicht auseinandergelegt, er ist nicht ausgedehnt; Gott ist unermeßlich und allgegenwärtig. Die Raumlosigkeit unterscheidet Gott, ebenso wie die Zeitlosigkeit, völlig vom Menschen, denn der Mensch ist in den Raum gebannt, und er ist in die Zeit gebunden. Die Raumlosigkeit Gottes besagt, daß er von keinem Raum umschlossen werden kann. Als Salomon den Tempel gebaut hatte, faßte er die Wahrheit der Überlegenheit Gottes über den Raum in die Worte: „Die Himmel der Himmel können dich nicht fassen, wieviel weniger dieses Haus, das ich dir gebaut habe.“ Wegen seiner Raumlosigkeit kann Gott von keinem Raum umschlossen werden. Die Raumlosigkeit ist auch gleichbedeutend mit der Ausdehnungslosigkeit. Die Kategorie der Ausdehnung ist auf Gott unanwendbar. Wegen seiner Ausdehnungslosigkeit kann er von keiner Ausdehnung erreicht werden. Man könnte, wenn es nicht zu falschen Deutungen Anlaß gäbe, Gottes Raumlosigkeit mit einem Punkt vergleichen, denn der Punkt ist ja nach mathematischen Gesetzen ebenfalls ausdehnungslos; nur besteht die Gefahr, daß man dann an eine Seinsarmut Gottes denken würde. Man könnte die Raumlosigkeit und Ausdehnungslosigkeit Gottes auch mit der Geltung der Wahrheit vergleichen, doch auch hier besteht die Gefahr des Mißverständnisses, denn die Wahrheit gilt zwar, aber sie hat keine Wirklichkeitsmacht. Es würde also, wenn man Gott mit der Geltung der Wahrheit vergleicht, der Verdacht nahegelegt, er wäre seinsohnmächtig.

Gott ist ausdehnungslos und raumlos. Die Heilige Schrift spricht die Wahrheit von Gottes Ausdehnungslosigkeit und Raumlosigkeit zusammen mit der anderen aus von der Allgegenwart. Die Ausdehnungslosigkeit Gottes ist ein absolutes Attribut, d.h. etwas, was ihm zukommt ohne Rücksicht auf einen vorhandenen Raum. Die Allgegenwart ist ein beziehentliches Attribut, d.h. sie kommt Gott zu in bezug auf einen vorhandenen Raum. Gott ist allgegenwärtig, und zwar ist er allgegenwärtig kraft seiner Macht, kraft seines Wesens und kraft seines Wissens. Gott ist allgegenwärtig als allwirkende Macht. Wir wissen, daß nichts existiert, was besteht, das nicht Gott sein Dasein verdankt. Gott ist allgegenwärtig kraft seines Wesens. Der Geist des Herrn erfüllt den Erdkreis, er besitzt eine repletive Gegenwart, wie die Theologie sagt; er erfüllt jeden Raum. Und Gott ist allgegenwärtig mit seinem umfassenden Wissen; alles, was existiert, ist gleichsam ein Gedanke in Gottes Geist. Wie – ähnlich-unähnlich – der Gedanke in unserem Geiste ist, so ist die Welt und alles, was geschaffen ist, ein Gedanke im Geiste Gottes. Gott ist allgegenwärtig.

Ein Freidenker fragte einmal einen Arbeiter: „Wie groß ist denn Ihr Gott?“ Da gab ihm der Arbeiter zur Antwort: „Gott ist so groß, daß Ihr Kopf ihn nicht fassen kann, und so klein, daß er in meinem Herzen wohnen kann.“ Das ist eine gute Antwort; denn es gibt neben der Gegenwart Gottes als schöpferischem Urgrund allen Seins auch noch eine gnadenhafte Gegenwart. Gott ist als Schöpfer gegenwärtig überall, aber mit seiner Gnade ist er gegenwärtig nur in den Gerechtfertigten. Es ist das die Gegenwart im Himmel, im Altarsakrament und in den Seelen der Gerechtfertigten. Im Himmel läßt sich Gott schauen, im Altarsakrament ist er mit der Natur Jesu verbunden gegenwärtig, und in der Seele des Gerechten ist er gegenwärtig durch den Lebensvollzug seines dreipersönlichen Lebens.

Die Heilige Schrift bringt viele Zeugnisse von den Wirklichkeiten, die ich eben versucht habe, Ihnen darzustellen. So heißt es beispielsweise im Buche Job: „Kannst du den Urgrund Gottes ergründen oder an des Allmächtigen Grenze dringen? Über den Himmel hinauf ist sie hoch; was willst du beginnen? Unter die Hölle hinab ist sie tief; was willst du erkennen?“ Oder beim Propheten Isaias heißt es: „So spricht der Herr: Mein Thron ist der Himmel und meiner Füße Schemel die Erde.“ Damit wird angedeutet die Unermeßlichkeit Gottes. Gott ist unfaßbar. Er ist als das absolute Sein durch keine räumliche Begrenzung abschließbar. In besonders ergreifender Weise wird die Allgegenwart Gottes, sein den Menschen umfassendes Sein und seine allwissende Gegenwart im Psalm 139 ausgesprochen. Da heißt es: „Herr, du hast mich geprüft und du kennst mich. Du weißt um mein Sitzen und mein Aufstehen. Du verstehst, was ich denke, von weitem schon. Mein Gehen, mein Ruhen, du prüfst es, mit all meinen Wegen bist du vertraut. Noch liegt das Wort mir nicht auf der Zunge, du kennst es, Herr, schon genau. Von rückwärts und vorwärts schließt du mich ein und deckst über mich deine Hand. Zu wunderbar ist dieses Wissen für mich; ich begreife es nimmer. Wohin soll ich gehen vor deinem Geist, wohin fliehen vor deinem Antlitz? Stiege ich zum Himmel hinauf, du bist dort. Läge ich auch drunten im Totenreich, siehe, da bist du. Nähme ich mir auch des Morgenrots Schwingen und ließe mich nieder am Ende des Meeres, so würde auch dort deine Hand mich geleiten, deine Recht mich fassen. Und dächte ich: Finsternis soll mich verhüllen, zur Nacht soll werden das Licht um mich her, so wäre auch die Finsternis nicht für dich finster, die Nacht wäre hell wie der Tag, die Finsternis wie das Licht. Du hast ja meine Nieren geschaffen, mich gewoben im Schoß meiner Mutter, ich danke dir, erstaunlich und wunderbar bin ich erschaffen. Deine Augen sahen mich als gestaltlosen Keim, in deinem Buche stehen sie alle verzeichnet, die Tage, die vorausbestimmt wurden, als noch keiner von ihnen war.“ In diesem ergreifenden Hymnus auf Gottes Allgegenwart haben wir die Bestätigung für das, was die Kirche auf ihren Konzilien ausgesprochen hat, daß nämlich Gott ausdehnungslos, unermeßlich und allgegenwärtig ist.

Wir dürfen nicht meinen, meine lieben Freunde, als ob diese Eigenschaften Gottes für uns bedeutungslos wären. Sie haben vielmehr eine erhebliche Bedeutung für unser Heil.

1. Weil Gott überall gegenwärtig ist, schaut uns aus allen geschaffenen Gegenständen die Wirklichkeit Gottes an. Wir wandeln in der Gegenwart Gottes, weil alles, was existiert, von ihm geschaffen ist und von ihm im Dasein erhalten wird. Er ist der schöpferische Urgrund von allem, und seine Allgegenwart ist die reale Grundlage dafür, daß wir Gott in allen Dingen – aber natürlich auch in allen Menschen – begegnen können.

2. Die Allgegenwart Gottes ist auch der Grund und der Bürge für die menschliche Gemeinschaft, und zwar in natürlicher und in übernatürlicher Weise. Wenn Gott der schöpferische Urgrund ist, dann ist eben jeder mit jedem verbunden in Gott, dem schöpferischen Urgrund. Er vereint alles als der gemeinsame Schöpfer. Und die Gerechtfertigten vereint er kraft seiner gnadenhaften Gegenwart. Deswegen gibt es Kirche, weil Gott die Gerechtfertigten zu einer Gemeinschaft zusammenfaßt, zur Gemeinschaft der Heiligen, die wir die katholische Kirche nennen.

3. Die Allgegenwart Gottes ist ein mächtiges Hilfsmittel zur Tugend. Sie hält uns von der Sünde zurück. Wir beobachten ja schon, daß Menschen sich zusammennehmen, wenn andere in ihrer Nähe sind, die sie schätzen, die sie lieben, auf deren Urteil sie Wert legen. Um wieviel mehr müssen wir uns zusammennehmen, müssen wir die Versuchung überwinden, müssen wir die Sünde meiden, wenn wir bedenken, daß Gott in unserer Nähe ist! Die Erinnerung an Gottes Allgegenwart hält uns von der Sünde ab, und gleichzeitig treibt sie uns an, Gutes zu tun, gute Werke zu verrichten, unser Leben im Dienste Gottes aufzubrauchen. Auch hier können wir wieder den natürlichen Vergleich wählen. Wenn uns Menschen begegnen, wenn wir mit Menschen zusammen sind, an denen uns etwas liegt, dann versuchen wir, ihnen die Wünsche von den Augen abzulesen, dann versuchen wir, ihnen alles erdenklich Gute zu tun. So muß es auch sein, wenn wir an die Gegenwart Gottes denken. „Wo ich bin und was ich tu, sieht mir Gott, mein Vater, zu.“ Wir sollen uns durch die Gegenwart Gottes angetrieben wissen, Gutes zu tun, unser Leben rastlos im Dienste Gottes zu verzehren.

Noch ein Letztes bewirkt die Gegenwart Gottes. Sie macht uns unerschrocken. Wir wissen: Gott ist bei uns. „Und wenn ich wandern müßte in Todesschatten, du bist ja bei mir“, heißt es im Psalm 22. Und wenn ich wandern müßte im Todesschatten, du bist ja bei mir. Der heilige Chrysostomus hatte durch seinen Freimut den Zorn der Kaiserin Eudoxia in Konstantinopel erregt, und sie drohte ihm mit der Landverweisung, mit dem Exil. Chrysostomus gab ihr zur Antwort: „Nur dann wärest du imstande, mich zu erschrecken, wenn du mich an einen Ort schicken könntest, wo Gott nicht ist.“

Amen.

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