Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Tod, Fegefeuer, Hölle und Himmel (Teil 10)

9. Dezember 1990

Die himmlische Gemeinschaft mit Christus

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Der Mensch, der im Tode von aller Selbstsucht und Eigenherrlichkeit frei ist, kommt nach dem persönlichen Gericht unmittelbar in den Zustand des Himmels. Der Himmel ist die Vollendung der Herrschaft Gottes. Er ist auch die Vollendung des menschlichen Heiles. Das Wort Himmel wird in der Heiligen Schrift in mehrfacher Bedeutung gebraucht, und es ist wichtig, daß wir diese verschiedenen Bedeutungen auseinanderhalten, weil allzu leicht der Spott der Ungläubigen sich des Himmels bemächtigen kann.

Die erste Bedeutung von Himmel meint damit das Gewölbe, das sich über der Erde erstreckt, also den Ort der Sterne und der Wolken. In diesem Sinne sind Himmel und Erde das Gesamt der Schöpfung. Eine zweite Bedeutung von Himmel meint die Gott vorbehaltene Welt, den „Raum“, in dem Gott lebt, die Wirklichkeit, in der Gott handelt und wirkt. Eine dritte Bedeutung meint mit dem Wort Himmel die Wesensart Gottes, nämlich seine Erhabenheit, seine Andersartigkeit und seine Personalität. Wenn wir jetzt vom Himmel sprechen, dann meinen wir damit die zweite Bedeutung, nämlich die Gott vorbehaltene Wirklichkeit, in welche die Vollendeten eingehen, die frei sind von Selbstsucht und von Eigenherrlichkeit.

Die Wirklichkeit, in der Gott lebt und die Vollendeten mit ihm, ist nicht an irgendein Weltbild gebunden. Es ist also nicht so, als ob der Himmel nur dann im Denken einen Platz hätte, wenn man das Ptolemäische Weltbild annimmt mit mehreren Schichten, die sich übereinander aufbauen. Die Wirklichkeit des Himmels als der Gott vorbehaltene „Raum“ und als die Lebensweise der Vollendeten ist von jedem Weltbild unabhängig und verträgt sich mit jedem Weltbild. Denn Gott und Welt sind qualitätsverschieden. Wegen der Qualitätsverschiedenheit von Gott und Welt sind sie sich nicht im Wege. Es ist nicht so, daß da, wo die irdischen Dinge sind, Gott nicht sein könnte, sondern die Wirklichkeit Gottes ist wegen ihrer Erhabenheit über das Irdische verträglich mit jedem irdischen Ort. Ebenso ist jeder irdische Ort auch geeignet für die Begegnung der Vollendeten mit Gott. Man kann also nicht sagen, der Himmel ist oben oder ist unten. Wenn die Schrift so spricht, dann ist das eine bildliche Redeweise. Wenn wir sagen: Der Himmel ist oben, dann soll damit ausgedrückt werden, daß die Lebensweise der Vollendeten erhaben ist, erhaben über alles Irdische. Und wenn wir sagen: Die Hölle ist unten,  dann soll damit ausgedrückt werden, daß die in der Verdammnis Befindlichen ein untermenschliches Leben führen. Deswegen werden sie von der Apokalypse auch Hunde genannt.

Die Lebensform des Himmels wird grundgelegt auf Erden. Der Himmel ist die Erfüllung und die Entfaltung dessen, was auf Erden im Menschen, der in der heiligmachenden Gnade lebt, schon vorhanden ist. Nur ist das göttliche Leben im Menschen, der in der irdischen Lebenszeit steht, unanschaulich und verborgen, dagegen in der himmlischen Lebensform anschaulich und enthüllt. Hier sind wir auf der Pilgerfahrt. Das irdische Leben ist ein Pilgerleben. Hier bauen wir nur Zeltwohnungen, drüben wird uns eine ewige Wohnung bereitet, ein festes Haus, ein nie mehr abgebrochenes Haus. Hier auf Erden wird gesät, oft unter Tränen gesät, drüben ist die Ernte. So wie die Garben, die in die Scheuer geführt werden, die Vollendung des Wachsens und Reifens sind, so ist auch das himmlische Leben die Vollendung dessen, was wir auf Erden gesät und gearbeitet haben.

Zwischen dem irdischen Leben in Gott, also in der heiligmachenden Gnade, und dem Leben im Jenseits, im Himmel, bestehen aber auch große Unterschiede. Es gibt Zusammenhänge, aber es gibt Unterschiede. Es ist ein Zusammenhang insofern, als das Leben der Gnade, das auf Erden in unseren Seelen ist, im Himmel vollendet wird, anschaulich wird, erfüllt wird. Was wir hier im Glauben und damit auch in der Dunkelheit des Glaubens festhalten, das wird uns dort unmittelbar inne werden. Der Herr sagt: „Das Wasser, das ich geben werde, wird in ihm zur Quelle, die fortströmt ins ewige Leben.“ Mit diesem Wort aus dem Johannesevangelium ist der Zusammenhang ausgesprochen zwischen dem irdischen Gnadenleben und dem himmlischen Vollendungsleben. „Das Wasser, das ich geben werde, wird in ihm zur Quelle, die fortströmt ins ewige Leben.“

Man kann mit Bildern versuchen, den Unterschied und den Zusammenhang zwischen irdischem Gnadenleben und himmlischem Vollendungsleben auszudrücken. Man kann sagen: So, wie die Eichel zu einer Eiche wird, so ähnlich-unähnlich ist es mit dem Gnadenleben auf Erden und dem Vollendungsleben. Freilich wächst die Eiche ohne äußeren Eingriff aus der Eichel hervor. Dagegen kommt das Vollendungsleben nur durch eine allmächtige Wirksamkeit Gottes zustande. Es entfaltet sich nicht organisch von selbst aus dem Gnadenleben. Man kann auch den Unterschied und den Zusammenhang zwischen den beiden Lebensweisen vergleichen mit der Raupe und dem Schmetterling. Man sieht es der Raupe nicht an, daß sie einmal ein so leichtbeschwingtes und farbenprächtiges Wesen werden wird, wie es der Schmetterling ist. Und doch stammt der Schmetterling aus der Raupe. Ähnlich ist es mit dem himmlischen Vollendungsleben. Da kommt das hervor, was im Gnadenleben immer schon angelegt war. Da wird das offenbar, was Gott uns schenken will, wenn wir in Treue zu seinem Gesetz auf Erden verharrt haben. Da enthüllt sich, was die heiligmachende Gnade ist, da enthüllt sich, was es um die dreifaltige Gottheit ist.

In erster Linie ist das ewige Leben die Gemeinschaft mit Christus. Wir leben auch schon auf Erden in ihm. Wir haben hier das In-Sein Christi in uns und unser In-Sein in Christus. Hunderte von Malen kommt im Neuen Testament die Formel vor „En Christo“, d.h. in Christus. Das ist natürlich nicht räumlich zu verstehen, sondern das besagt das Durchherrschtsein von Christus, das ist eine dynamische Gegenwart Christi. Das bedeutet, daß der verklärte Christus uns durchwirkt und durchdringt. Aber noch vermögen wir ihn nicht anzuschauen, jedenfalls nicht mit den Augen des Leibes. Die Durchherrschung, die Christus uns angedeihen läßt, ist unanschaulich. Wir leben im Glauben und nicht im Schauen. Im Himmel werden wir ihn unverhüllt sehen, wir werden ihn sehen, wie er ist, er, dem wir unser Leben geweiht haben, dem wir unter Tränen die Treue gehalten haben, er, dem unsere Hoffnung und unsere vertrauensvolle Liebe galt. Ihn werden wir schauen.

Es ist schon unter Menschen manchmal so, meine lieben Freunde, daß, wenn wir einen Menschen mit aller Liebe und allem Vertrauen ersehnt haben und ihn dann kennenlernen und seine Freundschaft gewinnen, dann eine Erhellung und eine Erwärmung von diesem Menschen ausgeht, daß unser Leben bereichert wird von ihm. Und doch ist das nur ein schwacher Abglanz dessen, was geschehen wird, wenn wir Christus sehen, erkennen, besitzen und mit ihm in vertrauter Gemeinschaft leben werden. Jeder Mensch enttäuscht, Christus aber ist der einzige Mensch, der nicht enttäuscht. Da wird es sich wahrhaft zeigen, was es bedeutet, wenn er sich nannte das Brot und das Leben und die Quelle des Heiles. Der Himmel ist also nichts anderes als die beseligende Gemeinschaft mit Christus. Man kann sagen: Der Himmel ist der Inbegriff der liebenden Verbundenheit mit Christus. Die Hölle aber ist der Abgrund der Ferne von Christus. In diesem Sinne hat der rechte Schächer das Heil gewonnen. „Herr, gedenke meiner, wenn du in dein Reich kommst!“ Und er hört die beglückende Botschaft, eines der tröstlichsten Worte des ganzen Neuen Testamentes: „Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein.“ Ich weiß nicht, warum er sagte „im Paradiese“, denn wer mit ihm ist, der ist im Paradiese.

Und ähnlich hat es der Erstmartyrer Stephanus gesagt. Als er gesteinigt wurde, da richtete er seinen Blick nach oben und sprach die Worte: „Herr Jesus, nimm meinen Geist auf!“ Stephanus mußte, daß er nach diesem Opfertode unmittelbar zu Christus eingeht. In den beiden Worten „Kommet, ihr Gesegneten meines Vaters!“ und „Hinweg von mir, ich kenne euch nicht!“ sind das Heil und das Unheil der Menschen beschlossen. In ihnen sind Himmel und Hölle enthalten.

Wenn schon das irdische Leben von Christus durchherrscht ist, dann um vieles mehr noch das jenseitige Leben. Da wird die Gnade den Menschen in seinem ganzen Sein erfüllen und durchwirken. Diese Durchdringung mit der Gnade Christi bedeutet Herrschaft über Sünde und Tod, über Leid und Vergänglichkeit, Erfüllung mit Wahrheit und mit Liebe; und wer so von Christus durchherrscht wird, der nimmt an seiner Herrschaft teil, der wird zu einem Herrscher. Deswegen werden die Vollendeten oft als Könige dargestellt. Sie tragen Kronen, weil sie nämlich herrschen über Angst und Leid und Tod und Sünde. Sie nehmen an der Herrschaft Christi teil.

Freilich ändert das nichts daran, daß er der Herr bleibt, von dem die Vollendeten abhängig sind. Im Buch der Apokalypse ist beschrieben – in einer bildhaften Weise, wie sollen wir sonst vom jenseitigen Bereich sprechen? –, wie das Lamm, also Christus, im Himmel verehrt wird. Da heißt es: „Die vier Wesen und die vierundzwanzig Ältesten fielen vor dem Lamme nieder. Jeder hatte ein Harfe und goldene Schalen voll Weihrauch (das sind die Gebete der Heiligen). Sie singen ein neues Lied: 'Würdig bist du, Herr, das Buch zu nehmen und seine Siegel zu erschließen, denn du bist getötet worden und hast uns in deinem Blute erkauft aus allen Stämmen und Sprachen, Völkern und Nationen. Du hast uns zu einem Königtum und zu Priestern gemacht für unseren Gott.' Und sie werden herrschen über die Erde. Und ich schaute und hörte einen Chor vieler Engel rings um den Thron und um die Wesen und die Ältesten. Sie riefen laut: 'Würdig ist das Lamm, das geschlachtet ward, zu empfangen Macht und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Ruhm und Preis!' Und jedes Geschöpf, alles, was sich auf Erden oder im Himmel befindet, hörte ich sagen: 'Dem, der auf dem Throne sitzet und dem Lamme sei Ehre und Macht und Ruhm und Weisheit von Ewigkeit zu Ewigkeit.' Und die vier lebenden Wesen und die Ältesten warfen sich nieder und beteten den an, der da lebt von Ewigkeit zu Ewigkeit.“

Die Anbetung bleibt im Himmel nicht nur erhalten, sie macht geradezu das Wesen des jenseitigen Lebens aus. Daß man den anbeten darf, der der Anbetung allein würdig ist, ist die Freude und das Glück und die Auszeichnung und der Ruhm der Vollendeten.

Christus bleibt auch im Jenseits der Mittler, also derjenige, dem wir den Eingang ins Jenseits verdanken, dem wir aber auch das Strömen der Gnade und der Liebe und der Wahrheit von Gott her verdanken. Er ist nicht nur der Weg, er ist auch das Ziel und der Inhalt des Himmels. Er bleibt der Mittler, durch den Gott sich uns zuwendet und durch den wir zu Gott kommen. Aber auch als Mittler ist er der Bruder, der uns zu seinem Gastmahl einlädt, wo er mit den Seinen ein Freudenmahl hält, wo er sie bedient bei Tische und sich als das zeigt, was er immer war, nämlich die Wahrheit und die Liebe, das Glück und die Freude, wo er sich als den kundtut, von dem alles lebt und auf den hin alles geschaffen ist.

Das also, meine lieben Freunde, ist das erste, was wir im Himmel erleben werden, die Gemeinschaft mit Christus. Auf Erden gibt es viele Herren, die man sehen kann. Unser Herr und Heiland ist unanschaulich. Aber im Himmel werden die Schatten fallen. Dann werden wir ihn sehen, wie er ist, und wir werden in alle Ewigkeit bei ihm sein dürfen und uns in seinem Glücke freuen dürfen.

Als der große französische Prediger Lacordaire starb, waren seine letzten Worte: „Mein Gott, mein Gott, öffne mir!“ Mit diesen Worten hat Lacordaire angedeutet, daß seine einzige Sehnsucht ist, in die Himmelswirklichkeit versetzt zu werden, um dort mit Christus und – wie wir am nächsten Sonntag sehen werden – mit dem dreifaltigen Gott ein Herrlichkeitsleben zu führen. Wohl dem, der so stirbt. „Mein Gott, mein Gott, öffne mir!“

Amen.

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