Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Die Gnadenlehre (Teil 9)

17. Juli 1988

Die Empfänger der Gnade

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Auf einem Kreuze in den Tiroler Bergen steht das Wort: „Schwer läßt Gott vom Menschen ab, für den er Blut und Leben gab. Gott tut auf niemanden Verzicht, verwirft der Mensch sich selber nicht.“ Wir haben am vergangenen Sonntag die Gratuität des Gnadenwirkens Gottes betrachtet. Gratuität, das bedeutet die Freiwilligkeit der Austeilung der Gnade, die geschenkweise erfolgende Mitteilung der Gnade. Die Gnade kann nicht erzwungen, sie kann nicht einmal vom natürlichen Menschen errungen oder erbetet werden, sie wird von Gott geschenkt.

Heute müssen wir uns Gedanken machen über die Empfänger der Gnade. Und da paßt so gut das Wort, das da auf diesem Kreuze in Tirol steht: „Schwer läßt Gott vom Menschen ab, für den er Blut und Leben gab. Gott tut auf niemanden Verzicht, verwirft der Mensch sich selber nicht.“

Es ist ein Dogma des katholischen Glaubens, daß Gott das Heil aller Gläubigen will. Auch trotz Sündenfall und Erbsünde will Gott das Heil aller Gläubigen. Das ist ein formelles Dogma, von der Kirche als Glaubenssatz aufgestellt, feierlich verkündigt und allen zur Annahme vorgelegt.

Dieser Glaubenssatz wurde formuliert gegen Irrlehrer. Es sind Männer aufgetreten, die Prädestinatianer, die Calvinisten, die Jansenisten, die bestritten diese Wahrheit. Sie sagten: Gott will nur das Heil der Prädestinierten, d.h. derer, die er von vorneherein für die Seligkeit des Himmels bestimmt hat. Er will also nicht das Heil aller Menschen, sondern nur einer Auswahl aus den Menschen. Gegen diese Irrlehre hat die Kirche ein weiteres Dogma formuliert: „Gott will das Heil aller Menschen.“ „Aller Menschen“ ist noch ein Unterschied zu „aller Gläubigen“, denn nicht alle Menschen sind ja bekanntlich gläubig. Daß er das Heil aller Gläubigen will, das ist aus der Heiligen Schrift mit Sicherheit zu belegen. Im Johannesevangelium heißt es: „So sehr hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn dahingegeben hat, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verlorengehe, sondern ewiges Leben habe.“ Jeder, der an ihn glaubt! Und darauf stützt sich das Dogma der Kirche: Gott will das Heil aller Gläubigen. Aber sie hat darüberhinaus auch gelehrt, daß Gott das Heil aller Menschen will, und zwar beruft sie sich dabei auf einen Satz aus dem 2. Brief des Apostels Paulus an Timotheus, denn da heißt es: „Gott will, daß alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen.“ Alle Menschen! Hier ist also keine Einschränkung gemacht auf die Gläubigen, sondern hier sind alle Menschen umfaßt ohne Rücksicht auf Gläubigkeit oder Nichtgläubigkeit. Gott will das Heil aller Menschen. Er will, daß alle Menschen selig werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen.

Selig werden, das Heil der Menschen wollen, das bedeutet natürlich, daß die Menschen in den Himmel kommen sollen, daß sie nach ihrem Tode mit ihrer Seele in die Freude Gottes eingehen sollen und daß sie einmal am Ende der Tage einen wunderbaren Auferstehungsleib empfangen sollen, was ihre Erlösung, was ihr Heil vollendet. Das ist also das grundlegende Dogma: Gott will das Heil aller Menschen.

Dieses Dogma entfaltet sich nun in drei Untersätze. Der erste dieser Untersätze lautet: Gott gibt allen Gerechten hinreichende Gnade, damit sie seinen Willen erfüllen können. Wir wissen, das Heil ist an Bedingungen geknüpft. „Nicht jeder, der sagt 'Herr, Herr', wird in das Himmelreich eingehen, sondern wer den Willen meines Vaters tut, der im Himmel ist.“ Das Heil ist an die Übereinstimmung des menschlichen Wollens und Handelns mit Gottes Willen geknüpft. Da wir aber nach Gottes Willen nur handeln können, wenn uns Gott seine Gnade gibt, so folgt daraus der Satz: Gott gibt allen Gerechten hinreichende Gnade, um den Willen Gottes erfüllen zu können. Auch dieser Satz wurde bestritten, und so hat die Kirche schon auf dem II. Konzil von Orange im Jahre 529 formuliert: Die Gerechten sind imstande, mit der Gnade Gottes den Willen Gottes zu erfüllen. Und das Konzil von Trient hat das bekräftigt. „Wer sagt, daß auch die Gerechtfertigten mit Hilfe der Gnade Gottes den Willen Gottes nicht erfüllen können, der sei ausgeschlossen.“

Auch bei dieser Lehre, daß der Wille Gottes für die Gerechten mit Hilfe der Gnade erfüllbar ist, stützt sich die Kirche auf Sätze der Heiligen Schrift. Der Herr sagt ja einmal: „Mein Joch ist sanft und meine Bürde ist leicht.“ Damit deutet er an, daß seine Gebote eben nicht unerfüllbar sind, daß sie keine Last auferlegen, die man nicht tragen kann. Und an einer anderen Stelle der Bibel schreibt der Apostel Johannes: „Darin besteht die Liebe Gottes, daß wir seine Gebote beobachten, und seine Gebote sind nicht schwer.“ Warum ist der Gläubige befähigt, Gottes Gebote zu beobachten? Weil alles, was aus Gott gezeugt ist, die Welt besiegt. „Das ist der Sieg, der die Welt überwindet: Unser Glaube!“ Also: Gottes Gebote sind nicht schwer, sagt der Apostel Johannes, denn wir tragen ja das Pfand Gottes in uns, den Heiligen Geist, die Kraft von oben, die uns befähigt, diese Gebote Gottes zu erfüllen.

So ist also der erste Satz aus der Heiligen Schrift gesichert, aber auch aus der Tradition. Der heilige Augustinus schreibt einmal – und das hat das Konzil von Trient aufgenommen -: „Gott verläßt niemanden, der ihn nicht zuvor selbst verläßt.“ Und das ist ja offensichtlich auch die Lehre, die da auf dem Kreuze in Tirol steht: „Schwer läßt Gott vom Menschen ab, für den er Blut und Leben gab. Gott tut auf niemanden Verzicht, verwirft der Mensch sich selber nicht.“

Der zweite Untersatz lautet: Wer in schwere Sünde gefallen ist, erhält immer hinreichende Gnade, um sich zu bekehren. Also auch, wenn das Unglück passiert ist, wenn jemand eine Todsünde begangen hat, liegt noch Gottes Gnade bereit, um ihm zu helfen, wieder aufzustehen. Der Mensch kann sich wieder aufrichten in der Macht der Gnade Gottes. Gott ist gütig und langmütig, und diese Güte und Langmut treibt den Menschen zur Bekehrung. Die Kirche hat es in einem ihrer Lehrsätze formuliert: „Der Mensch kann stets zur Buße, zur Bekehrung zurückkehren.“

Er kann es aber nur, weil er die Gnade findet, denn ohne die Gnade ist ihm Buße und Bekehrung nicht möglich. Und auch dafür kann sich die Kirche auf Stellen der Heiligen Schrift berufen, etwa auf eine Stelle im 2. Petrusbrief: „Er ist langmütig gegen euch, weil er nicht will, daß einige zugrunde gehen, sondern daß alle zur Bekehrung kommen.“ Gott ist langmütig. Er wartet auf den Sünder, er verdirbt ihn nicht sofort. Er gibt ihm die Gnade, er bietet sie ihm an, damit alle – alle! – zur Buße kommen und nicht zugrundegehen.

Und das ist die tröstliche Wahrheit, meine lieben Freunde, die für unsere Verwandten, Bekannten, Arbeitskollegen, Freunde und Feinde gilt: Wir dürfen an niemandes Schicksal verzweifeln. Wir dürfen niemanden aufgeben. Gottes Gnade ist immer zur Hand. Gottes Gnade liegt immer bereit. Der Mensch braucht sie nur zu ergreifen, dann steht er auf aus dem Schlamme und erhebt sich zur Beobachtung der Gebote Gottes. Niemanden aufgeben, auf niemanden Verzicht leisten, über niemanden endgültig den Stab brechen, das ist die trostreiche Verheißung, die von diesem Satze ausgeht. „Schwer läßt Gott vom Menschen ab, für den er Blut und Leben gab. Gott tut auf niemanden Verzicht, verwirft der Mensch sich selber nicht.“

Und so müssen wir auch schließlich den dritten Untersatz betrachten, nämlich: Gott gibt auch den Ungläubigen hinreichende Gnade zum Heil. Er gibt auch den Ungläubigen hinreichende Gnade zum Heil! Das hat die Kirche mehrfach festgestellt gegen Irrlehrer, die sagten: Die Heiden, die Juden bekommen keine Gnade und gehen verloren. Nein, sagt die Kirche, Christus ist für alle gestorben, sein Erlösungswerk gilt allen Menschen, infolgedessen auch die Frucht dieses Erlösungswerkes, die Gnade. Sie liegt bereit für alle Menschen.

Es ist schwierig, für die Ungläubigen diese Wahrheit aus der Heiligen Schrift zu begründen. Die Väter stützen sich gewöhnlich auf den Prolog – auf den Vorspruch – des Johannesevangeliums, und zwar auf die Stelle: „Das Licht leuchtet in der Finsternis, und es strahlt für jeden Menschen, der in diese Welt kommt.“ Es strahlt jedem Menschen! Das legen sie so aus: Jeder Mensch erhält die hinreichende Gnade, das Heil zu finden.

Nun ist aber das Heil an den Glauben geknüpft, denn der Glaube ist der Anfang des Heils. Er ist die Grundlage und Wurzel der Rechtfertigung, wie das Konzil von Trient erklärt. Und dabei kann sich die Kirche auf gewichtige Sätze der Heiligen Schrift stützen, vor allen Dingen auf den Hebräerbrief. Da heißt es: „Ohne Glaube ist es unmöglich, Gott zu gefallen.“ Ohne Glaube ist es unmöglich, Gott zu gefallen! Der Hebräerbrief fährt dann fort: „Denn wer zu Gott hinzutreten will, muß glauben, daß er ist und daß er denen, die ihn suchen, ein Vergelter wird.“ Ohne Glaube ist es unmöglich, Gott zu gefallen. Der Glaube ist, wie man sagt, die conditio sine qua non, die unerläßliche Bedingung für die Erlangung des Heiles. Und dieser Glaube ist nicht inhaltslos. Er hat einen bestimmten Inhalt, einen bestimmten Minimalinhalt, etwas, was jeder glauben muß, auch wenn alles andere ihm unbekannt bleibt, und dieser Inhalt besteht darin, daß man an die Existenz Gottes glaubt und an die Vergeltung im Jenseits. Daran muß jeder glauben, daß Gott existiert, und daß er denen, die ihn suchen, ein Vergelter wird.

Da erhebt sich natürlich die schwerwiegende Frage: Wie kommen denn die Ungläubigen zu diesem Glauben? Normalerweise durch die Predigt des Evangeliums. Deswegen ziehen ja die Sendboten des Evangeliums aus, deswegen schickt die Kirche die Missionare bis an die Grenzen der Erde, zu den Eskimos und zu den Indianern, nach Asien und nach Afrika, damit alle zur Erkenntnis Gottes kommen, damit sie lernen, daß ein Gott existiert und daß er denen, die ihn suchen, Vergelter wird. Und so stellt die Kirche die Menschen vor die Entscheidung, so muß sie sie vor die Entscheidung stellen, ob sie die Wahrheit Gottes annehmen oder nicht. Sie kann die Menschen nicht in Ruhe lassen, weil Gott sie nicht in Ruhe läßt. Sie muß den Menschen sagen: Wer glaubt und getauft wird, wird gerettet werden; wer nicht glaubt, wird verdammt werden.

Wer nun von dieser Botschaft nicht erreicht wird – und die Glaubensboten konnten und können nicht zu allen Menschen gelangen, es wird immer Gebiete geben, die davon nicht erfaßt sind –, der ist deswegen nicht von der Gnade ausgeschlossen. Gott vermag auch ohne die Predigt des Evangeliums in der Seele geheimnisvoll zu wirken und den Glauben hervorzubringen, daß Gott ist und daß er denen, die ihn suchen, ein Vergelter wird. Wie die Religionsgeschichte, wie die Ethnologie uns erklärt, sind auch Menschen, die niemals von der Botschaft des Evangeliums gehört haben, von der Existenz Gottes und von seinem gerechten Gericht überzeugt, ein Beweis dafür, daß auch sie die hinreichende Gnade erhalten, vom Unglauben zum Glauben zu finden. Wahrhaftig, auch für die schuldlos Irrenden gilt das Wort, das auf dem Kreuz in Tirol steht: „Schwer läßt Gott vom Menschen ab, für den er Blut und Leben gab. Gott tut auf niemanden Verzicht, verwirft der Mensch sich selber nicht.“

Amen.

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