Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Die Gnadenlehre (Teil 5)

19. Juni 1988

Die Erkennbarkeit des Sittengesetzes

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

In der Gnadenlehre kann man leicht in die Irre gehen. Sie ist ein so feines Gewebe, daß es leicht zerrissen werden kann, und im Laufe der zweitausendjährigen Geschichte der Kirche sind Irrlehren über die Gnadenlehre der Kirche in großer Zahl aufgetreten. Sie lassen sich in zwei Gruppen zusammenfassen. Die einen trauen der menschlichen Natur zu viel zu, die anderen zu wenig. Diejenigen, die der menschlichen Natur zu viel zutrauen, sind die Naturalisten und die Rationalisten, auch die Pelagianer. Und jene, die der menschlichen Natur zu wenig zutrauen, das sind die sogenannten Reformatoren, also Luther und sein Anhang, aber auch die Jansenisten und andere.

Die katholische Gnadenlehre liegt genau in der richtigen Mitte. Sie unterschätzt nicht die Leistungsfähigkeit der menschlichen Natur, sie übertreibt sie aber auch nicht. Sie gibt der Natur, was der Natur ist, und sie gibt der Übernatur, was der Übernatur ist. Die katholische Gnadenlehre hält daran fest, daß übernatürlich-heilsverdienstliche Akte nur in der Gnade verrichtet werden können. Übernatürlich-verdienstliche Akte sind allein möglich in der Kraft der Gnade.

Aber was kann dann die Natur? Die menschliche Natur – auch die gefallene Natur – ist imstande, die Wahrheiten der göttlichen Dinge und die Wahrheiten der sittlichen Ordnung zu erkennen. Auch ohne Offenbarung vermag der gefallene Mensch die Existenz Gottes und die Existenz eines Sittengesetzes zu erkennen. Für diese Tatsache haben wir einen wunderbaren Zeugen, nämlich den Apostel Paulus. In seinem Römerbrief schreibt er von der Möglichkeit der Gotteserkenntnis auch durch den gefallenen Menschen: „Was man von Gott erkennen kann, ist ihnen offenbar, Gott selbst hat es ihnen geoffenbart. Sein unsichtbares Wesen, seine ewige Macht und Göttlichkeit ist seit der Erschaffung der Welt durch das Licht der Vernunft – durch das Licht der Vernunft, also auf natürliche Weise – an seinen Werken zu erkennen.“ Hier lehrt der Apostel Paulus die natürliche Erkennbarkeit Gottes, die dann vom I. Vatikanischen Konzil zum Glaubenssatz erhoben worden ist. Und ein paar Verse weiter lehrt er die natürliche Erkennbarkeit des Sittengesetzes: „Wenn nämlich die Heiden, die das Gesetz (nämlich das Gesetz des Moses) nicht haben, von Natur aus die Vorschriften des Gesetzes erfüllen, so sind sie, die das Gesetz nicht haben, sich selbst Gesetz. Sie zeigen damit, daß der Inhalt des Gesetzes in ihre Herzen geschrieben ist, indem ihnen ihr Gewissen Zeugnis gibt und untereinander die Gedanken sich anklagen oder verteidigen.“ Also die natürliche Erkennbarkeit Gottes und die natürliche Erkennbarkeit des Sittengesetzes sind katholische Glaubenslehre, und deswegen fügt der Apostel auch gleich hinzu: „Weil das so ist, deswegen sind diejenigen, die Gott nicht erkennen, nicht zu entschuldigen.“

Weiter muß man sagen, daß auch sittlich gute Handlungen ohne die Gnade im Zustand der gefallenen Natur verrichtet werden können, sittlich gute, aber nicht heilswirksame! Sittlich gute Handlungen können auch im Zustand der gefallenen Natur verrichtet werden. Auch der Sünder ist imstande, sittlich gute Handlungen zu setzen, denn der Herr selbst fordert ja die Sünder auf, sich zu bekehren: „Bekehret euch und wendet euch zu mir!“ Damit werden die Sünder aufgefordert, sittlich gute Handlungen als Vorbereitung auf die Rechtfertigung, als Vorbereitung auf die heiligmachende Gnade zu setzen. Diese Handlungen, zu denen Gott auffordert, können doch keine Sünde sein. Alles, was also im Vorfeld der Rechtfertigung geschieht, alle Handlungen, zu denen Gott selbst einlädt, sind sittlich gut, wenn auch – um es noch einmal zu sagen – wenn auch, weil sie nicht in der Gnade verrichtet sind, nicht heilswirksam, nicht verdienstlich.

Das hat die Kirche immer festgehalten, gegen alle Einsprüche, etwa von Luther („Der Mensch wird entweder von Gott geritten oder vom Satan“), Übertreibungen, wie wir sie bei Luther tausendfach finden. Nein, der gefallene Mensch ist imstande, sittlich gute Handlungen zu verrichten.

Da will ich Ihnen ein Beispiel erzählen: Vor zwei Jahren ist in München ein dickes Buch erschienen über die katholische Kirche und den Nationalsozialismus. In diesem Buche erzählen Überlebende der damaligen Zeit ihre Erlebnisse im Dritten Reich. Da wird auch eine merkwürdige Geschichte berichtet von einem Kapuzinerpater. Dieser Kapuzinerpater war an einem Sonntag des Jahres 1943 auf Aushilfe. Er sollte an zwei Orten die heilige Messe lesen. Zu diesem Zweck hatte er sich die Erlaubnis besorgt, auf der Autobahn zu gehen. Dazu brauchte es eine besondere Erlaubnis, um als Fußgänger auf der Autobahn zu marschieren. Und wie er nun ging von einem Ort zum anderen, da hielt plötzlich ein großes Auto neben ihm, und man fragte ihn, wohin er wolle. Er nannte sein Ziel, dann wurde er aufgefordert, einzusteigen, und das Auto nahm ihn mit. Wer saß in diesem Auto? In diesem Auto saß ein Mann namens Adolf Hitler. Hitler hatte also den Entschluß gefaßt, diesen Kapuzinerpater mitzunehmen. Nun wird man annehmen müssen, daß Hitler ein Todsünder war, daß er ständig in der Todsünde lebte, ja daß er sogar verbrecherische Züge an sich hatte, also nicht in der heiligmachenden Gnade war. Aber diese Tat war sittlich gut. Daß er den Kapuziner einlud, einzusteigen, und ihn mitnahm, das war eine sittlich gute Tat. An diesem Beispiel kann man erkennen, daß es auch dem Todsünder möglich ist, sittlich gute Handlungen zu setzen.

Es ist auch dem Ungläubigen möglich, sittlich gut zu handeln, also demjenigen, der die Glaubensgnade nicht hat. Auch wer die Glaubensgnade nicht hat, ist imstande, sittlich gute Handlungen zu setzen. Das hat ja eben der Apostel Paulus im 2. Kapitel des Römerbriefes gesagt: „Wenn nämlich die Heiden – also die, die den Glauben nicht haben – wenn nämlich die Heiden von Natur aus die Vorschriften den Gesetzes erfüllen – erfüllen! – so sind die, die das Gesetz nicht haben, sich selbst Gesetz. Sie zeigen, daß der Inhalt des Gesetzes in ihre Herzen geschrieben ist.“

Auch die Kirchenväter betonen immer wieder, daß auch unter den Heiden Tugenden herrschen, wie Uneigennützigkeit, Enthaltsamkeit. Zum Beispiel rühmt das der heilige Augustinus an seinem heidnischen Freunde Alypius. Er preist dessen Tugenden, und er lobt auch die Tugenden der alten Römer, also die Sparsamkeit, die Gewissenhaftigkeit, die Genauigkeit im Handel, die Gerechtigkeit in der Justizverwaltung. Wir müssen daran festhalten, daß auch Menschen ohne die Glaubensgnade, also Ungläubige imstande sind, sittlich gute Handlungen zu verrichten, wenn auch keine heilswirksamen Handlungen. Dazu ist die Gnade unbedingt erforderlich.

Freilich darf man die Möglichkeiten der menschlichen Natur nicht übertreiben. Und so muß man auch noch zwei andere Sätze hinzufügen, nämlich einmal: Es ist dem Menschen im Zustand der gefallenen Natur ohne übernatürliche Offenbarung nicht möglich, alle Wahrheiten über Gott und das Sittengesetz leicht, mit fester Gewißheit und ohne Beimischung von Irrtum zu erkennen. Die gefallene Natur ist nicht völlig verderbt. Sie hat ihre außernatürlichen Gaben verloren, aber sie ist als Natur erhalten geblieben und deswegen ist sie fähig, religiöse Wahrheiten und sittlichen Wahrheiten zu erkennen, aber keineswegs alle, vor allem nicht sicher, nicht mit fester Gewißheit und nicht ohne Beimischung von Irrtum. Damit wir alle Wahrheiten erkennen, damit wir sie sicher, mit fester Gewißheit und ohne Beimischung von Irrtum erkennen, dazu ist die Offenbarung, also das Heilswerk Jesu Christi, erforderlich.

Und ebenso gilt für die sittliche Bewährung: Wer im Stande der gefallenen Natur ist, der ist moralisch nicht in der Lage, alle schweren Sünden zu meiden und alle Versuchungen zu überwinden ohne die Gnade. Dies gilt ja schon, wie wir am vergangenen Sonntag gehört haben, für den Begnadeten. Ohne besondere Gnadenhilfe kann der Begnadete nicht in der Gnade ausharren. Erst recht muß natürlich dann die Gnade dem zu Hilfe kommen, der nicht in der Gnade lebt, muß die Gnade ihm ihre heilende Kraft schenken, muß die gratia sanans – die heilende Gnade -  ihm helfen, die Wunden seiner Seele zu heilen.

So sehen wir also, meine lieben Christen, wie der Mensch, der gefallene Mensch wirklich ist. Von diesem gefallenen Menschen schreibt der Apostel Paulus noch einmal im 7. Kapitel des Römerbriefes: „Ich weiß, daß in mir, das ist in meinem Fleische, nichts Gutes wohnt, denn das Wollen liegt mir nahe, aber das Vollbringen des Guten nicht. Ich tue ja nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich. Wenn ich aber tue, was ich nicht will, so wirke nicht ich es, sondern die in mir hausende Sündenmacht. Ich finde also, indem ich das Gute tun will, das Gesetz in mir, das mir das Böse anklebt. Ich freue mich an dem Gesetz Gottes nach dem inneren Menschen, aber ich sehe ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das dem Gesetz meines Geistes widerstreitet und mich gefangenhält.“ Danach ruft er aus: „Ich unglückseliger Mensch! Wer wird mich herausreißen aus diesem Leibe des Todes?“ Und dann kommt die beglückende Antwort: „Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus.“

Amen.

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