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Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Werke der Barmherzigkeit (Teil 2)

14. Dezember 1986

Die Werke der geistlichen Barmherzigkeit

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wir haben am vergangenen Sonntag erkannt, daß es beim Gericht nicht genügen wird zu sagen: Ich habe meinem Nächsten nichts Böses getan. Denn unser Herr und Schöpfer will, daß wir ihm Gutes tun. Wir haben eine Reihe von guten Taten namhaft gemacht unter der Überschrift: Werke der leiblichen Barmherzigkeit. Diese Werke sind zum größten Teil der Heiligen Schrift unmittelbar entnommen. Neben den Werken der leiblichen Barmherzigkeit gibt es aber auch solche der geistlichen Barmherzigkeit, also Werke, die es nicht mit materiellen Dingen, sondern mit geistigen Dingen zu tun haben. Es sind ebenfalls ihrer sieben: Unwissende belehren, Zweifelnden gut raten, Sünder zurechtweisen, Unrecht geduldig tragen, Beleidigern gern verzeihen, Betrübte trösten, für Lebende und Verstorbene beten. Das sind die sieben Werke der geistlichen Barmherzigkeit, also Taten, die aus der Liebe zum gefallenen, schutz- und hilfebedürftigen Geschöpf hervorgehen. Denn Barmherzigkeit ist ja die Liebe zum hinfälligen, zum erbarmungswürdigen Geschöpf.

Das erste Werk der geistlichen Barmherzigkeit heißt: Unwissende belehren. Diese Belehrung bezieht sich auf göttliche und irdische, auf ewige und zeitliche Dinge. Wer immer anderen in ihrer Unwissenheit beisteht, der erfüllt das Werk der geistlichen Barmherzigkeit. Natürlich gilt das in erster Linie für diejenigen, welche der Unwissenheit in religiösen Dingen abhelfen, also die Prediger des Glaubens, die Missionare, aber auch Eltern und Lehrer, die andere in den göttlichen Dingen unterweisen. Diese Menschen leisten dieses Werk der geistlichen Barmherzigkeit: Unwissende belehren. Wir wissen ja doch, meine lieben Freunde, wie groß die Unwissenheit in religiösen Dingen ist. Ich glaube, daß seit Menschengedenken nicht eine so ungeheuerliche Unwissenheit in Fragen der Religion war wie heute. Das hängt mit verschiedenen Dingen zusammen, mit der oft unzureichenden Ausbildung der Religionslehrer, mit dem schlechten Religionsunterricht, der vielfach erteilt wird, mit der wenig konkreten Verkündigung durch beamtete Träger der Glaubensverkündigung. Wir haben jedenfalls die heilige Aufgabe, soweit es an uns liegt und unsere Kräfte es gestatten, Unwissende zu belehren, indem wir sie mündlich oder durch Bücher und Schriften auf die Wahrheit aufmerksam machen.

Zweifelnden recht raten: Es wird wenig Menschen geben, die in allen Stationen ihres Lebens, an allen Kreuzwegen sich genau bewußt sind, in welche Richtung sie gehen sollen. Es werden uns Zweifel kommen über den Weg, den Gott uns führen will. Bei Entscheidungen ist es immer empfehlenswert, den Rat anderer einzuholen. Und diejenigen, die um Rat angegangen werden, haben die Möglichkeit, dieses Werk der geistlichen Barmherzigkeit zu üben. Freilich muß das mit großer Umsicht geschehen. Man muß sich fragen, ob man in der Lage ist, einen Rat zu erteilen, ob man über die fachliche Zuständigkeit verfügt, um einem anderen einen Rat zu geben. Man darf auch den Rat nicht aufdrängen. In der Heiligen Schrift wird uns mehrfach von Personen berichtet, die anderen geraten haben. Als der reiche Jüngling zu Jesus kam und ihn fragte, was er tun solle, da gab ihm der Herr den Rat: „Verkaufe alles, was du hast, und gib es den Armen, dann komm und folge mir nach!“ Und so ist aus diesem Rat, den der Herr gegeben hat, der evangelische Rat (also der Rat des Evangeliums) geworden, nämlich der Rat zur freiwilligen Armut. Als der Hohe Rat in Jerusalem beriet über die Christusbewegung, da gab der Schriftgelehrte Gamaliel ihm einen Rat. Er sagte nämlich: „Wenn diese Bewegung von Menschen ist, dann wird sie zerfallen, wenn sie aber von Gott ist, dann können wir sie nicht hindern.“ Er hat ihnen gut geraten. So sollen auch wir den Ratlosen Rat geben, wann immer wir es vermögen und verantworten können.

Sünder zurechtweisen: Das ist das dritte Werk der geistlichen Barmherzigkeit und zugleich das schwerste von allen. Wenn jemand einen Blinden an einem Abgrund stehen sieht, dann wäre es ein Verbrechen, ihn nicht zurückzureißen. Ähnlich ist es beim Sünder. Wer einen Sünder im Begriffe sieht, die Sünde zu tun, der hat die heilige Pflicht, ihn davon abzuhalten, wann immer es ihm möglich ist. Er würde sich schuldig machen, wenn er diese Pflicht versäumen würde.

Freilich gibt es bestimmte Umstände, die diese Pflicht näher umschreiben. Man kann verpflichtet sein, dem Sünder Zurechtweisung zuteil werden zu lassen aus Liebespflicht, aber auch aus Gerechtigkeitspflicht. Aus Liebespflicht sind wir verpflichtet, dem Sünder Zurechtweisung zuteil werden zu lassen,  gegenüber allen, aber eben in dem Maße, wie die Liebe verpflichtet, d.h. also: Man braucht den Nächsten nicht mehr zu lieben als sich selbst. Wenn Gefahr, wenn Schaden für einen selbst droht, dann zessiert diese Pflicht, dem Sünder Zurechtweisung zuteil werden zu lassen. Sie hört dagegen nicht auf bei demjenigen, der von Gerechtigkeits wegen verpflichtet ist, einen Sünder zurechtzuweisen, also etwa bei einem Priester oder bei den Eltern. Sie haben eine Pflicht der Gerechtigkeit, Sünder zurechtzuweisen. Man darf bei der Zurechtweisung freilich auch auf den Erfolg schauen. Besitzt die Zurechtweisung Aussicht, angenommen zu werden? Das darf man sich fragen. Und man hat zumindest das Recht, auf einen geeigneten Moment zu warten, auf den passenden Augenblick. Man wird einem Betrunkenen nicht Zurechtweisung wegen seiner Trunksucht zuteil werden lassen, denn sonst wird er wild. Man wird warten, bis er nüchtern ist. Und ähnlich ist es mit anderen. Man muß den geeigneten Zeitpunkt abpassen. Und man muß die Zurechtweisung in der richtigen Weise vornehmen, d.h. in einem dreistufigen Verfahren: zuerst unter vier Augen. Im Beisein anderer sind die Menschen noch empfindlicher als sie sowieso schon sind und lassen sich noch weniger sagen als unter vier Augen, deswegen zunächst unter vier Augen einen zurechtweisen. Wenn das nicht fruchtet, dann mit einem oder mit zwei Zeugen. Und wenn auch das nichts hilft, dann eben der Obrigkeit, dem Vorgesetzten es unterbreiten. Die Zurechtweisung muß auch mit den richtigen Worten geschehen. Die Menschen sind alle – ich sage: alle! – empfindlich. Sie lassen sich nicht leicht an ihre Fehler erinnern. Deswegen muß man schonend mit ihnen umgehen. Man muß möglichst sanftmütig zu ihnen sprechen. Es empfiehlt sich, zuerst etwas Lobenswertes zu sagen und dann die Zurechtweisung anzufügen und zum Schluß noch einmal eine Ermunterung zu geben. Wenn man es mit harten, scharfen Worten tut, dann nimmt der andere es nicht an. Das ist so wie mit dem Regen. Der Regen muß sanft kommen, langsam. Wenn er plötzlich kommt, also als Platzregen, dann befruchtet er die Erde nicht, dann fließt das Wasser rasch ab, es zerstört die Erdkrume, und der Schaden ist größer als der Nutzen.

So also, meine lieben Freunde, müssen wir das wichtige geistliche Werk der Barmherzigkeit verrichten: Sünder zurechtweisen.

Das vierte Werk lautet: Unrecht geduldig tragen. Das ist schwer. Denn das Unrecht, das uns widerfährt, das reizt unser Gerechtigkeitsgefühl. Wir möchten uns wehren. Wir möchten es dem anderen heimzahlen. Der natürliche Mensch schreit auf, wenn ihm Unrecht geschieht. Aber der übernatürliche Mensch trägt Unrecht geduldig. Wenn er nämlich Geduld hat mit dem, der ihm Unrecht zufügt, dann verhütet er, daß der andere weiteres Unrecht tut,  und er erleichtert ihm den Weg der Umkehr. Denn das ist immer so: Wenn jemand einen anderen schlägt, und der Betroffene schreit auf und wehrt sich und geht gegen den Schläger an, dann erneuert, ja dann verstärkt der erste Schläger seine Gewalt, und dann ist der Streit unabsehbar und führt zu den schlimmsten Folgerungen.

Nein, Unrecht geduldig ertragen ist ein Werk der Barmherzigkeit gegenüber dem anderen. Wir erweisen ihm damit Liebe, daß wir sein Unrecht ertragen. Ohne dieses Werk der Barmherzigkeit, meine lieben Freunde, geht es in keiner Ehe, geht es in keiner Familie, geht es in keiner Gemeinschaft. Wer sich immer und überall wehren will, wer niemals Unrecht ertragen will, der kann nicht auf Dauer in Frieden mit seinen Mitmenschen leben.

Im Gymnasium hatte ich einen barbarischen Direktor, der uns wahrhaftig wie den Auswurf behandelte. Aber auch dieser harte Mann hat uns manches Richtige gelehrt. Einmal sagte er zu uns: „Ihr müßt lernen, ungerechte Kritik zu ertragen!“ Jawohl, das muß man lernen! Das ist ein Werk der geistlichen Barmherzigkeit.

Beleidigern gern verzeihen: Die Beleidigung ist ein Pfeil, der uns trifft, und dieser Pfeil tut weh, er schmerzt. Aber das Werk der Barmherzigkeit, das hier angerufen ist, verzichtet auf Rache, bleibt freundlich gegenüber dem Beleidiger, ja sucht ihm Gutes zu tun. Wir müssen auch Verständnis haben für die Menschen, die uns beleidigen, meine lieben Freunde. Oft haben sie sich's nicht überlegt. Sie denken sich manchmal gar nichts dabei. Ein Wort ist schnell gesagt, das einen anderen tief zu treffen geeignet ist. Also auch da barmherzig sein gegenüber dem Beleidiger und an die Vaterunser-Bitte denken: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern!“ Nicht wahr, das sind ja doch diejenigen, die uns etwas schulden, die uns beleidigt haben. Aber wir wollen ihnen verzeihen, so wie es der Heiland uns vorgelebt hat, so wie es David mit dem Semmai tat, dem er verzieh, als er ihn einen Bluthund nannte und damit schwer beleidigte. Beleidigern gern verzeihen. Das sichert den Frieden, meine lieben Freunde, in der Ehe und in der Familie, auch am Arbeitsplatz und in der Gemeinschaft. Beleidigern gern verzeihen. Nichts nachtragen, nicht auf Rache sinnen, nicht Gleiches mit Gleichem vergelten, sondern feurige Kohlen auf dem Haupt des anderen sammeln dadurch, daß man gut ist zu dem, der böse zu uns war.

Betrübte trösten: Das ist das vorletzte Werk der geistlichen Barmherzigkeit. Der Mensch, der leidet, ist schon getröstet, wenn jemand mit ihm leidet. Das Mitleid ist tatsächlich eine große Hilfe. Und deswegen fordert der heilige Paulus auf: „Weinen mit den Weinenden.“ Wir sollen also die Menschen, die leiden, die leiden müssen, in unser Herz mit aufnehmen. Das Mitleid ist eine große Tat der Liebe. Wenn sich jemand an das Bett eines Kranken, eines Schwerkranken, eines unheilbar Kranken setzt, und es ist ihm anzuspüren, wie es ihn schmerzt, dann ist der Kranke schon getröstet.

Es gibt aber auch Trostgründe, die wir dem Betrübten vermitteln können. Dem Armen, dem Betrübten, dem Geschlagenen können wir den Hinweis geben auf die göttliche Vorsehung. Gott weiß, warum er diesen Schmerz geschickt hat. „Der liebe Gott, er schickt dir keinen nur darum, daß du wolltest weinen.“ So hat der Dichter es ergreifend formuliert. „Trifft dich ein Schmerz, so halte still und frag' dich, was Er von dir will! Der liebe Gott, er schickt dir keinen, nur darum, daß du solltest weinen.“ Man kann den Betrübten auch trösten in der Hoffnung auf den jenseitigen Ausgleich. Auf Erden gibt es oft keine Gerechtigkeit, aber die ewige Gerechtigkeit Gottes hat ihre Stunde. Sie wird einmal sprechen und den großen Ausgleich herbeiführen. Betrübte trösten, am wirksamsten natürlich durch Hilfe, wie sie der Heiland erwiesen hat, etwa der Witwe in Naim, als er ihren Sohn erweckte und ihn ihr zurückgab. Soweit es uns möglich ist, sollen wir also werktätige Hilfe mit der geistlichen verbinden und dadurch dem Betrübten Trost verschaffen.

Das letzte Werk der geistlichen Barmherzigkeit ist Beten für Lebende und Verstorbene. Ich habe noch niemals einen Menschen getroffen, meine lieben Freunde, der sich dagegen gewehrt hätte, wenn ich ihm sagte: „Ich werde für Sie beten.“ Das hat nach meiner Erfahrung ein jeder gern, das tut ihm wohl. Natürlich muß man es auch tun, man muß erfüllen, was man versprochen hat, aber das ist wahrhaft ein Werk der Barmherzigkeit, dem sich selbst der Ungläubige nicht verschließt; denn auch der Ungläubige hat in seiner Seele irgendwie das Gespür: Es muß doch etwas geben – so haben mir schon manche gesagt – es muß doch etwas geben. Und das ist ja richtig: Es muß etwas geben über Materie und Energie hinaus, nicht wahr, es muß etwas geben, eine planende göttliche Vernunft, eine lenkende göttliche Weisheit, eine jedem das Seine schenkende göttliche Gerechtigkeit. Es muß etwas geben.

Und das eben, meine lieben Freunde, das versichern wir dem, dem wir sagen: Ich werde für dich beten.

Für Lebende und Verstorbene beten; natürlich zuerst für unsere Angehörigen, dann für die Obrigkeit in Staat und Kirche. Diese Ordnung wird uns ja schon im ersten Timotheusbrief vorgeschrieben. Beten für die uns Anvertrauten. Es darf kein Tag vergehen, an dem wir nicht unsere Hände flehend zum Himmel erheben und für die beten, die Gott uns an die Seite gestellt hat. Und es ist ein heiliger und heilsamer Gedanke, für die Verstorbenen zu beten, daß sie von ihren Sünden erlöst werden. Freilich höre ich da die Klage: Mein Gebet wird nicht erhört, ich sehe nichts von der Erhörung. Ja, das sind zwei verschiedene Dinge. Mein Gebet wird nicht erhört – ich sehe nichts von der Erhörung. Die heilige Gertrud hat sich einmal bei Christus beklagt, daß sie die Frucht ihrer Gebete nicht sehe; und sie hörte – diese große Mystikerin – sie hörte Christus zu ihr sprechen: „Kein treues Gebet bleibt ohne Frucht!“ Auch wenn der Mensch diese Frucht, die Art und Weise, wie diese Frucht erwächst, nicht sieht.

So wollen wir beten, weiterbeten, zuversichtlich, beharrlich, hoffnungsvoll beten und auf diese Weise Almosen über die streuen, die davon gar nichts wissen, vielleicht nichts davon wissen wollen.

Das sind die sieben Werke der geistlichen Barmherzigkeit. Sie sollen uns in dieser Adventszeit lebendig vor Augen stehen. Wir wollen sie üben, wir wollen auf diese Weise unsere Berufung fester machen. Wir wollen dem Heiland die Geschenke unserer Barmherzigkeit ans Kripplein bringen, damit wir nicht mit leeren Händen vor diesem Wunder der Weihnacht stehen.

Amen.

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