Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
Ostern
30. April 2023

Die kleine Weile

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

„Eure Freude wird niemand von euch nehmen.“ Wie froh, fest und sicher das klingt. Alle Evangelien an den Sonntagen nach Ostern sind aus den Abschiedsworten Jesu genommen und wollen uns Trost sein. Die Liturgie bietet sie uns so fest dar, als wären sie nach der Auferstehung gesprochen, um zwischen Auferstehung und Himmelfahrt unmittelbar vor dem Abschied Jesu die Jünger in ihrer Traurigkeit über den Verlust des Meisters zu trösten und sie zu stärken für ihre Aufgaben. Die Worte, die wir heute vernehmen, bedeuten auch für uns die Auflösung dreier Gegensätze und Spannungen im Christenleben.

I. Von den Rätseln zur Klarheit

Der Herr sprach zu den Jüngern: „Noch eine kleine Weile, und ihr werdet mich nicht mehr sehen, und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich wiedersehen, denn ich gehe zum Vater.“ Sie aber fragten, weil seine Worte ihnen rätselhaft waren: „Was will er uns damit sagen?“ „Was ist das: eine kleine Weile?“ „Was ist das: Ich gehe zum Vater? Wir verstehen nicht, was er sagt.“ Manche Ausleger haben gemeint, der Herr spreche von seinem Weggang von der Erde bei der Himmelfahrt und seiner Wiederkunft am Ende der Welt. Das ist für den zeitlosen Gott „eine kleine Weile“. Augustinus legt diese Stelle so aus: „Eine kleine Weile ist der ganze Zeitraum, in dem die gegenwärtige Weltzeit läuft. Vor dem großen, unendlichen Gott ist die ganze Erdenzeit nur eine kleine Weile. Denn vor Gott sind tausend Jahre wie Tag und ein Tag wie tausend Jahre.“ Gott hat ein wesentlich verschiedenes Verhältnis zur Zeit als wir Menschen. Ewig ist der lebendige Gott, ewig ist der Sohn Gottes, ewig ist die Herrschaft Christi und sein Priestertum. Die Unendlichkeit Gottes ist die Ewigkeit. Die Ewigkeit Gottes besagt die absolute Erhabenheit des göttlichen Seins über alle Zeitlichkeit und jedes Zeitmaß. Das göttliche Sein besitzt ständige lautere Gegenwart der Dauer. Gottes Ewigkeit schließt Anfangslosigkeit und Endlosigkeit ein. Sie ergeben sich aus Gottes Aseität und absoluter Notwendigkeit. Die völlige Sukzessionslosigkeit seiner Dauer ergibt sich zwingend aus Gottes absoluter Unveränderlichkeit und Freiheit von jeder Potentialität im esse subsistens.

Jedes geschaffene Sein ist seiner Natur nach vergänglich. Erst recht gilt das von jedem einzelnen Menschenleben im ununterbrochenen Strom der Zeiten, in dem Welle auf Welle folgt. Wie sind sich die Erdzeiten gefolgt vom Quartär, Tertiär, Kreide, Jura, Trias, Perm, Karbon, Devon, Silur, Kambrium! Wie haben sich die Völker der Erde raschen Zuges abgelöst im Laufe der Weltgeschichte! Hethiter, Ägypter, Babylonier, Perser! Wie ist eine Kultur auf die andere gefolgt! Der einzelne Mensch hat seine Zeit, in der er auf Erden sein Leben vollziehen soll. Die Zeiträume sind für jeden verschieden. Manche sterben jung, andere werden alt. Aber niemand entgeht der Vergänglichkeit. Sterblicher, du musst sterben! Die Rätsel alles irdischen Geschehens für den Einzelnen wie für die ganze Menschheit lösen sich nur im Licht des Glaubens und in der Hoffnung auf die Ewigkeit: „Die Welt vergeht mit ihrer Lust; wer aber den Willen meines Vaters tut, bleibt in Ewigkeit.“ Die Rätsel des Lebens lösen sich nur im Glauben und Hoffen, in der Verheißung Christi: „Ich gehe zum Vater.“ Der Mensch Jesus von Nazareth hat seine irdische Laufbahn vollendet. Die Aufgabe, die ihm der himmlische Vater gestellt hat, ist mit den reichlich dreißig Jahren dieses Lebens gelöst. „Es ist vollbracht“, konnte der Gekreuzigt sagen, bevor er sich dem ewigen Vater empfahl. Das Menschenleben hat seine eigentliche Bedeutung als Weg zu Gott. Eine gewisse Anteilnahme an der Ewigkeit Gottes schenkt dem erlösten Menschen das ewige Leben. Ewig sind die eschatologischen Güter: die Herrlichkeit (2 Kor 4,17f.; 1 Petr 5,10), die himmlischen Wohnungen (Lk 16,9; 2 Kor 5,1), das unerschütterliche Reich (Hebr 12,28; 2 Petr 1,21), die Erlösung (Hebr 9,12), das Erbe (Hebr 9,15), die bleibende Stadt (Hebr 13,14). Erwecken wir in dieser Osterzeit den festen, lebendigen Glauben, die tiefe, innere Hoffnung auf die Unsterblichkeit und Ewigkeit. Ich glaube an ein ewiges Leben.

II. Von der Trennung zur Gemeinschaft

Das Wort von der kleinen Weile bedeutet in jedem Fall das Scheiden Jesu. Wie hart war den Jüngern der Abschied von ihrem Herrn und Meister! „Ihr werdet mich nicht mehr sehen.“ Wie ein Blitz fuhr dieses Wort in ihre Seele. Es bedeutete Trennung von ihm. Trennung und Abschied ist jedem Menschenleben auferlegt und bedeutet immer etwas Schweres. Wir hängen am Leben, und wir lieben jene, mit denen uns das Leben verbunden hat. Es schmerzt uns, wenn sie von uns gehen. Und nun gar die Trennung der Erwählten Jesu von ihrem Herren! Die Jünger waren lebendig und liebevoll mit ihrem Meister verbunden. Er hatte sie berufen aus ihrem schlichten Leben. Er hatte sie zu seinen Jüngern gemacht. Er hatte sie gelehrt mit seiner Offenbarung. Er hatte sie geführt auf den gemeinsamen Wanderungen. Sie waren dankbar. Die Jünger wussten um die Einmaligkeit ihrer Gemeinschaft mit dem Herrn. Es war ihnen klar, dass es dafür keinen Ersatz gab. Und jetzt war mit dem Kreuz und dem Grab alles zu Ende. Kein Wunder, dass die Jünger von Gram und Wehmut, von Jammer und Trübsal erfüllt waren. Jesus hatte es ihnen vorhergesagt. Sein Scheiden von ihnen wird sie in solche Trauer versetzen, dass sie in Weinen und Wehklagen ausbrechen. Diese Trauer hat ihre Ursache in dem Alleinsein der Jünger in der Welt, die sie hasst; es ist die Situation der völligen Verlassenheit in der Welt und der ständigen Bedrohtheit durch die Welt. Das wird dadurch deutlich, dass Jesu Fortgang bei der Welt Freude auslöst; sie empfand seine Anwesenheit als beständigen Angriff auf sich und meint nun, von dem lästigen Mahner befreit zu sein. Der bittere Tod trennt die Jünger von ihrem Meister. Die Trennung ist ein großer Schmerz, der menschlich nicht zu ertragen wäre, wenn er nicht gemildert würde durch das Bewusstsein, es geht durch die Trennung zu einer neuen Gemeinschaft in Gott. „Ich werde euch wiedersehen, und euer Herz wird sich freuen, und eure Freude wird niemand von euch nehmen.“ Jesus scheidet nicht für immer, sondern er wird sie wiedersehen. Die Trennung sollte nicht endlos sein. „Eine kleine Weile, und ihr werdet mich wiedersehen.“ Nach der Auslegung, der ich den Vorzug gebe, bezieht sich das vorhergesagte Wiedersehen auf die Erscheinungen des auferstandenen Christus. Die Zeit ihrer Verlassenheit wird nur von kurzer Dauer sein, da sie ihn in Bälde wiedersehen werden. Das Nichtmehrsehen dauerte vom Abend des Karfreitags bis zum Morgen des folgenden Sonntags. Es war wirklich nur eine kleine Weile. Die Jünger haben den Auferstandenen gesehen, sie haben mit ihm gesprochen, er gab ihnen Vollmachten und Aufträge. Die vierzig Tage des Wiedersehens genügten Jesus, um seine Jünger im Glauben zu befestigen, für ihre Sendung auszurüsten und mit Hoffnung zu erfüllen. Mit der Hoffnung auf ein Wiedersehen und ein Beisammensein ohne Ende. „In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen. Ich gehe hin, euch eine zu bereiten. Wenn ich sie bereitet habe, werde ich kommen und euch zu mir holen, damit ihr dort seid, wo ich bin.“ Das ist der christliche Trost bei allem Sterben, an jedem Grabe. Über alle Gräber strahlt das österliche Licht. Der gleiche Tod, der uns auf kurze Zeit trennt, führt die Getrennten im ewigen Lande Gottes wieder zusammen. Daran glauben wir, darauf hoffen wir und bauen wir. Der auferstandene Christus ist unser Tröster. Unsere Erwartung ist nicht eine Einbildung, nicht ein Hirngespinst, nicht ein Wunschtraum. Nein, sie gründet auf einer unumstößlichen Tatsache: auf der leibhaftigen Auferstehung des gestorbenen Jesus von Nazareth. Er ist nach blutiger Kreuzigung lebendig geworden. Nicht für sich allein, sondern für die gesamte Menschheit, die er gewissermaßen in sich trug. Er ist der Mittler. Er ist der neue Adam, dem alle folgen werden, die seine Menschennatur tragen. Was an ihm geschah, muss und wird an allen geschehen, die an ihm Anteil haben. In der Epistel des heutigen Sonntags mahnt uns Petrus, uns selber hienieden als „Fremdlinge und Pilger“ anzusehen. Fremdlinge sind nicht heimisch an dem Ort, an dem sie sich befinden. Pilger sind ständig unterwegs, bis sie das Ziel der Pilgerschaft erreicht haben. Damit sie am heiligen Ort ankommen, müssen sie sich so verhalten, wie es Pilgern geziemt. Daher mahnt uns der Apostel, dass wir uns enthalten der fleischlichen Lüste, die wider die Seele streiten. Er mahnt, einen guten Wandel zu führen unter den Heiden.

III. Von der Trauer zur Freude

Das Bewusstsein des Abschieds bleibt über der Jüngerschar wie eine dunkle Wolke stehen. Aber hinter dieser Wolke glüht die Sonne. Durch die Wolke blickt das Sonnenlicht hervor. „Ihr habt jetzt zwar Trauer, aber eure Traurigkeit wird in Freude verwandelt werden. Ihr werdet weinen und wehklagen, und die Welt wird sich freuen.“ Jesus verließ sie. Sein Beruf auf Erden schloss den Sühnetod ein. Er vertauschte die selige Wanderschaft in Galiläa und Judäa mit einem Grab. Die Jünger wurden Zeugen des Abschieds von einem Gekreuzigten. Aber so wird es nicht bleiben. In einer unvorstellbaren Wandlung lässt Gottes Macht den getöteten Herrn aus dem Grab ersteigen. „Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist nicht hier, er ist auferstanden.“ Etwas Unerwartetes, etwas schier Unglaubliches ist geschehen. Jesus hatte es vorhergesagt. Die tiefe Traurigkeit der Jünger wird in jubelnde Freude verwandelt werden, die den überstandenen Schmerz vergessen lässt. Der Herr vergleicht die Stunde des Abschieds mit der schweren Stunde einer Frau, die ein Kind gebiert. „Hat sie aber das Kind zur Welt geboren, so denkt sie nicht mehr an die Not, aus Freude darüber, dass ein Mensch zur Welt geboren ist.“ Die wahre Freude des Christen wird immer aus Schmerzen geboren. Sie kommt aus der Reue über Sünde und Schuld. Dann heißt sie Friede. Sie kommt aus dem durchfochtenen Kampf. Dann heißt sie Sieg. Sie kommt aus dem durchlittenen Leid. Dann heißt sie Glück. Die Freude über Jesu Wiederkehr ist von solcher Art, dass sie ihnen niemand nehmen kann. Die Erscheinungen des Auferstandenen geben den Jüngern die unbesiegbare Gewissheit, dass er lebt und dass sein Scheiden nur der Hingang zum Vater war. Die Erscheinungen sind auch die Garantie dafür, dass ihre Verlassenheit zu Ende ist und sie in lebendiger Gemeinschaft mit dem erhöhten Herrn stehen, so dass der Hass der Welt ihnen nichts anhaben kann.

Diesen Zusammenhang übersehen oder missachten viele Christen. Sie begreifen nicht oder wollen nicht begreifen, dass der Weg zum Himmel über Golgotha führt. Von ihnen sagt das Buch von der Nachfolge Christi: Jesus hat jetzt viele Jünger, die im himmlischen Reiche gern mit ihm herrschen möchten, aber wenige, die sein Kreuz auf Erden tragen wollen. Er hat viele, die mit ihm essen und trinken möchten, aber wenige, die mit ihm fasten wollen. Viele folgen Jesus nach bis zum Brotbrechen beim Abendmahle, aber wenige  bis zum Trinken aus dem Leidenskelche. Christus führte die Jünger mit sich auf den Kreuzweg und danach zum Triumph des Ostertages. „Damit meine Freude in euch sei und eure Freude vollkommen werde.“ Darum mahnt er uns: „Euer Herz betrübe sich nicht und fürchte sich nicht!“ Über den Ölberg und über Golgotha führt die Straße zum Licht und zum Leben, zum ewigen Licht und ewigen Leben Gottes. Christen glauben immer, auch im tiefsten Leid, an den Sieg und die Freude, weil sie an die Ewigkeit Gottes glauben.

Amen.

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