Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
13. November 2022

Apostolische Vornehmheit und Verantwortung

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wir haben am vergangenen Sonntag davon gesprochen, dass apostolisch tätige Menschen vor allem drei Eigenschaften haben müssen, um wirksam auf andere einwirken zu können, und wir haben Überlegungen über die erste dieser Eigenschaften angestellt, die Feinfühligkeit. Die zwei anderen Haltungen, die der apostolische Dienst neben der Feinfühligkeit verlangt, sind Vornehmheit und Verantwortung.

Vornehmheit besteht darin, dass man sich selbst nicht aufdrängt und andere gelten lässt. Man sollte im Wirken bei den Menschen, auch bei den Kindern, den Grundsatz haben, selbst möglichst im Hintergrund zu bleiben, möglichst wenig aus sich selbst zu machen. Die Menschen sollen uns selbst am wenigsten spüren, sondern in erster Linie die Sache, die wir betreiben, die Wirklichkeit, in der wir leben. Darum sich nicht vordrängen! Alles Vorlaute, Aufdringliche, Eigenwillige, Sonderbare, was an einem Menschen ist, stört. Darum ist es schon ein Gebot der Klugheit, dass man aus vornehmer Gesinnung möglichst wenig von sich redet oder von sich erzählt. Es gibt Menschen, die jedes Wort eines anderen als Sprungbrett zu sich selbst benützen. Wir sollten nur in dringenden Fällen von uns selbst sprechen, auch in Gesellschaften. Die Kunst ist, eher andere zum Reden zu bringen, als selber zu sprechen. Nur ein törichter Mensch ist versucht, jedem seine Meinung zu sagen. Die Vornehmheit verlangt, dass man andere gelten lässt, ihnen Freiheit lässt, wo nicht die dringende Notwendigkeit besteht, sie einzuschränken. Wenn man etwas für gut und notwendig hält, braucht man andere nicht dazu zu zwingen. Man kann es ihnen vorlegen. Man kann sie bei ihrer Meinung belassen, selbst wenn sie verkehrt ist. Man kann sie sogar in ihrem Irrtum belassen, solange er ihnen nicht wesentlich schadet. Man kann ihnen ihre Illusionen belassen, solange wir nicht aus unserem Amt heraus verpflichtet sind, sie ihnen zu nehmen. Lassen wir den Menschen auch ihre Neigungen, solange sie harmlos sind. Ertragen wir ihre Neigungen, auch wenn sie uns lästig sind. Vornehmheit verlangt Respekt vor dem anderen, vor ihrem Gewissen, ihren Meinungen, ihren Neigungen. Der Grund der vornehmen Gesinnung ist einmal eine innere Bescheidenheit und zum anderen ein gesundes Selbstvertrauen. Wem es an einem von beiden fehlt, der kann seine Mitmenschen nicht in Ruhe lassen.

Wir brauchen schließlich Verantwortlichkeit. Verantwortlichkeit gegenüber den Menschen, mit denen wir umgehen. Wir haben Verantwortung, weil wir vieles verderben und vieles gutmachen können. Negativ: Die Menschen brauchen Schonung. Der Mensch ist ein sehr gebrechliches Wesen. Sein Leib ist ziemlich empfindlich, hält aber viel aus. Die Seele ist ungeheuer empfindlich. Jede Störung wirkt nach bis ins Alter. Es kann sein, dass in einer Menschenseele alles für immer gelähmt wird – durch ein einziges Ausgelachtwerden in der Jugend. Wir können nicht alles durchgehen lassen. Es gibt Situationen, in denen wir korrigieren, missbilligen, rügen müssen. Damit ein Verweis Nutzen bringe, muss es den Tadelnden etwas kosten, ihn zu erteilen; man muss ihn geben, ohne dabei im Herzen auch nur den Schatten einer Leidenschaft zu hegen. Der herbste Tadel lässt sich ertragen, wenn man fühlt, dass derjenige, der tadelt, lieber loben würde. Es braucht Rücksicht im Lob und im Tadel, im Schweigen und im Reden. Rücksicht auf die Individualität eines Menschen, dass man nichts entmutigt, nichts verletzt, nichts zerstört. Es gilt, sich mit Verantwortlichkeit in ihn zu versenken. Was man im täglichen Umgang an Missachtung zeigt, das geht tief.

Das zweite, was die Verantwortlichkeit verlangt, ist die Wahrhaftigkeit. Man muss ganz allgemein bei der Wahrheit bleiben in allem, was man zu einem Menschen sagt. Man kann den Menschen die Wahrheit sagen. Aber wie? Als sein Verbündeter. Die Menschen müssen fühlen: Dieser Mann, diese Frau, sie meinen es gut mit mir; sie überlegen mit mir zusammen, was man in einer bestimmten Lage machen kann. Wenn sie mir etwas Schmerzliches sagen, müssen sie spüren: Es ist ihr eigenes Leid. Das müssen die Menschen fühlen. Wahrhaftigkeit, Erbarmen und Liebe müssen ein Ganzes bilden. Man kann den Menschen die Wahrheit sagen, aber in guter Weise, in wohlwollender Weise.

Dann verlangt die Verantwortlichkeit, dass man den Menschen zu helfen versucht. Wir rufen die meisten Konflikte hervor durch Einmischung in Angelegenheiten, die uns nichts angehen. Lassen wir die Menschen, die uns nicht anvertraut sind, tun, was sie wollen. Im Allgemeinen verlangt die Verantwortlichkeit eher, dass wir nichts tun; dass wir uns heraushalten, wo wir nicht die Pflicht zum Handeln haben. Sich einmischen in die Händel anderer will dreimal überlegt sein. Positiv: oft genug wird der Fall sein, dass wir helfen müssen. Dass wir uns verbunden, solidarisch fühlen mit dem Nächsten, das ist uns aufgetragen. Aus der Solidarität kommt die Bereitschaft ihm zu helfen. Aber auch tatsächlich helfen! Da ist die beste Hilfe die indirekte. Meistens kann man direkt nicht helfen; man kann den Menschen ihre Leiden nicht abnehmen. Aber man kann ihnen sonst das Leben erleichtern. Ich denke an eine gütige Frau, eine gute Mutter. Der Mann hat viele Sorgen, Schwierigkeiten, Verdruss. Wenn er heimkommt, ist er übel gelaunt, hat den Kopf voll Ärger. Die Frau kann ihm durch ihr Wesen, ihre Art, ihr Zuhören die Stirn wieder glätten, die Sorgen verscheuchen. So können wir vielleicht vielen Menschen Gutes tun und ihnen das Leben aufhellen, obgleich ihr Kreuz bleibt.

Direkte Hilfe ist für viele Menschen Sache des Berufs. Auch hier ist Vornehmheit gefragt; nicht den Menschen etwas aufdrängen, was sie nicht wollen, was sie nicht brauchen, wofür sie nicht reif sind. Die direkte Hilfe muss mit Taktgefühl, Vornehmheit, Schonung geleistet werden. Durch Geduld. Durch Zuhören. Durch (echte, nicht gespielte) Anteilnahme. Aus den kleinen Gefälligkeiten, den frohen, stillen Taten der Liebe spricht unendlich mehr Menschenfreundlichkeit als aus manchen großen Geldspenden.

Nun ist auch von Bedeutung, wie die Menschen auf uns wirken. Wie sollen wir sie auf uns wirken lassen? Zunächst mit innerer Freiheit, unabhängig von Verlangen und Furcht, von Verlangen den Menschen zu gefallen, von ihnen geliebt oder geehrt zu werden, von Furcht, ihnen zu missfallen, sie zu verlieren, nicht vor ihnen bestehen zu können. Es gilt, sich freizuhalten von Furcht und Verlangen. Für sich selbst nichts begehren, aber geben, was man kann. Nichts verlangen, nichts versagen, das ist ein guter Grundsatz für den Umgang mit Menschen.

Wir sollen anderen mit Beweglichkeit begegnen. Wir sind oft zu starr. Wir wollen nichts von anderen annehmen, wir wollen ihre Gedanken nicht auf uns wirken lassen. Sehen wir lieber zu, ob wir nicht etwas Annehmbares an ihnen finden. Wohl keiner sagt nur völlig Unsinniges; von den meisten kann man etwas lernen. Wir sollten dies auch ihnen zeigen, indem wir sagen: „Ich habe von Ihnen gelernt.“ Im Handeln kann man elastisch sein, etwas annehmen, in unwesentlichen Dingen nachgeben. Oft ist einer glücklich, wenn ein Vorschlag von ihm angenommen wird; dann ist er häufig bereit, auf unsere Vorschläge einzugehen. Zur Beweglichkeit gehört Bereitschaft, sich selbst zu verbessern. Wir können irren. Wir sollen uns von anderen korrigieren lassen und das ändern, was zu ändern ist. Es schadet der Autorität nicht, wenn wir sagen: „Ich habe mich getäuscht“, „Das habe ich vergessen“, „Ich bedauere, dass ich das getan habe“. Und man soll es dem Betreffenden sagen: „Ich habe mich auf Ihre Vorstellung hin gebessert.“ Es ist kaum zu glauben, wie wundervoll das wirkt.

Es gibt keinen echten Christen ohne Liebe. Es gibt aber auch keinen echten Christen ohne apostolischen Geist. Der hl. Augustinus hat einst geschrieben: „Ich mag nicht allein den Herrn verherrlichen; ich mag nicht allein ihn lieben; ich mag nicht allein ihn umfangen.“ Der apostolische Beruf verlangt Menschen, die der Welt gekreuzigt sind; Menschen, die sich selbst verlassen, um in Christus einzugehen. Die Apostel der Kirche werden um so mehr in der Welt wirken, je weniger sie selber Welt sind. Jede Weltbekehrung muss mit der Selbstbekehrung anfangen. Nur von den Verwandelten können Wandlungen ausgehen. Man kann andere Menschen nur zu dem bekehren, was man ihnen selber vorlebt. Gewiss darf man eine Seele nur mit Heilandshänden anfassen, vorsichtig und nachsichtig, aber der Gedanke darf uns nicht loslassen: Wir sind mitverantwortlich für die Seele des Mitmenschen.

Amen. 

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