Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
1. November 2021

Die Heiligen

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wir begehen heute das Fest Allerheiligen. Wir erinnern uns der Menschen, die in der Nachfolge Christi heroische Tugend erworben haben und von der Kirche als mit Gott Vereinigte erklärt worden sind. Es ist eine ganz verschiedene seelische Haltung, ob man an die Heiligen denkt, wie sie im irdischen Leben wandelten, oder ob man sie als verklärte und vollendete Bewohner der Ewigkeit glaubt. Die Heiligen auf Erden sind nicht nur die von der Kirche feierlich heilig gesprochenen Menschen. Dazu gehören auch alle gottverbundenen und gottliebenden Menschen, die es je gab: die Menschen der großen religiösen Kraft und der heroischen sittlichen Vollendung, die Menschen Gottes und die Menschen der Güte. Es waren ihrer viele, eine große Schar, die niemand zählen kann, aus allen Stämmen und Völkern, aus allen Zeiten und Zungen. Die einen lebten in versunkenen Jahrhunderten, die anderen sind noch durch unsere Städte und Dörfer gegangen. Es überfällt uns immer wieder ein frohes und zugleich wehmütiges Staunen und eine Art Heimweh, wenn wir an sie denken. Was ist denn an ihnen so merkwürdig, so außerordentlich gewesen, so ganz anders als bei der großen dunklen Masse der Menschheit, die wir nur allzu gut kennen? Diese heiligen Menschen sind die einzigen Menschen, die wahrhaft unvergesslich sind. Unvergesslich nicht durch den Bericht unserer Geschichtsbücher; denn die meisten stehen überhaupt nicht in unseren Büchern. Unvergesslich sind sie für unser Herz. Sie sind die Menschen, an die man nur mit Liebe denkt und zugleich mit Freude und Sehnsucht. Es sind die einzigen Menschen, denen kein Fluch in die Ewigkeit nachgerufen wurde. Acht Jahrhunderte ist es her, seit Franz von Assisi nicht mehr auf Erden wandelt. Aber die Herzen der Menschen schlagen in unverminderter Liebe und Dankbarkeit für ihn. Sechzehn Jahrhunderte sind es, seit Augustinus starb. In seiner Sterbestunde überzogen die Wandalen seine Bischofsstadt mit Brand und Mord. Der Vandalismus ist seitdem in der Menschheit immer wieder siegreich gewesen. Dennoch ist der Name Augustinus, ist die Geistesgröße und Herzenswärme dieses Heiligen uns unvergesslich geblieben. Zweitausend Jahre sind vergangen, seit Paulus an der Straße nach Ostia enthauptet wurde. Doch heute noch knien Pilgerscharen nieder an seinem Grabe und beten dort ergriffen und dankbar, wie man nur im Namen des Geistes und der Freiheit beten und danken kann.

Warum sind die Heiligen unseren Herzen so nahe geblieben? Weil sie einzigen wirklichen und großen Wohltäter der Menschheit waren. Von ihnen ist keine Mordwaffe erfunden und kein Krieg entfesselt worden, kein Hass und kein Streit ausgegangen. Im Gegenteil! Sie haben die Zwietracht zu heilen versucht, haben die harten Herzen weich gemacht, haben die mutlosen Herzen höher schlagen lassen, haben die Herzen der Reichen weit und die Herzen der Armen froh gemacht; sie haben zu den Mächtigen stolz und frei, zu den Unterdrückten aber sanft und mütterlich geredet; sie haben die Wölfe gezähmt und die Lämmer beschirmt; sie haben dem Blinden als Auge gedient und dem Lahmen als Fuß, sie waren wie ein Vater gegen den Armen. Sie waren die Menschen, die wirklich die Erde wohnlicher und das Leben heller gemacht haben. Nicht durch Erfindungen einer besseren Beleuchtung oder einer gesünderen Wohnweise, sondern indem sie bessere Beziehungen unter den Menschen geschaffen haben, gute und friedvolle und einträchtige Beziehungen. Sie haben dazu verholfen, dass sich die Menschen besser verstehen und untereinander vertragen. Davon hängt doch schließlich zumeist alles wirkliche Glück ab, das wir hienieden besitzen können.

Darum ist nicht bloß ihre Person, sondern auch ihr Werk unvergesslich und dauerhaft geworden auf Erden. Was die Heiligen geschaffen haben, das möchte niemand wieder zerstören, der es gut meint mit den Menschen. Die Reichsgründungen der großen Eroberer haben von Anfang an Feinde gehabt, die auf ihre Zerstörung ausgingen, aber die Barmherzigen Schwestern, die Vinzenz von Paul gegründet hat, möchte niemand aus unserem Leben wegwünschen. Die Werke des Erziehers Johannes Bosco kann niemand zerstören wollen, der die Jugend liebt. Was der heilige Franz gesungen hat, was der heilige Augustinus geschrieben hat, was Fra Angelico gemalt hat, das kann niemand hassen, das kann man nur lieben und verehren. So sind die Heiligen auch unsere Tröster. Sie geben uns immer wieder den Glauben an die Menschen und an die Menschheit, den Glauben an uns selbst, weil sie den Glauben an unsere Ideale, an das Gute und an das Helle immer wieder auffrischen. Denn sie sind Menschen gewesen, in denen der Geist und die Güte mächtig und siegreich waren.

Sonst sehen wir immer die Übermacht der Finsternis auf Erden, der Gewalt und der Sünde, oder wenigstens die Übermacht des Zufalls und des Schicksals. Die Menschen, die sonst zu den Großen gerechnet werden, die großen Kaiser, die großen Feldherren, die großen Staatsmänner haben ihr Werk zum größten Teil der Gunst der Zeit und der Verhältnisse oder der Gewalt der Waffen und dem Blut ihrer Völker oder der Rücksichtslosigkeit ihres Denkens und der Skrupellosigkeit ihres Wollens zu verdanken gehabt. Aber kein Heiliger hat durch solche Mittel gewirkt. In ihnen allein ist endlich auch einmal die Gewissenhaftigkeit, die Güte, die Sanftmut, das Erbarmen und das Mitleid, die Liebe und die Treue zu einem Erfolg, ja zu einem Siege gelangt. In ihnen hat nicht eine Institution, nicht eine Gewohnheit, nicht eine Leidenschaft oder ein Trieb, nicht eine Naturgewalt gesiegt, sondern die Persönlichkeit, die Freiheit und die Gnade. Endlich einmal sehen wir da Bahnbrecher, die nicht mit Gewalt eine Mauer zum Einsturz bringen, sondern still wie ein lebendiger Keim, lautlos wie das Licht ihren Weg nehmen. Da sind endlich einmal auch Führer, die nicht durch ihre Kommandostimme, sondern durch ihr Schweigen und Leiden uns zu Führern wurden.

Ja, sind denn die Heiligen unsere Führer? Können wir ihnen folgen? Vermögen wir es, sie nachzuahmen? Die Heiligen waren Menschen wie wir, in einer bestimmten Zeitlage, in einer bestimmten Geistesverfassung, mit einer gewissen größeren oder geringeren Höhe der Bildung, des Talents, der Begabung. Sie gehören somit auch ihrer Zeit an mit allem, was sie dachten und taten, sind also relativ wie alles Zeitliche. Vieles an ihnen war nur einmal möglich, nur einmal praktisch, nur einmal zulässig und klug. Es wäre sinnlos, sie in allen Einzelheiten ihres Lebens oder gar in allen Zügen ihres Wandels nachahmen zu wollen. Aber etwas an ihnen war absolut, ewig und unvergänglich, nämlich Gott, Gott in ihnen. Dass Gott in ihrer Mitte stand, in der Mitte ihres religiösen und sittlichen Lebens, in der Mitte ihres Liebens und Schaffens, das ist etwas Absolutes, was an keine Zeit gebunden ist. Denn Gott gehört jeder Zeit an, er ist der Ewige. Dass man Gott dienen kann auch in dieser Welt und dass man dieser Welt dienen kann auch im Gottsuchen, das ist das Wundervolle, das allgemein Gültige und das Unvergängliche an dem Beispiel der Heiligen. Das ist ihre Tat. Es ist also nicht wahr, dass in unserer Welt, in unseren Großstädten, auf unseren Straßen, in unserem Berufsleben, in unserer Arbeit, in unseren Freuden und Leiden Gott nicht zu finden ist, dass man ihn zurückstellen und vergessen muss in dem Leben, wie wir es führen. Es ist nicht wahr, dass der Gedanke an Gott und die Liebe zu Gott lebensfremd und unpraktisch, eine Illusion und eine Utopie ist, dass die lebensstarken und wirklichkeitsnahen Menschen nur an die Erde denken könnten und dass alles Denken an den Himmel ein Traum und eine Betäubung ist. Denn die Heiligen haben die Erde gesehen und doch den Himmel nicht aus den Augen verloren; sie haben die Schöpfung geliebt und doch Gott gedient; sie haben in ihrer Zeit gelebt und doch die Ewigkeit gewonnen; sie haben Menschen umarmt, ohne Gott zu beleidigen; sie haben sich zu Gott geflüchtet und doch ihre Menschen nicht vernachlässigt. Dafür sind die Heiligen das Beispiel, das uns tröstet und zugleich aufruft: Konnten es jene, warum nicht auch wir! Warum nicht wir alle! Warum sind wir nicht ebenso fleißig und tätig, ebenso mutig und tapfer, ebenso folgerichtig? Warum lassen wir unser Leben als eine Halbheit, als einen unfertigen Bau, als eine Ruine liegen?

Doch ich weiß schon, dass Beispiele nicht viel helfen unter uns Menschen. Wir folgen ja doch nicht den Größten und Besten unter uns nach. Die großen, heroischen Beispiele, die je in der Geschichte vorkommen, wirken immer nur auf Menschen, die ohnehin schon groß und heldenhaft angelegt sind. Die übrigen aber müssen nicht bloß eingeladen, sondern geführt, nicht bloß gelockt, sondern hingerissen werden von Menschen, die sie an der Hand nehmen, von ganz nahen und verbundenen Menschen, die stark und lebendig genug sind, auch das Leben anderer noch zu gestalten. Es gibt solche unter den Lebenden, und wohl dem, der je in seinem Leben einen so starken und zugleich guten und heiligen Führer fand. Es gibt aber noch mehr solche Führer unter den irdisch gesehen Toten, unter den Hinübergegangenen, unter den Vollendeten, unter den Heiligen des Himmels. Darum schauen wir auf zu ihnen, strecken unsere Hände zu ihnen auf und rufen voll Sehnsucht: O ihr Heiligen, seid unsere Führer, unsere Helfer, unsere Wegbereiter zum Himmel!

Amen.

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