Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
19. April 2020

Der ungläubige und gläubige Thomas

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Der Erste, der die Auferstehung Jesu verkündet, und zwar den Frauen, die zum Grabe des Herrn geeilt waren, ist ein Engel. Er spricht: „Ich weiß, dass ihr Jesus, den Gekreuzigten, sucht. Er ist nicht hier. Er ist auferstanden, wie er gesagt hat.“ Die Reaktion der Frauen auf diese Botschaft ist „Schrecken und Entsetzen“. Denn das ist eine unerhörte Botschaft. Das erste Sichzeigen des Auferstandenen geschah vor Maria Magdalena, die aber wohl von anderen Frauen begleitet war. Ich vermute, dass diese Auszeichnung der Lohn dafür war, dass sie mit Mut und in Treue den Herrn auf dem Kreuzweg begleitet und unter dem Kreuze ausgeharrt hatte. Die Frauen berichten ihre Erlebnisse am Grabe den Aposteln und Jüngern Jesu. Ihre Meldung stößt auf Unglauben. Jesus erscheint am Nachmittag des Ostersonntags zwei Jüngern, die nach Emmaus gehen. Auch ihr Bericht wird ungläubig aufgenommen. Inzwischen erfolgt die Erscheinung des Herrn vor Petrus. Doch auch sie scheint noch nicht den Durchbruch zu allgemeiner Gläubigkeit gebracht zu haben. Darauf zeigte sich der Herr den Elfen. Sie wähnten, einen Geist zu sehen. Das heißt: die Erscheinung weckte (noch) nicht den Glauben an die Auferstehung. Der Auferstandene beglaubigt seine wahre Gegenwart, indem er zu den Jüngern spricht, ihnen seine Wundmale zeigt und vor ihren Augen speist. So muss festgestellt werden: Die Evangelisten Markus und Lukas berichten in allgemeinen Ausdrücken, dass die Jünger dem Zeugnis der Frauen und den beiden Emmauswanderern, Jesus sei vom Tode erstanden, keinen Glauben schenkten (Mk 16,11,13; Luk 24,11‚22-27‚37-41) und vom Auferstandenen deshalb getadelt wurden (Mk 16,14). Nach dem Evangelisten Johannes hat sich der Apostel Thomas besonders hartnäckig gesträubt, lediglich auf fremdes Zeugnis hin an die Auferstehung Jesu zu glauben. Diesen Fall erzählt Johannes ausführlich, weil Jesus bei der Überführung dieses Apostels eine wichtige Lehre für die späteren Jüngergenerationen ausgesprochen hat.

Thomas (11,16; 14,5) war nicht zugegen, als Jesus am Abend des Ostersonntags seinen Mitaposteln erschien. Diese erzählten ihm nachher, dass sie den Herrn gesehen haben. Thomas weigerte sich, an die Auferstehung Jesu zu glauben, solange er sich nicht durch den Anblick, ja die Berührung seiner bei der Kreuzigung erhaltenen Wundmale von ihrer Tatsächlichkeit überzeugt habe. „Wenn ich nicht an seinen Händen das Mal der Nägel sehe und meinen Finger in das Mal der Nägel und meine Hand in seine Seite lege, glaube ich es nicht.“ Thomas lehnt jedes fremde Zeugnis grundsätzlich ab und will sich nur auf die eigene Sinneswahrnehmung verlassen. Es ist einigermaßen merkwürdig, dass er den Augen seiner Mitapostel nicht vertraut und nur seine eigenen Augen als Erkenntnismittel gelten lässt. Ist er eigensinnig? Ist er überheblich? Will er etwas besonderes sein? Man kann freilich auch Verständnis für Thomas aufbringen. Was die übrigen Apostel berichteten, war so aufwühlend, so unerhört, noch nie dagewesen, alle Vorstellungen übersteigend, dass es wahrlich nicht verwunderlich ist, dass Thomas handgreifliche Beweise für die Behauptung: Er ist auferstanden verlangt. Aber die Skepsis des Thomas hat noch eine andere Seite: Er will glauben, wenn er sieht. Er möchte die zwei Erkenntnisweisen des Menschen – das Glauben und das Erfahren – zur Deckung bringen. Thomas stellt Gott eine Bedingung: „Wenn ich nicht an seinen Händen das Mal der Nägel sehe und meinen Finger in das Mal der Nägel und meine Hand in seine Seite lege, glaube ich es nicht.“ Positiv gewendet, besagt diese Bedingung: „Wenn ich das alles sehe und betaste, was ich gesagt habe, dann glaube ich.“ Gott ist einem bedingten Glauben abhold. Unter dem Kreuze waren solche, die ihm eine Bedingung stellten. „Wenn du herabsteigst vom Kreuze, dann wollen wir glauben“ (glauben, dass du der gottgesandte Messias bist). Der Herr geht auf dieses Angebot nicht ein. Er würdigt die, welche es vorbringen, keiner Antwort. Gott lässt sich nicht zwingen, zu tun, was Menschen fordern. Aber hier, so scheint es, ist es anders.

Was Thomas mit hartnäckigem Trotz verlangt, das wird ihm vom Auferstandenen tatsächlich gewährt. Die Jünger sind am folgenden Sonntag wieder versammelt, und zwar offenbar im selben Gemach; diesmal ist Thomas bei ihnen. Da erscheint Jesus plötzlich bei verschlossenen Türen in ihrer Mitte und begrüßt sie mit dem Friedenswunsch. Der Auferstandene kündigt sich nicht an; er erscheint unerwartet, überraschend. Seine verklärte Seinsweise gestattet ihm, in den Raum zu treten, ohne die Tür zu öffnen. Sein Gruß gilt allen, seine Anrede nur einem. „Reiche deinen Finger her und sieh meine Hände, und reiche deine Hand und lege sie in meine Seite.“ Er fordert Thomas auf, sich nun durch Anschauung und Berührung seiner Wundmale von der Tatsächlichkeit seiner Auferstehung zu überzeugen. Er gewährt Thomas das, was er verlangt hatte: das Sehen und das Berühren des Auferstandenen, der die Wunden der Kreuzigung, freilich die verklärten Wunden, noch an sich trägt. Mit leisem Tadel fügt er die Mahnung bei, nicht länger im Unglauben zu verharren, sondern gläubig zu werden: „Sei nicht ungläubig, sondern gläubig.“

Thomas ist durch die plötzliche Erscheinung und die an ihn gerichteten Worte Jesu (die ihm dessen Wissen um seinen Unglauben offenbaren) so überwältigt, dass er die Aufforderung nur mit dem Bekenntnis „Mein Herr und mein Gott!“ beantworten kann. Er ist jetzt nicht nur von der Wirklichkeit der Auferstehung überführt. Er erkennt vielmehr auch (wie aufgrund blitzartiger Erleuchtung) den Auferstandenen als seinen himmlischen Herrn und Gott. Er bekennt seinen Glauben an die Gottheit Jesu (1 Jo 5,20): Dieser ist der wahrhaftige Gott und ewiges Leben; (Apk 1,17; 22,13). Die höchste Aussage des Prologs zum Johannes-Evangelium „Gott war das Wort“ ist zum Bekenntnis des „ungläubigen“ Thomas geworden. Der Doppeltitel „Herr und Gott“ findet sich auch in den Psalmen und in der Apokalypse als Anrede Gottes. Er begegnet auch in der sakralen Sprache des Hellenismus. Eine Inschrift aus dem Fajjum in Ägypten aus dem Jahr 24 vor Chr. erwähnt einen „dem Herrn und Gott Soknopaios“ gestifteten Bau. Sueton berichtet, dass Kaiser Domitian sich „unseren Herrn und Gott“ nennen ließ. Im Munde des Thomas ist „mein Herr (Kyrios)“ nicht die gebräuchliche Höflichkeitsanrede, wie sie auch die Jünger ihrem Meister gegenüber während seines irdischen Lebens gebraucht haben. Sie ist vielmehr religiöses Bekenntnis und Gebetsanruf zugleich. „Herr“ ist mit dem gleichen Inhalt gefüllt wie die alttestamentliche Gottesbezeichnung „Herr“ (= Jahwe), schließt also das Bekenntnis zur Gottheit des Auferstandenen ein. Als Herrn hatte auch der Verkündigungsengel von Bethlehem den Neugeborenen in der Krippe bezeichnet. Der Name „Herr“ ist dem auf Erden erschienenen Erlöser untrennbar und unaufgebbar verblieben. Im Römerbrief heißt es: Wenn du nämlich mit deinem Munde bekennst ‚Herr ist Jesusʻ und in deinem Herzen glaubst ‚Gott hat ihn auferweckt von den Totenʻ, wirst du gerettet werden. Im ersten Korintherbrief stehen die Aussagen: Keiner kann sagen: ‚Herr Jesusʻ außer im Heiligen Geiste. Wenn einer den Herrn nicht liebt, der sei ausgeschlossen. Schließlich heißt es in der Apokalypse: Komm, Herr Jesus! Sachliche Parallelen liefern die Anrufung Christi als „unser Herr“ durch die aramäisch sprechende Urgemeinde (1 Kor 16,22; Apk 22,20), die urchristliche Bezeichnung der Christen als solche, „die den Namen unseres Herrn Jesus Christus anrufen“ (1 Kor 1,2; 2 Tim 2,22); und das Bekenntnis Christi als den Herrn (Röm 10,9; 1 Kor 12,3; Phil 2,11). Mit diesem feierlichen Glaubensbekenntnis des Thomas „Mein Herr und mein Gott“ erreicht das vierte Evangelium seinen theologischen Höhepunkt und zugleich seinen (ursprünglichen) Schluss.

Jesus antwortet Thomas auf sein Bekenntnis: „Weil du mich gesehen hast, hast du geglaubt. Selig, die nicht sehen und doch glauben.“ Die Antwort, die Jesus dem Thomas gibt, ist weniger ein Tadel für diesen, als eine Belehrung für die nachfolgende Jüngergeneration. Zwischen Thomas und seinen Mitaposteln besteht im Grunde kein Unterschied. Auch sie haben erst aufgrund ihrer Schau des Auferstandenen (oder des leeren Grabes v. 3-8) geglaubt. Aber den künftigen Jüngern wird dieses Schauen mit leiblichen Augen nicht mehr möglich sein; und niemand hat das Recht, diese Schau als Vorbedingung für den Glauben an Jesus zu verlangen. Künftighin muss sich der Glaube auf das Zeugnis der ersten Jünger über Jesu gesamtes irdische Wirken mit Einschluss seines Todes und seiner Auferstehung gründen (15, 26f.), das in der Verkündigung der Kirche immer lebendig bleibt (17,20). In seiner Abschiedsrede hatte Jesus auf die Vermittlung des Glaubens durch die Predigt und die Lehre der Jünger hingewiesen. „Nicht für sie allein bitte ich, sondern auch für jene, die durch ihr Wort an mich glauben“ (Joh 17,20).

Wir wissen, dass es manchen Gläubigen nicht genügt, an den von der Kirche verkündigten, in seiner Gnade und im Sakrament gegenwärtigen, aber in fremder Gestalt anwesenden Gott und Heiland zu glauben. Sie suchen eine Bestätigung ihres Glaubens in äußeren, sichtbaren Vorgängen und Begebnissen. Manche heutige Christen halten sehnsüchtig Aussschau nach Erscheinungen des Übernatürlichen, nach sichtbar gewordener Mystik, nach spürbarer Begnadigung. Vor allem die Eucharistie ist Gegenstand des Verlangens nach angeblichem Sichtbarwerden des Leibes und Blutes des Herrn. An konsekrierten Hostien soll sich wunderbarerweise Blut gezeigt haben. Die Hostie soll sich in der Messe in sichtbares Fleisch und Blut verwandelt haben. Im Laufe der Geschichte des Christentums war wiederholt von angeblichen Blutwundern die Rede. Seit dem 8. Jahrhundert bis in unsere Tage wird in Lanciano in der italienischen Provinz Chieti behauptet, die Hostie und der Wein der heiligen Messe seien in wahres menschliches Fleisch und in wahres menschliches Blut verwandelt worden. Sie werden zur Verehrung ausgestellt. Im 15. Jahrhundert blühte die Wallfahrt nach Wilsnack in der Mark Brandenburg. Nach dem Brand der Kirche meinte der Pfarrer in den Ruinen des Hochaltars drei unversehrte Hostien mit wunderbarem Blut gefunden zu haben. Große Pilgerscharen eilten an den Ort. Das Magdeburger Provinzialkonzil unter Nikolaus von Kues sprach sich gegen die Wallfahrt aus. Zuletzt wurde in dem jetzt polnischen Liegnitz von einem Blutwunder gesprochen, das sich angeblich bei der Feier der Eucharistie ereignet habe.

Aus theologischen und geschichtlichen Gründen lässt sich an der Tatsächlichkeit, der geschichtlichen Wirklichkeit eucharistischer Verwandlungswunder nicht festhalten. Sie können auf Täuschung (Hostienpilz) oder Betrug beruhen. Die Gegenwart von Leib und Blut Christi nach der Wandlung in der heiligen Messe ist sicher aufgrund des Wortes Christi. Aber es ist eine Gegenwart in der Verborgenheit, in fremder Gestalt. Der gegenwärtige Christus ist der auferstandene Herr. Der verklärte Christus hat nicht Fleisch und Blut wie ein lebender Mensch. Seine Seinsweise ist total anders. Es ist unwahrscheinlich und mit der Heilsökonomie Gottes schwer vereinbar, dass Gott den dank der sakramentalen Konsekration gegenwärtigen Leib Christi oder sein kostbares Blut gleichsam bestätigen sollte durch anatomisch nachweisbares menschliches Fleisch und Blut. Die angeblichen Blutwunder stehen im Gegensatz zu dem, was der Auferstandene dem Apostel Thomas sagte. Der Glaube ist auf das Sehen mit leiblichen Augen nicht angewiesen und nicht zu stützen. Dass die Wundermacht Gottes bis heute und für alle Zeit ungebrochen ist, bedarf keines Beweises. Seine Allmacht und seine Liebe vermögen Taten zu vollbringen, denen alle Wahrscheinlichkeit und Plausibilität fehlt. Aber etwas anderes als Gottes Macht ist der Nachweis, dass Gott sie eingesetzt hat, dass er also tatsächlich Wunder gewirkt hat. Hier muss mit aller Nüchternheit und ohne Voreingenommenheit geprüft und untersucht werden. Bei der Behauptung wunderbarer Begebnisse lauert eine Gefahr. Wenn sich nämlich herausstellt, dass sie natürlich zu erklären sind, oder dass sie womöglich auf einer bewussten Täuschung und Fälschung beruhen, kann der Glaube ihrer Anhänger zusammenbrechen und die Kirche dem Gespött der Draußenstehenden preisgegeben werden. Es ist besser, sich mit dem Glauben an Unsichtbares und Zukünftiges zufrieden zu geben, als sich darauf zu verlassen, dass Gott aus seiner Unsichtbarkeit heraustreten und spektakuläre Geschehnisse hervorbringen wird. Deswegen sagt Jesus dem Thomas und den übrigen in Jerusalems Saal Versammelten: „Selig, die nicht sehen und doch glauben.“ Er preist die künftigen Jünger selig; denn ihr auf die Predigt der Kirche sich gründender Glaube hat denselben Wert wie der Glaube der Augenzeugen; er wird des ewigen Lebens teilhaftig (20,91; 1 Petr 1,8f.: Jesus Christus, den ihr liebt, ohne ihn gesehen zu haben, an den ihr glaubt, ohne ihn jetzt sehen zu können).

Amen.

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