Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
1. März 2020

Unser Herr am Ölberg

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Die heilige Fastenzeit hat ihre Tore geöffnet. Bußglocken läuten und rufen uns zu: Ihr Menschenkinder, die Zeit der Einkehr ist da, die Zeit der Umkehr ist gekommen. Ist es nun wirklich notwendig, dass die Kirche wochenlang jedes Jahr uns Einkehr und Umkehr predigt? Wenn es je notwendig war, meine lieben Freunde, so heute. Nie war die Erde ein stärkerer Magnet. Was sie den Menschen an Genussgütern bietet, ist wie Seelenopium. Die Gefahr ist groß, dass die Menschen das Licht von „oben“ nicht sehen und ihre Ohren der Botschaft Gottes verschließen. Nicht von allen wird Gottes Ruf überhört. Sie, meine lieben Freunde, sind ein Beispiel dafür, dass Sie wissen, was Gott in dieser Zeit von Ihnen verlangt. Unsere Mutter, die Kirche, versteht uns in unserer Sorge um das Wichtigste und Entscheidende: um die Rettung der Seele. Sie nimmt uns bei der Hand und führt uns zum leidenden Heiland. Ihr wollen wir folgen. Wir wollen an den Fastensonntagen das Leiden des Herrn betrachten anhand der Geheimnisse des schmerzhaften Rosenkranzes. Wir wollen also den Schmerzensmann anschauen auf den Stationen seines Lebens, seines Leidens vom Ölberg bis Golgotha.

Heute besuchen wir den Ölberg. In der Dämmerung des Abends gehen wir zum Ölberg, vorbei an Absalons Grab. Dumpf rauscht der Wald der Ölbäume, plätschernd stürzt der Cedronbach in die Tiefe. In der Dämmerung des Abends gehen wir zum Ölberg. Wir sehen Christus auf der Erde knien, totenbleich sein Antlitz. Die Brust geht schwer, Stöhnen aus seinem Munde, Zittern läuft über sein Gesicht und seinen Leib, Blut rinnt zur Erde, vermischt sich mit dem Angstschweiß. Wer enträtselt uns dieses Unerhörte? Die Evangelisten sagen es uns; einige Worte, aber mit tiefgefülltem Inhalt: Trauer überfiel ihn. Trauer drückt zu dieser Stunde die Seele des Heilands zu Boden. Welche Trauer mag es sein? Der Herr ist Priester, ist Seelsorger. Die Seelen seiner Landsleute wollte er retten. Für sie ist er gekommen in diese Not, für sie hat er sich abgemüht. Und das Judenvolk versagt fast geschlossen ihm den Glauben. Zuerst liefen sie ihm in Scharen nach, aber als die Sensation abgekühlt war, da verließen sie ihn. Die Führer des Volkes hassten ihn von Anfang an. Sie machten ihm Schwierigkeiten, wo sie nur konnten. Ihre Herzen waren in Bosheit erstarrt. Bald werden sie rufen: Kreuzige ihn! Kreuzige ihn! Das sieht der Herr am Ölberg. Umsonst leuchtete seine Wahrheit, umsonst wärmte seine Liebe, umsonst bricht morgen sein Herz in Todeswehen; für die meisten umsonst. Dieses schreckliche Wort „umsonst“ legt sich auf des Heilands Herz; er trauert um verlorene Seelen. Der Blick des Heilands geht in die Zukunft. Er sieht auch unsere Zeit, die Zeit des großen Abfalls. Er sieht, wie sich die Menschen vom Unglauben einfangen lassen und lästernd aus der Kirche heraus ins Lager seiner Todfeinde marschieren. Wie viele diesen Schritt nicht tun, aber tote Seelen sind, das wissen wir nicht. So sein Christenvolk. Und seine Führer, die Großen, die Staatsmänner, die Politiker, die Politikerinnen, was ist mit denen? In welchem Parlament wird Gottes Name genannt? Die Abgeordneten fragen nach dem Willen der Mehrheit der Menschen; nach dem Willen Gottes fragen sie nicht. Sie proklamieren die Rechte der Menschen, aber die Rechte Gottes missachten sie. Sie lassen den Unglauben wuchern, und das sieht der Herr am Ölberg voraus. Umsonst gekommen, umsonst gepredigt, umsonst gewirkt.

Aber Trauer ist nicht das einzige Leid des Herrn am Ölberg. Ekel hat seine Seele erfasst. Dieses peinlichste Weh hat sich auf sein Innerstes gestürzt und hält es in hellem Aufruhr. Christus hat sich dem Vater bereiterklärt, die Sünden der Menschheit auf sich zu nehmen und auf das Kreuz hinaufzutragen. Und jetzt kommen sie angekrochen, die Sünden, an erster Stelle die Sünden des Unglaubens, diese erbärmlichste Sünde von allen. Der Herr hat den Menschen einen Funken seines Lichtes gegeben in der Vernunft. Mit der Vernunft vermag er Gott zu erkennen. Aus den Werken der Schöpfung kann man auf den Werkmeister schließen. Aber nein, der Mensch versagt sich dem Anruf der Schöpfung, dem Anruf des Gewissens, dem Anruf der Vernunft. Achthundert Busse fahren durch England, und auf ihnen steht geschrieben: Es gibt wahrscheinlich keinen Gott. Jetzt mache dir keine Sorgen und genieße dein Leben. Ebenso viele Busse fahren in Barcelona, in New York und in Washington. Sodann die Sünden des Hasses, des Hasses der Kinder gegen die Eltern, der Geschwister gegen die Geschwister, der Verwandten gegen Verwandte. Sie holen den Hass aus der Hölle und stoßen Christi Liebe von sich. Der Hass triumphiert, die Liebe weint. Schließlich die Sünden der Unzucht. Vernunftbegabte Menschen gebrauchen ihren Leib, den Tempel des Heiligen Geistes, um tierischer als das Tier zu sein. Eine wahre Schlammflut ergießt sich durch unsere Zeit. Sex von der Wiege bis zur Bahre; das ist die Losung. Alle diese Sünden kommen herangeschlichen und legen sich auf Jesu Seele. Ekel packt ihn.

Und noch etwas: Furcht kam über ihn, Furcht vor dem entsetzlichen Sühneleiden. Wie viel Genugtuung erheischt die Schlammflut der Jahrtausende? Christus ist entschlossen, diese Genugtuung zu leisten. Aber wie fürchterlich wird sie ausfallen? Der Weg zum Kreuzestod ist mit Bitterkeit und Schmerz übersät. Der Herr spürt den Judaskuss auf der Stirn. Der Apostel verrät ihn um den Lohn eines Sklaven. Von einem Gerichtshof zum anderen schleppt man ihn, traktiert ihn mit Backenstreichen und dem Narrenkleid, ein Mörder wird ihm vorgezogen. Er sieht sich wehrlos an der Geißelsäule hängen. Die Henker peitschen ihn aus wie einen Verbrecher. Im Hofraum des Pilatuspalastes setzen ihm erbarmungslose Soldaten einen Dornenkranz auf das Haupt. Sie spucken ihn an und hämmern mit dem Rohrzepter auf die Krone des Hauptes. Durch Jerusalems Straßen schleppt man den geschwächten Heiland; er muss sein eigenes Schandholz zur Hinrichtungsstätte tragen. Zwischen Himmel und Erde hängt er angenagelt, zwischen zwei Verbrechern als einer aus ihrer Zunft. Das ist das Schauerliche, was auf ihn wartet, und das sieht der Herr am Ölberg. Kein Wunder, dass die Angst ihn packt. Er sieht den verzehrenden Durst, er sieht die unsagbare Qual, er sieht die Gottverlassenheit. Das ist das Schreckliche, das auf ihn wartet. Die Seele Jesu ist durchjagt von entsetzlicher Angst.

Er steht auf; allein packt er es nicht mehr. Er sucht Trost bei seinen Dienern; der Schöpfer sucht Trost bei den Geschöpfen. Er läuft zu ihnen, er weckt sie auf. Schlaftrunken, verständnislos schauen sie ihn an. Er kommt zurück, fällt zu Boden, durchquält, durchschauert von Angst und Furcht. Da hebt er sein Haupt und ruft zum Himmel: „Vater, wenn es möglich ist, lass diesen Kelch an mir vorübergehen.“ Er weiß, wozu er gekommen ist: zu leiden für die unerlöste Menschheit. Er weiß, was Gott von ihm verlangt: das Opfer des Lebens. Dennoch fleht er in dieser Stunde, Gott möge davon absehen, ihn in das Grauen des Todes zu stürzen, aber nur, wenn es möglich ist. Ach, er weiß schon, dass es nicht möglich sein wird. Und so betet er zum zweiten Mal, aber anders als beim ersten Mal. Jetzt sagt er nicht: „Wenn es möglich ist, so möge der Leidenskelch an mir vorübergehen“, nein, jetzt sagt er: „Wenn es nicht möglich ist, so geschehe dein Wille.“ Jetzt hat er den Leidenswillen gefunden. Jetzt ist er bereit, jetzt kann er zu den Jüngern sprechen: „Steht auf, lasst uns gehen! Seht, mein Verräter naht!“ Jetzt wissen wir, meine lieben Freunde, wie wir beten sollen in den Ölbergstunden unseres Lebens. Wir dürfen bitten, dass die Prüfung uns erspart bleibe, aber wir müssen zugleich hinzufügen: Wenn sie uns nicht erspart bleiben soll, dann, o Gott, lass mich sie tragen, wie du sie getragen hast. Und noch etwas wissen wir aus dieser Ölbergstunde: Gott verlässt die Seinen nicht, niemals, in keiner Not. Er verlässt auch seinen Sohn in dessen Ölbergstunde nicht. Er sendet ihm einen himmlischen Boten, einen Engel, und dieser tröstet ihn. Ein Geschöpf tröstet den Schöpfer.

Vom leidenden Heiland schweift der Blick ab zu uns. Auch uns werden die Ölbergstunden nicht erspart bleiben. Trauer wird uns überfallen. Denken wir daran, wenn Enttäuschung unsere Seele quält. Man hat es so gut gemeint, hat so viel Vertrauen und Liebe verschenkt, umsonst – Undank ist der Welt Lohn. Ekel wird auch uns packen, wenn wir uns in unserer Schwäche, in unserer Erbärmlichkeit sehen, wenn wir hineinschauen in unser Inneres, der Ekel vor der eigenen Schlechtigkeit. Furcht wird über uns kommen, Angst und Bangen der Seele. Der Tod steht bereit. „Sterblicher, denk ans Sterben!“ Er zerschneidet das Band der Seele und des Leibes. Er reißt Leib und Seele auseinander, und diese Trennung tut weh, schmerzt, besonders wenn ein Mensch sein Leben lang dem Leibe gedient hat. Der Gedanke an den Tod birgt Angst und Schrecken. Ein zweiter Gedanke folgt gleich hinterdrein. Er schreckt noch mehr: Und dann kommt das Gericht. Die Heilige Schrift lässt keinen Zweifel daran. Wo du stirbst, wirst du gerichtet, und zwar sofort nach dem Hinscheiden. Der Richter ist der allwissende, gerechte Gott. Seinem Auge ist nichts entgangen. Gott sieht alles und vergisst nichts. Wir haben so oft versucht, unsere innere Schande auf Erden zu verbergen; der göttliche Richter deckt sie auf. Beschämt stehen wir vor ihm. Seinem Auge ist das Verborgenste offenbar. Dann kommt die Entschuldigung: Ich hab’s nicht so gewusst. Ist es dir nicht immer wieder gesagt worden von der Kanzel, im Beichtstuhl, im Gewissen? Aber es war so schwer. Du wusstest ganz genau, dass du nur durch Überwindung und Beherrschung das Himmelreich erwerben kannst. Die anderen taten es auch so, sie taten es alle. Seit wann, meine lieben Freunde, wird Böses gut, wenn es alle tun? Der Richter spricht das Urteil. Mit zitterndem Ernst fragen wir: Wie wird es lauten? Denn so wie der Baum fällt, so liegt er eine Ewigkeit lang: entweder – oder. Meine lieben Freunde, wir sind im Gehaste und Gejage unserer Zeit so oberflächlich geworden. Lassen Sie uns zur inneren Einkehr zurückkehren. Mit einer leeren Seele können wir die Ölbergstunden unseres Lebens nicht bestehen. Haben wir deswegen Mut, wahrhaft klug zu sein. Richten wir unser Lassen und Tun so aus, wie uns der allwissende Richter richten wird, vor dem alle Ausreden wie Schnee vor der Sonne vergehen. Nur wenn wir uns ehrlich selber richten, werden wir nicht gerichtet. Gott über alles; das Geschöpfliche erst in zweiter Linie. Weg mit ihm, wenn es den Weg zu Gott verlegt, heraus aus unserem Leben mit allem, was unsere Seele gefährdet. Zu lange schon spielen wir mit Himmel und Hölle. Es ist höchste Zeit, dass wir wahrhaft klug werden. Gedenken wir, meine lieben Freunde, des leidenden Heilandes, vergessen wir ihn nicht. Gehen wir in dieser heiligen Fastenzeit den Kreuzweg – wir haben hier in unserem Gotteshaus einen ergreifenden Kreuzweg von einem großen Künstler. Gehen wir den Kreuzweg. Stationen sind keine Parade. Es sind herzliche Einladungen: Komm und schau, was dein Herr für dich litt. Und beten wir den schmerzhaften Rosenkranz, am besten mit den Angehörigen zusammen am Abend, wie es ein altehrwürdiger Brauch in christlichen Familien ist. Der Heiland lässt sich an Großmut nicht übertreffen. Wenn wir ihn in seinem Leiden nicht vergessen, dann vergisst auch er uns nicht in unseren Ölbergstunden, schickt seinen Engel, der uns tröstet und stärkt, der uns glücklich durch die Todespforte hindurchführt.

Amen.    

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