Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
22. März 2015

Die Wundmale des Herrn

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Jede Nachkriegswelt trägt ihre Wunden. Oft wandern Millionen Heimatvertriebener abgehärmt, wie von Gespenstern gehetzt und verfolgt, über die weiten Gebiete der Erde. Und wo sie niedersinken, da nimmt dieselbe Erde, die ihnen hätte dienen sollen, ihre Leiber in ungeschaufelten Gräbern auf. Menschen mit schwieligen Händen, die ermattet das Kreuz der Zwangsarbeit schleppen, schauen vergebens nach einem Simon von Cyrene aus, der ihnen helfen könnte, ihre Last zu tragen. Verwundete, verkrüppelte und verstümmelte Soldaten hinken durch eine Welt, für deren Freiheit sie gekämpft haben, und finden doch nicht die Freiheit, die ihre Kameraden mit dem Tode bezahlt haben. Wer kann uns noch Hoffnung geben, dass bessere Tage kommen? Und dass dieser Schmerz und diese Qual nicht nur Hohn und Spott ist, wenn die Erde solche Wunden trägt? Eines ist sicher, meine lieben Freunde: Unsere gebrochenen Schwingen kann kein liberaler Christus heilen, wie ihn die protestantischen Theologen erfunden haben. Unser Christus kann nicht ein Partner von Sokrates, Konfuzius und Mohammed sein. Der Einzige, der unserer Zeit Trost bringen kann, ist der wundenbedeckte Christus, der freiwillig den Tod erlitt, um uns Hoffnung und Leben zu bringen, der Christus des Ostermorgens. In den Berichten über die Auferstehung spielen die Wundmale Christi eine bedeutsame Rolle. Magdalena, die zu seinen Füßen saß, finden wir dort im Garten, und erst als sie das blutrote Mal der Schlacht vom Kalvarienberg an seinen Füßen erblickte, erkannte sie den Herrn und rief: „Rabboni!“ (mein Meister). Dann trat Christus vor die skeptische, zweifelnde Welt in der Gestalt des Thomas, dessen melancholische Veranlagung ihn zum Zweifler macht. Als die anderen Jünger ihm sagten, sie hätten den Herrn gesehen, erwiderte er: „Wenn ich nicht an den Händen das Mal der Nägel sehe und meinen Finger in das Mal der Nägel tauche und meine Hand in seine Seite lege, glaube ich nicht.“ Acht Tage später, als die Jünger in demselben Raume hinter verschlossenen Türen weilten, und Thomas unter ihnen war, stand der Herr plötzlich in ihrer Mitte und sprach: „Der Friede sei mit euch!“ Dann sagte er zu Thomas: „Reiche deinen Finger her und sieh meine Hände; nimm deine Hand und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig.“ Thomas brach zusammen: „Mein Herr und mein Gott!“ Die Welt, meine lieben Freunde, braucht den mannhaften Christus, der einer bösen Welt das Pfand seines Sieges in seinem eigenen Leibe vorweisen kann, den er in blutiger Weise für unsere Erlösung geopfert hat. In diesen tragischen Zeiten können uns keine falschen Götter trösten, Götter, die unempfindlich sind für Schmerz und Leid. Unsere Kirche versteht etwas vom Leid, weil sie einen gepeitschten Sklaven auf die Altäre stellt! Welche Sicherheit, dass das Böse nicht über das Gute triumphieren wird, besitzen wir, sobald der wundenbedeckte Christus, der Sohn des lebendigen Gottes, der durch göttliche Kraft von den Toten auferstand, in unserem Leben fehlt? Wenn der, der in die Welt kam, um die Würde der menschlichen Seele zu lehren, der eine sündige Welt veranlassen konnte, ihn der Sünde zu zeihen, keine andere Aufgabe und kein anderes Schicksal gehabt hätte, als mit Dieben und Mördern an einem gewöhnlichen Kreuze zu hängen? Dann könnte jeder von uns fragen: Warum sollte ich ein gutes Leben führen, wenn ein guter Mensch dieses Schicksal erleidet? Welche Begründung gibt es für die Tugend, wenn die größte aller Ungerechtigkeiten ungestraft, und das edelste aller Leben unverteidigt bliebe? Was soll ich von einem Gott halten, der ungerührt auf das Schauspiel herabblicken kann, wie die Unschuld zur Hinrichtung geführt wird? Der nicht die Nägel herauszog und durch ein Zepter ersetzte, oder einen Engel sandte, um den Dornenkranz abzunehmen und einen Blumenkranz aufzulegen? Was soll ich von einer menschlichen Natur halten, wenn diese unter den Nagelstiefeln römischer Henker zertrampelte weiße Blüte eines fleckenlosen Lebens dazu bestimmt wäre, genauso in der Erde zu verwesen wie alle zertretenen Blumen? Wenn dies das Ende alles Guten ist, warum sollen wir dann gut sein? Wenn dies der Gerechtigkeit geschieht, dann mag ruhig die Anarchie herrschen. Wenn er aber nicht nur Mensch, sondern Gott ist, nicht nur Lehrer einer humanitären Ethik, sondern der Erlöser, wenn er das Ärgste, dessen die Welt fähig ist, erduldet und es durch göttliche Macht überwindet, wenn er, der Unbewaffnete, mit keiner anderen Waffe als mit Verzeihung und Güte einen Krieg führen kann, in dem die Erschlagenen den Sieg davontragen, und diejenigen, die den Feind geschlagen haben, unterliegen: Wer könnte dann ohne Hoffnung bleiben, wenn der auferstandene Christus uns seine durchbohrten Hände und Füße zeigt?

Als der große Julius Caesar ermordet wurde, von vielen Dolchstichen durchbohrt, hielt ihm sein Freund Marcus Antonius die Leichenrede, aufgezeichnet bei Shakespeare. Er forderte das Volk von Rom auf, die Wunden Caesars zu betrachten, „arme stumme Münder“ – „poor poor dumb mouths“, und sie sprechen zu lassen. Jede Wunde, so sagte Antonius, sei eine Zunge, welche die Steine von Rom zu Erhebung und zum Aufstand bewege. Auch die Wunden Jesu sprechen. Paulus hat ihre Sprache vernommen: „Er hat mich geliebt und sich für mich dahingegeben.“ Das ist die Sprache der Wunden Jesu. „Was soll uns trennen von der Liebe Christi? Trübsal, Bedrängnis, Hunger, Blöße, Gefahr, Schwert? Aber in all dem bleiben wir Sieger durch den, der uns geliebt hat.“ Die verklärten Wunden Jesu reden. Sie haben eine Stimme, die unüberhörbar ist. Was Jesus erlitten hat, ist nicht bloß „Prophetenschicksal“, wie der Kardinal Kasper sagt. Was Jesus erlitten hat, das ist ein Opfertod. Jesus hat sich als wahres und eigentliches Opfer Gott dargebracht. Jesus hat durch sein Leiden und Sterben Gott für die Sünden der Menschen stellvertretende Genugtuung geleistet. Durch die Ausgießung seines Blutes hat er uns erlöst und herausgerissen aus der Macht der Finsternis und hinübergetragen in sein Reich. Das ist jene reine Opfergabe, die durch keine Unwürdigkeit und Bosheit der Opfernden befleckt werden kann. Durch sein eigenes Blut ist er ein für alle Mal in das Heiligtum eingegangen, nachdem er eine ewige Erlösung bewirkt hatte. Das Blut des Herrn war der Kaufpreis unserer Erlösung. Und diesen einzig möglichen Preis musste der bezahlen, an dem wir mit der Summe unserer Sünden verschuldet waren. Das Blut Jesu Christi – nur das Blut Jesu Christi! – macht uns von jeder Sünde frei.

Die Wundmale Jesu reden. Was lehren sie uns, meine lieben Freunde? Sie sagen uns, dass das Leben ein Kampf ist. Dass wir genauso am Jüngsten Tage auferstehen können wie er; dass es kein leeres Grab geben wird, wenn nicht auch ein Kreuz in unserem Leben steht; dass es keinen Ostersonntag ohne einen Karfreitag geben kann; dass kein Heiligenschein ohne Dornenkrone verliehen wird, und dass wir nicht mit ihm auferstehen werden, wenn wir nicht mit ihm leiden. Das ist die Sprache der Wunden Jesu. Der Christus mit den Wundmalen brachte uns nicht den Frieden, der keinen Kampf kennt, denn Gott verabscheut die Friedfertigkeit derjenigen, die gegen das Böse streiten sollen. Die Wunden Jesu sagen: Das tat ich für dich. Was tust du für mich? Die Wundmale Jesu sind aber nicht nur eine Mahnung, dass das Leben ein Kampf ist, sondern auch das Unterpfand des Sieges in dem Kampf. Unser göttlicher Heiland sagte: „Ich habe die Welt überwunden.“ Damit meinte er, dass das Böse im Prinzip besiegt ist. Der Sieg ist gesichert, aber der Kampf ist noch nicht zu Ende. Das Böse wird nie stärker sein als das Gute. An jenem denkwürdigen Tage, wo der Herr am Kreuze hing, da ist das Schlimmste geschehen, was auf dieser Erde geschehen kann. Das Schlimmste ist nicht, dass Städte in Trümmer sinken, dass Atombomben fallen, das Schlimmste ist, dass man versucht hat, Gott zu töten. Glauben wir also nicht, dass Jesus uns mit seinen Wunden vor Schmerz und Leid, vor Kreuz und Tod bewahrt. Er bietet uns nicht die Befreiung vom Bösen in der physischen Welt, sondern die Reinwaschung der Seele von den Sünden. Der letzte Sieg über das physisch Böse wird die Auferstehung der Toten sein; sie kommt mit Gewissheit, so wie die Auferstehung des Herrn. Aber er lehrt ein ewiges Heer von Leidtragenden in dieser Welt das Ärgste, was das Leben einem antun kann, mutig und gelassen zu ertragen, die Prüfungen dieser Welt als den Schatten seiner liebevoll ausgestreckten Hand zu sehen, die größten Schmerzen des Lebens in den schönsten, übernatürlichen Gewinn zu verwandeln. Die Wunden des Herrn reden. Was verlangen sie von uns? Sie rufen uns auf zu ihrer Verehrung. Wir beten die Wundmale Jesu an, genauso wie sein Herz und sein Haupt. Denn sein ganzer Leib ist ja von der Gottheit durchdrungen und darum anbetungswürdig. Zum Herzen Jesu rufen wir:

„Herz Jesu, voller Qual ob unserer Missetaten, erbarme dich unser.

Herz Jesu, von der Lanze durchbohrt, erbarme dich unser.“

Wir verehren das dornengekrönte Haupt unseres Erlösers:

„O Haupt, voll Blut und Wunden,

voll Schmerz, bedeckt mit Hohn;

o Haupt, zum Spott umwunden

mit einer Dornenkron‘;

o Haupt, sonst schön gekrönet

mit höchster Ehr‘ und Zier,

jetzt aber frech verhöhnet,

gegrüßet seist du mir!“

Die Wunden unseres Herrn reden. Was empfehlen sie uns? Sie empfehlen uns, dass wir in diese Wunden fliehen, um vor den Feinden unseres Heiles sicher zu sein. Im Gebet „Seele Christi, heilige mich“ beten wir: „Verbirg in deine Wunden mich.“ Wer in diesen Wunden verborgen ist, der ist geborgen. Die Wundmale Christi sind unsere Zuflucht im Leben und im Tode. Wenn ein Glied unserer Gemeinde von uns scheidet, beten wir zu den fünf Wunden unseres Herrn:

„Herr Jesus Christus, für uns am Kreuze gestorben, durch die heilige Wunde deiner rechten Hand, erbarme dich seiner / erbarme dich ihrer.

Herr Jesus Christus, für uns am Kreuze gestorben, durch die heilige Wunde deiner linken Hand, erbarme dich seiner / erbarme dich ihrer.

Herr Jesus Christus, für uns am Kreuze gestorben, durch die heilige Wunde deines rechten Fußes, erbarme dich seiner / erbarme dich ihrer.

Herr Jesus Christus, für uns am Kreuze gestorben, durch die heilige Wunde deines linken Fußes, erbarme dich seiner / erbarme dich ihrer.

Herr Jesus Christus, für uns am Kreuze gestorben, durch die heilige Wunde deiner Seite, erbarme dich seiner / erbarme dich ihrer.

Gib ihr / gib ihm die ewige Ruhe.“

Im Gebet „Seele Christi, heilige mich“ kommt eine überraschende Bitte vor, da heißt es nämlich: „Leiden Christi, stärke mich.“ Ist das nicht merkwürdig, dass wir den Herrn in seiner größten Schwäche und in seiner bittersten Not um Stärkung anflehen? „Leiden Christi, stärke mich“! Nein, es ist gar nicht merkwürdig. Es ist sehr verständlich, dass wir rufen: „Leiden Christi, stärke mich“, denn nie hat ein Leidender sein Leiden mit größerer Kraft und Liebe getragen als unser Heiland. Die Verehrung der Wundmale Christi ist zuerst und zuoberst eine Sache der Innerlichkeit; sie kann sich aber auch äußerlich ausdrücken. Ein Zeichen der Liebe und Verehrung ist der Kuss. In meiner Heimat wird zum Gedenken des heilbringenden Leidens unseres Herrn gesungen:

„Herr, ich küsse deine Füße,

deiner heiligen Hände Mal.

Hast die Wunden ja empfunden

auch für meiner Sünden Zahl!

Voller Treue und mit Reue

über meine Missetat,

küss ich heute jene Seite,

die man dir eröffnet hat.

Und in Demut und mit Wehmut

sei dein heiliges Haupt geküsst,

was verhöhnet, dorngekrönet

voller Blut und Wunden ist.“

Unser Christus, meine lieben Freunde, ist der Schmerzensmann, der Leidende, der Gekreuzigte. Wir wollen keinen anderen Christus. Wir schauen auf den, den sie durchbohrt haben. Uns hilft kein abgeschwächter Christus; uns hilft kein verbilligter Glaube; uns hilft kein Nachgeben gegenüber einer außer Rand und Band geratenen Gesellschaft. „Merkt Euch das, Ihr Synodenväter in Rom! Merkt Euch das!“ Was uns rettet, ist der Christus mit der Dornenkrone, ist der Christus mit dem zerrissenen Leib, ist der Christus, der am Kreuze sprechen konnte: „Es ist vollbracht!“ Gewiss, das ganze Leben Jesu, vom ersten Tage an, war von erlöserischer Kraft, aber seine Erlösungstätigkeit hat einen Gipfel, und das ist das Kreuz, das ist das Golgothakreuz. Aus seinen Wunden schöpfen wir das Heil. Am Karfreitag nahm er den Kampf mit dem Bösen auf. Aus den stürzenden Bächen des Hasses ließ er sich fünf Wunden schlagen, von denen jede einzelne genügt hätte, um die Welt zu erlösen und das Böse zu überwinden. Wenn er, unser Führer, fünf Wundmale trug, so müssen wir als seine Streiter am Tag der großen Siegesfeier, wenn er kommen wird, zu richten die Lebenden und die Toten, bereit sein, ihm die Wunden zu zeigen, die wir für seine Sache und in seinem Namen davongetragen haben. Er wird einem jeden von uns die Frage stellen: Zeige mir deine Hände und deine Füße! Wehe denen, die mit leeren Händen und ohne Wundmale vom Kalvarienberg herabkommen! Wenn wir uns eines der fünf Wundmale aussuchen können, wählen wir die Wunde, die der römische Soldat unserem Heiland zufügte, als er ihm die Lanze in die Seite stieß. Aus der Seitenwunde flossen Blut und Wasser, das, was noch darin war. Es war alles ausgegeben: seine Jugend, seine Kraft, sein kostbares Blut; es war nichts mehr drin in dem entseelten Leib. Es war alles ausgegeben bis zum letzten Blutstropfen. „O Herr, lass deine Pein an mir doch nicht verloren sein!“

Amen.

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