Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
1. November 2011

Ein neuer Himmel und eine neue Erde

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte, zur Feier des Festes Allerheiligen Versammelte!

Die Christen sind Menschen der Erwartung. Sie erwarten vor allem und überall zwei Dinge, erstens die Wiederkunft des Herrn und zweitens die Heimkehr zum Herrn. Das erste Ereignis geht die ganze Schöpfung an, das zweite betrifft den einzelnen. Den Urchristen hat der glühende Glaube an die Auferstehung und an die Wiederkunft des Herrn die Sicherheit gegeben, mit der sie vor ihre Verfolger traten. Diese Erwartung hat ihnen einen unbesiegbaren Mut verschafft.

Auch wir erwarten die Vollendung des Königtums Christi, die Parusie, das Erscheinen, das Wiedererscheinen des Herrn in strahlender Herrlichkeit. Dann ändert sich das Bild, dann wird alles anders. Jetzt hat unsere Kirche noch viele Menschlichkeiten und Ärgernisse an sich. Die größten Heiligen haben am meisten unter der Kirche gelitten, unter ihren Schwächen, unter ihren Gebrechen. Am Ende der Tage wird sie ohne Makel und Runzel dastehen und dem Herrn entgegengehen, geschmückt wie eine Braut.

Vorher geht die Kirche nicht geraden Weges voran. Sie hat Rückschläge zu verzeichnen. Es scheint, dass am Ende der Tage der Abfall überhand nimmt und die Liebe erkaltet. Viele werden sich von ihr abwenden, und vieles wird sie verlieren. Wir sollen uns dadurch nicht entmutigen lassen, meine lieben Freunde, wir wollen nicht verzagen ob der mächtigen Feinde unseres Glaubens. Wir sollen für die Kirche arbeiten, uns mühen. Wir sollen sie schmücken mit unseren Tugenden, schmücken mit unserer Persönlichkeit. Wir sollen alle Menschen gewinnen für unseren Herrn. Es gibt nur eine Kirche, in der alle ihren Platz finden. Nichts ist umsonst, nichts ist vergeblich, was für Gott und seine Herrlichkeit getan ist. Aber die Vollendung ist uns nicht gewährt. Der Vollender ist Christus. Er vollendet seine Braut. Dann wird sie diesem Bräutigam entsprechen. Dann erfüllt sie voll und ganz ihr Idealbild.

Aber Gott vollendet nicht nur die Kirche; er vollendet die ganze Schöpfung. „Die Gestalt dieser Welt vergeht“, schreibt der Apostel im 1. Brief an die Korinther. In der Parusie ergreift Christus endgültig und für immer Besitz von seiner Schöpfung für den Vater. Er unterwirft alles dem Vater. Er verwandelt die Welt. Er führt den Neuen Himmel und die Neue Erde herauf. Derselbe Gott, der die Welt erschaffen hat, wird sie auch umschaffen. Der Apokalyptiker Johannes versichert uns: „Ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde, denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer, das feindselige Meer ist nicht mehr.“ Jetzt liegt die Welt in Wehen und seufzt unter Sünden, unter Schuld. „Es geht ein allgemeines Weinen, soweit die stillen Sterne scheinen, durch alle Fasern der Natur.“ Wahrhaftig, ein allgemeines Weinen; denn der Mensch hat die Welt in seine Unheilsituation hineingezogen. Aber wenn die Verwandlung durch Gottes Allmacht eintritt, dann gebiert die Welt eine neue Wirklichkeit, dann wird das Seufzen und Ächzen der Schöpfung erhört, dann wird die Welt ganz die Welt Gottes sein. Sie wird von ihm gestaltet sein, ungestört in seiner Ordnung, eine Neuschöpfung, in der die Wirklichkeit Gottes in höchster Machtentfaltung und Liebe alles erfüllt. Dort ist Heil, Licht, Leben, dort ist die Verwirklichung der Königsherrlichkeit Gottes in höchster Vollendung.

Wenn der Herr wiederkommt, erfüllt sich auch die innigste Gemeinschaft zwischen Gott und den Menschen. Der Apokalyptiker beschreibt diese Gemeinschaft mit dem Bilde vom Zelt. Gott wird bei den Menschen „zelten“. Was besagt das? Nun, Gott wird uns so nahe sein, wie Zeltbewohner einander sind. Sie werden sich nicht belasten und nicht bedrücken, wie Zeltbewohner es auch können, sondern die Nähe Gottes wird uns selig machen und erfüllen. Sie wird keinen Wunsch mehr zulassen und jede Sehnsucht stillen. Die Nähe Gottes ist nicht bedrückend, sondern sie ist beglückend. Dann verstummt die Frage, die uns die Ungläubigen höhnisch entgegenhalten: „Wo ist denn euer Gott?“ Dann verstummt auch die bange Frage der Gläubigen: „Wo ist denn unser Gott?“ Dann ist Gott wirklich unser Emmanuel, unser Gott-mit-uns. Dann ist er wirklich unser Gott, und wir sind sein Volk. Dann geht er nie mehr von uns, dann ist er die Sonne, die nie mehr untergeht, der Tag, der keinen Abend kennt. „Er wird abwischen“, so versichert uns der Apokalyptiker, „alle Tränen von ihren Augen.“ O, meine lieben Freunde, wie viele Tränen hat der Herr abzuwischen! Denn die Erde ist ein Tal der Tränen, Tränen der Kinder, ach so vieler Kinder, die nicht verstanden, nicht geführt, nicht geliebt, sondern ausgebeutet, verführt, mißbraucht werden; Tränen der Frauen, ach so vieler Frauen, Tränen ob verlorener Liebe, ob verlorener Treue; Tränen so vieler Menschen, die ein verfehltes, ein geschändetes, ein mißlungenes Leben hinter sich gebracht haben, die weinen über verlorene Zeit, verlorene Gelegenheit, über verlorene Unschuld, über den verlorenen Beruf, die verlorene Berufung, über den verlorenen Gott. Wenn Gott die Tränen abwischt, dann vernichtet er die Trauer und den Tod. Dann bricht der Tag der Freude, des Glückes, des Jubels an, dann werden alle dunklen Rätsel gelöst, unter denen wir hier leiden. Dann ist das Leid endgültig überwunden, denn der auf den Throne sitzt, spricht: „Ich mache alles neu.“

Wir dürfen also in dem frohen Bewußtsein leben: Der Tag wird kommen, wo Gottes Allmacht, wo Christi Herrlichkeit vor der ganzen Welt aufstrahlen wird. Dann wird Unrecht als Unrecht, Recht als Recht erkannt werden. Gewalt, Lüge und Grausamkeit werden nicht den Sieg behalten, sondern Gerechtigkeit, Wahrheit und Güte. Das tiefste Leid des Menschen, die Rätselhaftigkeit, die Fragwürdigkeit des Daseins wird dann gelöst sein.

Wenn Sie mich fragen: Wann wird das sein?, so antworte ich: Wann Gott es bestimmt. Was jederzeit eintreten kann, ist immer nahe. Die Wiederkunft des Herrn steht noch aus. Wir harren ihrer, aber wir wissen weder den Tag noch die Stunde, die der allherrschende Gott für die glorreiche zweite Ankunft seines Sohnes bestimmt hat.

Näher ist uns der Tod. Näher sind uns die Letzten Dinge jedes Menschen: Tod, Gericht, Himmel oder Hölle. Sie werden unweigerlich eintreten. Eines ist ausgeschlossen, nämlich dass mit dem Tode des Leibes der ganze Mensch ins Nichts versinkt; das ist ausgeschlossen. Denn der Mensch besitzt eine geistige Wirklichkeit, die unzerstörbar ist. Wir nennen sie Seele. Sie ist nicht aus Teilen zusammengesetzt und kann deswegen auch nicht in Teile zerfallen. Sie ist ein unteilbares Ganzes. Der Herr erinnert uns an diese ewige Bestimmung der Seele, wenn er sagt: „Fürchtet nicht die, die den Leib töten, euch aber weiter nichts anhaben können. Fürchtet vielmehr den, der Leib und Seele in die Hölle stoßen kann. Ja, sage ich, den sollt ihr fürchten!“

Dazu kommt eine andere Überlegung. Gott hat den Menschen wunderbar erschaffen und noch wunderbarer erneuert. Er hat ihn erlöst mit seinem kostbaren Blut, er hat sich ihm mitgeteilt in der gnadenhaften Erhebung. Der erlöste Mensch ist zum Partner, zum Genossen, ach, was sage ich, zum Bruder des Gottmenschen Jesus Christus geworden. Es ist ausgeschlossen, dass Gott den Menschen, für den er so viel getan hat, ins Nichts zurücksinken läßt. Die persönliche Unsterblichkeit ist keine Anmaßung des Menschen, sondern ein Erweis der Treue Gottes. Gott hätte niemals so Großes für uns getan, wenn mit dem Tod des Leibes alles aus wäre.

Der Offenbarer Jesus Christus hat uns über das ewige Leben nicht im Ungewissen gelassen. Von der persönlichen Unsterblichkeit und dem Leben bei Gott hat er oft und wiederholt gesprochen. In seinen Abschiedsreden sagte er: „Vater, ich will, dass die, die du mir gegeben hast, dort bei mir sind, wo ich bin, damit sie meine Herrlichkeit sehen, die du mir verliehen hast.“ Wo Christus nach seiner Auferstehung ist, das wissen wir. Er ist in der Seligkeit, in der Herrlichkeit des Vaters. Dort will er uns bei sich haben. Er geht nur voraus. „Im Hause meines Vaters sind viele Wohnungen. Ich gehe hin, euch eine zu bereiten.“ Noch ergreifender, meine lieben Freunde, war es, als der Herr am Kreuze hing. Da wurden neben ihm zwei andere der gleichen Strafe unterworfen. Sie wußten beide: Der da in der Mitte hängt, ist schuldlos, er hat nichts Böses getan. Er wird von Gott in sein Reich aufgenommen werden. Sie aber werden in die Hölle gestoßen werden. Doch in einem der beiden Verbrecher keimt noch einmal ein letzter Funken Hoffnung auf. Er weiß, er ist verloren. Aber er will noch etwas haben, etwas Winziges, wie er meint, nämlich ein Gedenken des schuldlosen Jesus. „Gedenke meiner, wenn du in dein Reich kommst.“ Das wird Trost sein für ihn und soll seine letzte Freude sein. Er ahnt nicht, er ahnt nicht, meine Freunde, wie mächtig das Gedenken des Gottessohnes ist. Wenn er eines Menschen gedenkt, dann ist das nicht bloß ein Trost, dann ist das eine Rettung, dann ist das ein Heil, dann ist das ein Paradies. Ich weiß nicht, warum er sagte: „Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein.“ Denn wer bei ihm ist, der ist im Paradiese. Wenn Jesus eines Menschen gedenkt, dann öffnet ihm dies die Pforten des Paradieses.

Die Apostel haben die Botschaft Jesu vom ewigen Leben bei Gott aufgenommen und weitergetragen. Im Brief an die Philipper schreibt Paulus im Gefängnis: „Christus ist für mich das Leben und das Sterben daher Gewinn – und das Sterben daher Gewinn. Ich habe das Verlangen, aufgelöst zu werden – also zu sterben – und bei Christus zu sein. Das wäre bei weitem das Beste. Aber noch am Leben zu bleiben, ist euretwegen notwendiger.“ Paulus weiß, die Auflösung des Leibes ist die Heimkehr zu Christus. Wer in Christus hineingelebt hat, der stirbt auch in ihn hinein. Der Tod bringt ihm die selige Gemeinschaft mit Christus. Deswegen ist ihm das Sterben Gewinn, nicht Verlust.

Wer im Frieden Gottes stirbt, auf den wartet die ewige Seligkeit. Ein Reisender in Italien fragte einmal einen Mann auf der Straße, was er sich am meisten wünsche. Da antwortete dieser schlichte Mann: „Sterben im Frieden mit Gott.“ Sterben im Frieden mit Gott. Das war sein einziger Wunsch, sein höchster Wunsch. Und wahrhaftig, die Wesenszüge der ewigen Seligkeit sind aller Hoffnung wert. Sie ist endgültig, sie ist gnadenhaft, sie bringt ein Übermaß des Lohnes, sie erfüllt die Erlösung, sie befreit von allem Übel physischer oder seelischer Art, sie vollendet mit Gott, sie bringt die dauernde Gemeinschaft mit Christus. Diese unsagbare Herrlichkeit ist im Himmel für alle gegeben, die in Gnaden sterben, ob einer ein großer Heiliger war oder aber ein Kleiner im Himmelreich. Die Unterschiede liegen nur innerhalb dieser Herrlichkeit. Da freilich sind sie groß, wie die Unterschiede der Liebe auf Erden groß waren.

In der seligen Ewigkeit, meine Freunde, gibt es ein Wiedersehen mit all den geliebten Menschen, die ans Ziel gelangt sein, die uns im Zeichen des Glaubens vorangegangen sind. Hier wurden wir durch rätselhafte Umstände von ihnen getrennt, haben sie aus den Augen verloren, können sie nicht mehr erreichen. Drüben werden wir sie wiederfinden. Und diese Gemeinschaft der Heiligen wird ein unsagbares Glück sein. Untereinander werden sie im gemeinsamen Besitz Gottes und der verklärten Schöpfung einen Reichtum besitzen, dessen Größe wir nur ahnen können. „Freut euch und frohlocket, denn euer Lohn ist groß im Himmel.“

Meine lieben Freunde, am Fest Allerheiligen müssen wir uns drei Tatsachen vor Augen halten. Wir müssen erstens von einer heiligen Unruhe erfüllt sein. Wir müssen den Sieg des Reiches Gottes bereiten, soweit es in unserer Kraft steht. Um so herrlicher wird dieser Sieg sein, je mehr wir uns mühen. Nicht müde sein, nicht träge sein, sondern arbeiten und sich anstrengen, bis der letzte Tag gekommen ist. Das zweite ist: Wir müssen eine starke Hoffnung tragen. Wir wissen um den Sieg. Gottes Reich kommt, sein Triumph ist nicht eine Frage der Macht, sondern nur der Zeit. Und schließlich das dritte: eine heilige Freude. Wir sehnen uns, wir dürfen uns sehnen, wir müssen uns sehnen nach der Wiederkunft des Herrn. „Maranatha“ – Komm, Herr Jesus! So haben die Heiligen der ersten christlichen Generation gebetet. Komm, Herr, Maranatha! Wenn dies alles anhebt, dann erhebet euer Haupt. Ihr Gebückten, ihr Gedrückten, ihr Geschmähten, blickt empor und freuet euch, denn es naht eure Erlösung!

Amen.

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