Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
3. Oktober 2010

Das Gewissen – Stimme des Gesetzes Gottes

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Am 14. Sonntag nach Pfingsten hatten wir begonnen, über das Gewissen nachzudenken. Wir sagten, das Gewissen im eigentlichen Sinne ist eine Betätigung der praktischen Vernunft. Es richtet sich darauf, festzustellen, was geboten oder erlaubt oder was verboten und unerlaubt ist. Es spricht vor der Handlung: Das darfst du tun! Es sagt nach der Handlung: Was hast du getan! Durch das Gewissen wird die objektive Forderung des Gesetzes subjektiviert, wird sie zur Richtschnur des menschlichen Handelns. Das vorangehende Gewissen, das uns die Norm vorlegt – das Gewissen ist keine Norm, das Gewissen legt eine Norm vor – diese Norm, die uns das Gewissen vorlegt, ist die nächste und formale Anweisung für unser Handeln.

Richtig ist das Gewissen, wenn es mit der objektiven Norm des Gesetzes übereinstimmt. Wir alle wissen, dass das nicht immer der Fall ist. Wenn man das Gewissen als eine unmittelbare, übernatürliche Stimme Gottes ansehen könnte – könnte! –, dann wäre es tatsächlich ohne Irrtum, denn Gott kann sich nicht irren. Aber das ist es nicht. Das Gewissen zerfällt vielmehr in eine gottgegebene Anlage, die Gewissensanlage, eine Leuchtkraft, eine Richtkraft, und in das Gewissensurteil, in den Gewissensspruch. Ehe es von der Gewissensanlage zum Gewissensspruch kommt, bedarf es der Ansammlung von Wissen, von moralischem Wissen und eben der Urteilskraft der praktischen Vernunft. Das aktuelle Gewissen muss sich regen. Das Wissen um das Moralische und das aktuelle Gewissen schöpfen aber ihre Kenntnisse aus fehlbaren menschlichen Quellen. Das wissen Sie alle: Unaufhörlich strömen falsche, verwirrende Ansichten über das Gebotene oder das Verbotene aus den Massenmedien auf uns ein. Die nichtkatholischen Religionsgemeinschaften beanspruchen Gottes Willen zu verkünden, aber sie haben sich vom Quell der Wahrheit entfernt, der nur in unserer Kirche sprudelt. Auch sogenannte katholische Theologen verwirren die Gewissen mit ihren Aufstellungen. Sie sind der Wahrheit müde geworden, und deswegen bringen sie irrige Erkenntnisse unter die Gläubigen, die dadurch in den Irrtum, auch in den Gewissensirrtum, geführt werden.

Man unterscheidet zwei Arten des Irrtums, den unüberwindlichen und den überwindlichen. Der unüberwindliche Irrtum ist darin gelegen, dass das Gewissen vollständig von der irrigen Ansicht eingenommen ist. Es hat keine Möglichkeit, sie abzulegen. Der überwindliche Irrtum dagegen ist darin gelegen, dass das Gewissen imstande und verpflichtet ist, sich von dem Irrtum zu befreien, aber es wendet nicht die nötige Sorgfalt dafür auf. Der Irrtum ist unüberwindlich, wenn er entweder als solcher gar nicht erkannt wird oder als ein abzulegender nicht erkannt wird, oder wenn trotz dieser Erkenntnis der Irrtum nicht abgelegt werden kann, weil die Möglichkeit der Belehrung durch andere fehlt. Der überwindliche Irrtum dagegen ist darin gelegen, dass man den Irrtum als abzulegenden erkennt, aber sich nicht die notwendige Belehrung verschafft.

Neben der Unterscheidung zwischen unüberwindlichem Irrtum und überwindlichem Irrtum gibt es die andere des verschuldeten und des unverschuldeten Irrtums. Wir alle wissen, dass die Völker, die von jeder christlichen Verkündigung entfernt sind, in unüberwindlichem Irrtum sein können. Sie haben nur ihr buddhistische oder hinduistische Umgebung; der Weg zum christlichen Glauben ist ihnen verschlossen. Es gibt aber auch den verschuldeten Irrtum. Er ist bei denen vorhanden, die sich nicht mühen, zur Wahrheit zu kommen, obwohl sie es könnten. Jeder, der ein irriges Gewissen hat, wird einmal Gott darüber Rechenschaft ablegen müssen, wie er zum Gewissensirrtum gekommen ist, verschuldet oder unverschuldet. Und er wird für alle Taten und für alle Unterlassungen sich verantworten müssen, die aus diesem Irrtum gequollen sind.

Wie ist nun das irrige Gewissen vor Gott zu beurteilen, zunächst das unüberwindlich irrige Gewissen? Das unüberwindlich irrige Gewissen verpflichtet in derselben Weise wie das wahre Gewissen. Ich wiederhole noch einmal diesen fundamentalen Satz: Das unüberwindlich irrige Gewissen verpflichtet in derselben Weise wie das wahre Gewissen. Wieso? Nun, der Mensch, der ein unüberwindlich irriges Gewissen hat, ist ja überzeugt – überzeugt! –, dass in seinem Gewissensspruch der Wille Gottes sich vernehmen läßt. Indem er sich diesem Gewissensspruch beugt, handelt er subjektiv Gott wohlgefällig. Das gilt für alle Heiden, für alle ehrlichen, für alle ernsten Heiden, die ihrem Gewissen folgen. Sie haben ein unüberwindlich irriges Gewissen, aber da sie meinen, da sie überzeugt sind, dass ihr Gewissen der Widerhall der Stimme Gottes ist, sind sie, wenn sie diesem Gewissen folgen, salviert, können sogar in den Himmel kommen.

Es gibt Strömungen in der Philosophie, Materialismus, Rationalismus, Atheismus, die leugnen, dass es ein irriges Gewissen geben könne. Tatsächlich aber zeigt unsere Erfahrung und beweist die Geschichte, dass es irriges Gewissen gibt. So mancher hat sich infolge Verführung oder Verbildung ein irriges Gewissen gebildet. Man spricht heute von social proof, gesellschaftlichem Druck, gesellschaftlichem Beweis, social proof, und meint damit, dass von außen, von der Gesellschaft ein Druck ausgeübt wird, sich bestimmten, von uns gesehen falschen Maximen zu beugen. Der Mensch ist ja geneigt, das, was viele tun, für richtig zu halten, und schließt sich ihm an; er will nicht auffallen, er will nicht isoliert sein. Und so kommen viele, weil sie der Masse folgen, zu einem falschen, zu einem irrigen Gewissen. Wenn sie durch Belehrung aufgeschreckt werden und wenn die Gnade in ihnen wirkt, können sie diesen Irrtum ablegen, wenn sie einsehen, dass sie einem Irrtum aufgesessen sind.

Auch der Heiland bezeugt uns das irrige Gewissen. Er sagt einmal den Jüngern Verfolgungen voraus. Es soll eine Zeit kommen, sagt er, „da jeder, der euch tötet, Gott einen Dienst zu tun glaubt“. Der Verfolger, von dem der Herr hier spricht, ist der Mensch mit einem irrigen Gewissen. Der Apostel Paulus handelt im Römerbrief vom Essen des Götzenopferfleisches. Auf den Märkten der Antike wurde Fleisch angeboten, das den Götzen geopfert werden sollte und das für diesen Zweck bestimmt war. Und da entstand ein Streit in der Gemeinde: „Ja, darf man das denn essen?“ Paulus hat keine Bedenken: „Natürlich kann man das essen, denn die Götzen existieren ja gar nicht.“ Also ist es völlig unbedenklich, dieses Fleisch zu essen. Aber es gibt Ängstliche, und diese Ängstlichen meinen, man würde sich versündigen, wenn man es ißt. Wenn sie es nun trotzdem, trotz dieser Bedenken essen, dann handeln sie gegen ihr Gewissen. Hier sieht man, wie die Offenbarung sehr genau vom irrigen Gewissen handelt. Dazu kommen natürlich andere Gründe, wie man ein irriges Gewissen haben kann: die allgemeine Hinneigung zum Bösen, die in uns ist. Wir neigen zum Verbotenen, meine lieben Freunde, das ist eine eherne Wahrheit. Der Mensch ist interessiert an einer billigen Moral, und so nimmt er leicht an, dass etwas nicht verpflichtet. Die meisten Menschen bemühen sich auch nicht, die Moralgesetze kennenzulernen. Sie wollen sie gar nicht wissen, um nicht verpflichtet zu sein.

Ungenau ist es, wenn jemand sagt: Das Gewissen sei immer wahr. Nein, das Gewissen ist nur dann wahr, wenn sein Spruch mit der objektiven Norm der Moral übereinstimmt. Gewissensspruch und Wahrheit können aber auseinandergehen, wie wir aus jeder Beichte wissen. Was beichten wir denn in der Kammer des Beichtstuhls? Unsere Gewissensübertretungen, dass wir dem Gewissen nicht gehorcht haben. Ungenau wäre es auch, zu sagen. Folge deinem Gewissen und betrachte alles als objektive Sünde, was gegen dein Gewissen ist. Diese Regel wäre nur dann gültig, wenn das Gewissensurteil im gefallenen Menschen stets wahr und sicher wäre. Wir wissen aber, dass der Gewissensspruch durch Irrtum, durch Verkennung der objektiven Wirklichkeit sich verirren kann. Man kann das Prinzip, also den sittlichen Grundsatz, durch logisch falsche Anwendung pervertieren. Häretisch – häretisch! – wäre es, zu sagen: Allein dein Gewissen entscheidet, weil man damit die objektive, von der Kirche verkündete sittliche Ordnung Gottes ablehnt. Nein, entscheidend ist das Gesetz Gottes. Der Katholik darf niemals sein subjektives Gewissensurteil gegen eine verpflichtende Norm der Kirche stellen, denn wenn der Gewissensspruch richtig ist, kommt er von Gott, und die Norm, die die Kirche verkündet, kommt von Gott, Gott kann sich aber nicht widersprechen. Entscheidend für die Wahrheit und für das Recht ist nicht, was der einzelne meint, sondern was Gott lehrt und gebietet.

Das richtige Gewissen und die Lehre der Kirche haben denselben Ursprung, nämlich Gottes Willen. Es ist unmöglich, dass Gott dem Gewissen befiehlt, gegen die Lehre der Kirche, hinter der er steht, zu handeln. Also wem angeblich oder wirklich das Gewissen gebietet, die Dreifaltigkeit Gottes abzulehnen, wie es ja bei vielen Protestanten der Fall ist, der trennt sich damit von der Kirche und von Gott. Wer die verbindliche Lehre der Kirche über die geschlechtliche Sittlichkeit aufgrund eines angeblichen Gewissensurteils ablehnt, verfehlt sich gegen Gottes Willen.

Das war die Lehre über das unüberwindlich irrige Gewissen. Nun zweitens die Lehre über das überwindlich irrige Gewissen. Das überwindlich irrige Gewissen kann nur in sehr bedingter Weise Richtschnur unseres Handelns sein. Hier steht nämlich neben dem Urteil über eine zu vollziehende Handlung im Hintergrund eine Ahnung seiner Unrichtigkeit oder eine Mahnung zur Prüfung. Somit kann die Vernunft hier nicht als die Leitstelle angesehen werden, die uns das Gesetz Gottes vorlegt. Die Kraft der Gewissensanlage überträgt sich nicht auf diesen Gewissensspruch, ehe er geklärt ist. Das heißt: Man darf nicht gegen das überwindlich irrige Gewissen handeln, man darf ihm aber auch nicht folgen. Ja, was dann? Man muss den Irrtum überwinden. Man muss sich Mühe geben, den Irrtum zu überwinden. Das geschieht durch eigenes Nachdenken, durch Befragen anderer, durch Gebet und ähnliche Mittel. Wir alle wissen, meine Freunde, dass die Berufung auf das Gewissen gegen Gottes Willen, wie er von der Kirche verkündet wird, heute gang und gäbe ist. Immer wenn die Kirche Lästiges, Beschwerliches, Anstrengendes vorschreibt, berufen sich Menschen auf ihr gegenteiliges Gewissen. Es sei noch einmal gesagt. Wer sich gegen die verbindliche Lehre der Kirche auf das Gewissen beruft, trennt sich insoweit von der Kirche. Denken Sie an die verschiedenen Gruppen und Aktionen! Der Heilige Vater kann so soft verkünden, wie er will, dass es für die Kirche unmöglich, Frauen zu Priestern zu weihen, es gibt Gruppen und Einzelpersonen bis in hohe Ränge hinein, die das Gegenteil vertreten. Es ist ausgeschlossen, dass die Kirche tatenlos zusieht, wie sie von Personen, die sich auf ihr Gewissen berufen, unterwühlt und verunstaltet wird. Die Kirche muss sich wehren. Wenn jeder in der Kirche unter Berufung auf sein Gewissen tun und lasen könnte, was er wollte, dann würde sich die Kirche als Gemeinschaft des Glaubens und als Hort des Rechtes auflösen. Das ist ja geradezu das Wesen der Kirche, dass diejenigen, die ihr zugehören, ihr Gewissen nach ihrer Lehre bilden. In der Kirche versammeln sich diejenigen, denen das Gewissen vorschreibt, sich dieser Kirche anzuschließen und in ihr zu verharren und auf sie zu hören.

Genau das ist es. Ein kirchlicher Angestellter, der nach seiner Scheidung eine neue Zivilehe eingeht, kann seine kirchliche Anstellung verlieren. Ein Priester, der unter Berufung auf sein Gewissen Homosexualität betreibt, verliert nicht nur seine kirchliche Stellung, sondern unterliegt kirchlichen Strafen. Ein Theologieprofessor, der unter Anrufung des Gewissens die Göttlichkeit Jesu bestreitet, wie Herr Küng in Tübingen, kann nicht mehr als kirchlicher Lehrer geduldet werden. Vor einer Reihe von Jahren erhob eine Theologieprofessorin, Frau Uta Ranke-Heinemann, eine Tochter des ehemaligen Bundespräsidenten Heinemann, ihre Stimme und lehnte die immerwährende Jungfräulichkeit Mariens ab. Der zuständige Bischof zögerte nicht, sie zu beanstanden, und sie mußte von ihrem Lehramt weichen.

Die Kirche schätzt das Gewissen hoch. Sie weiß, dass das Gewissen, wenn es richtig spricht, die Stimme Gottes ist. Aber sie weiß auch, dass das Gewissen sich an der Lehre der Kirche ausrichten muss. So bleibt uns am Schluß dieser Überlegungen nur die eine große Bitte: „Herr, neige mein Ohr deinen Geboten!“

Amen.

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