Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
17. Mai 2009

Herr, lehre uns beten

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Unser Heiland betet. Die Jünger haben den Herrn beten sehen. Sie selbst haben auch gebetet in ihren Häusern, im Tempel, in den Synagogen. Aber so haben sie nie einen beten sehen wie den Herrn. Und als der Herr sich vom Gebet erhebt, da kommt die große Bitte von ihren Lippen: „Herr, lehre uns beten!“ Die Jünger wußten offenbar nicht, dass sie damit selbst eines der schönsten Gebete formuliert hatten, das es im Neuen Testament gibt: „Herr, lehre uns beten!“ Diese Bitte ist nie mehr verstummt. Die Großen im Reiche des Geistes haben sie unermüdlich erneuert. Der heilige Augustinus spricht: „Ich weiß nicht, wie ich beten soll. Lehre du mich, o Herr, zu beten.“

In unserer Zeit scheint freilich diese Bitte verstummt zu sein, scheint das Gebet ausgelaufen zu sein. Wir leben in einer Atmosphäre, in der man für das Gebet nichts mehr übrig hat. Man sagt von einem Manne: Das ist ein tüchtiger Arbeiter. Aber ich habe noch nie gehört, dass jemand von einem Manne sagt: Das ist ein tüchtiger Beter. Die Arbeit wird geschätzt, sie imponiert, aber das Gebet wird geringgeschätzt. Man zuckt die Achseln. Wir müssen uns klar sein, was das bedeutet. Das bedeutet, dass das Gebet für viele nichts Großes, nicht Gewaltiges, nichts Heiliges mehr ist. Das Gebet, so sagen manche, ist etwas für Frauen, für alte Frauen und Kinder. Es ist etwas für Schwächlinge. Wie falsch! Meine lieben Freunde, das Gebet wird nicht deswegen unterlassen, weil es leicht ist, sondern es wird deswegen nicht geübt, weil es schwer ist. Gebet ist Arbeit, Gebet ist anstrengende Arbeit, Gebet ist anstrengende geistige Arbeit. Und deswegen wird so wenig, wird so wenig gut gebetet. Wenn wir die Menschen betrachten in ihrem Lebenskreis: Sie gehen auf im Beruf, in der Familie. Sie beschäftigen sich mit Sport, mit Fernsehen. Sie sind bedacht, ihre Freizeit angenehm zu verwenden. Aber mit dem Gebet haben sie es nicht. Der Mann, der gewohnt ist, mit Zahlen zu rechnen, soll im Gebet auf einmal mit der Unendlichkeit zurecht kommen. Der Mensch, der nur dauernd in den Kleinigkeiten seines Berufes aufgeht, soll plötzlich Gedanken von Gott und Ewigkeit fassen. Das ist für viele zu schwer. Da sträubt sich die ganze Bequemlichkeit, da wehrt sich die gewohnte Starrheit des Denkens.

Das beginnt schon beim Hinknien. Das erfordert eine gewisse Selbstüberwindung. Hat die der heutige Mensch? Sie haben vielleicht beobachtet, dass selbst in unseren Gotteshäusern das Knien immer mehr nachgelassen hat und mancherorts ganz aufgegeben worden ist. Ja, es gibt Gotteshäuser, katholische Gotteshäuser, in denen die Kniebänke fehlen. Knien ist ein Akt der Demut. Vor Gott sind wir klein und armselig, hilfsbedürftig und Bettler. Deswegen machen wir uns vor ihm klein. Wir knien hin und zeigen damit, dass wir demütig Gottes Gaben erbitten.

Man will nicht eingestehen, dass Beten schwer ist. Und so hat man Entschuldigungen: Ich habe keine Zeit. Es bringt nichts. Es hat keinen Zweck. So sagen die Leute, wenn vom Gebet die Rede ist. Aber wenn es so schwer ist, zu beten, dann muss die Bitte in uns aufstehen: „Herr, lehre uns beten!“

Wer von uns kann richtig beten? Wann beten wir? Wenn es üblich ist: am Morgen, am Abend, bei Tisch, im Gotteshaus, bei Beerdigungen. Wenn es üblich ist. Das ist ja nicht falsch, aber es besteht die Gefahr, dass das Gebet zu einer Formalität wird, zu einem äußeren Akt, bei dem die Seele nicht mehr beteiligt ist. So wie wir sagen: Guten Tag, oder wie man heute sagt: Hallo oder Tschüß, ohne Inhalt, ohne Herz, ohne innere Beteiligung. Die Menschen denken nichts mehr dabei.

Der Herr mahnt uns: „Ihr sollt beten und nicht nachlassen. Ihr sollte allezeit beten.“ Das heißt nicht, dass man unaufhörlich Gebete sprechen soll, aber die Gebetshaltung, der Lobpreis auf Gott, der Dank gegenüber Gott, die Bitte zu Gott, diese Haltung soll immerdar in uns sein. Das bedeutet es, wenn der Herr sagt: „Ihr sollt allezeit beten.“ Es gibt keinen Zeitraum, in dem das Gebet nicht angebracht wäre. Aber wenn wir mit unserer gewohnten Oberflächlichkeit beten, dann kann es sein, dass uns einmal blitzartig der Gedanke kommt: Was ich tue, ist eigentlich kein Beten. Da muss man sich losreißen und bitten: „Herr, lehre du mich beten!“

Beten heißt, nicht nur die Geisteskräfte zusammenraffen, beten heißt, die Seele hineintauchen in Gott in tiefster Demut und Anbetung, in wahrer Liebe und Hingabe. Beten heißt, dem Herrgott anbieten eine reine, heilige, liebende Seele. Beten heißt, in den Himmel hinaufreichen und Gottes Gnade herabholen. Wir haben es bitter nötig zu rufen: „Herr, lehre uns beten!“

Der Herr hat das tiefe Wort gesprochen: „Ohne mich könnt ihr nichts tun.“ „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben.“ „Wenn ihr in mir bleibt, dann könnt ihr wirken.“ „Ohne meine Kraft seid ihr wie Rebzweige, die ausgeschnitten werden und verbrannt werden.“ Und der heilige Paulus hat das tiefe Wort gesprochen: „Niemand kann sagen: Herr Jesus, außer im Heiligen Geiste.“ Das heißt: Wenn wir beten wollen, wie es Gott gefällt, dann nur so, dass wir in seiner Gnade beten. Beten ist eine Gnade, ein Geschenk Gottes, eine der größten Gnaden, die Gott den Menschen geben kann. Beten ist etwas Großes, über alles Irdische erhaben. „Ohne mich könnt ihr nichts tun.“ Also auch nicht beten. „Niemand kann sagen: Herr Jesus, außer im Heiligen Geiste.“

Einer, der es tiefer erfaßt hat als wir, nämlich der heilige Pfarrer von Ars, Johannes Vianney, hat einmal in einer Predigt gesagt: „Wir hätten es verdient, nicht beten zu dürfen. Aber Gott hat uns in seiner Güte gestattet, dass wir zu ihm sprechen dürfen.“ Wir hätten es verdient, nicht beten zu dürfen. Aber Gott hat uns in seiner Güte gestattet, dass wir zu ihm sprechen dürfen. Weil das Gebet eine Gnade ist, kommt es denen am leichtesten an, zu beten, die in der Gnade leben, die aus der Gnade leben, die mit der Gnade leben. Und das sind oft nicht die Großen dieser Welt, sondern die Kleinen, die Bescheidenen, die Demütigen, die man übersieht, die man vergißt. Die verstehen häufig, gut zu beten. Ihr Gebet dringt durch den Himmel.

Ich kenne die Einwände, die wir alle haben, nämlich: Mir fehlt die Andacht beim Gebet. Rufen wir: Herr, lehre mich beten! Wir kommen in das Gotteshaus, wir besuchen die heilige Messe. Es ist nicht notwendig, dass wir das Gebetbuch in die Hand nehmen. Wenn wir nur rufen, die ganze heilige Messe: „Herr, lehre mich beten“, dann haben wir die Messe gut mitgefeiert. „Ich schaffe es nimmermehr. Herr, lehre mich beten!“ Was ist das ein ergreifendes Gebet! Und wenn wir nur unser Stammeln zum Himmel schicken, dann haben wir gut gebetet. Aber es würde aus dem Herzen kommen. Nur was aus dem Herzen kommt, findet zum Herzen Gottes. Wer sich eingesteht, dass er nicht beten kann und dann doch betet und um Gnade fleht, dem ist Gott am allernächsten.

Es gibt Mittel, meine lieben Freunde, um andächtig zu beten. Die Andacht leidet häufig durch die Länge des Gebetes. Ein einziges andächtig gebetetes Vaterunser ist besser als viele, die hastig und gedankenlos heruntergeleiert werden. Besser wenige Worte und viel Herz als viele Worte und wenig Herz. Dazu ein anderes. Man muss sich für das Gebet rüsten. Wir müssen uns schon vor dem Gebet in die Gegenwart Gottes versetzen. Man muss sich sammeln, man muss sich aufmuntern, um das Gebet gut zu verrichten. Wir sollten uns angewöhnen, vor jedem Gebet uns zu fragen: Was will ich tun? Beten, aber auch gut beten. Ein weiteres ist hilfreich: beim Gebet von Zeit zu Zeit eine Pause machen. Ganz kurz, aber regelmäßig, um zurückzuschauen auf den begangenen Weg und hinzuschauen auf den vor uns liegenden Weg, eine Pause, in der wir uns besinnlich fragen: Was will ich tun? Eine Pause, in der wir den Vorsatz erneuern: Ich will beten. Niemand kann während des mündlichen Gebetes auf jeden einzelnen Satz und auf jedes einzelne Wort achten und es ausschöpfen. Aber jeder kann durch Pausen zu sich zurückfinden zum Zweck und Sinn des Gebetes.

Beten aber, meine lieben Freunde, ist notwendig, ist unentbehrlich, ist unerläßlich. Wenn jemand sagt: Was habe ich nötig, zu beten? Dann antworte ich: Gerade weil du meinst, es nicht nötig zu haben, hast du es nötig. Nur durch Gebet kann die Seele die Macht des bösen Geistes überwinden. Das Gebet ist die Hauptquelle alles Guten, das Werkzeug zur Erlangung des Heiles. Es trennt sich von Gott, wer sich nicht durch das Gebet mit Gott verbunden hält. Wer dem Gebet aus dem Wege geht, der geht geradewegs hinein in die Versuchung. Vernachlässigung des Gebetes ist auch immer der erste Schritt zum Unglauben. Die Welt wäre nicht gottlos, wenn sie nicht gebetslos wäre. Wenn der betete, der ohne Sünde war, um wieviel mehr müssen wir beten, die wir Sünder sind? Wenn er in beständigem Wachen die Nacht hindurch gebetet hat, darum müssen auch wir andächtig und anhaltend beten.

Beten ist die Kraft, die rettet. Beten ist die Stärke, die Ausdauer verleiht. Beten ist die Brücke, die über dem Abgrund die Seele mit Gott vereint. Ich kann nicht beten, sagt mancher. Das ist eine Irrlehre. Du kannst immer beten. Verspürst du Widerwillen oder Abscheu vor dem Gebet, dann bete weiter. Bete dir zum Trotz, bete gegen dich! Beten soll man dann am meisten, wenn es einem am schwersten fällt. Ich wiederhole: Beten soll man dann am meisten, wenn es einem am schwersten fällt, denn dann braucht man das Gebet am nötigsten, dann ist die Versuchung am nächsten, dann ist die Stunde der Gnade herbeigekommen. Wer sich zu Gott wendet trotz Unlust und Abneigung, der wird von Gott besonders gesegnet.

Beten wir auch beharrlich! Nicht aufgeben, wenn die Erhörung nicht sofort erscheint. Es gibt das schöne Wort von dem bayerischen Dichter Waggerl: „Gott hilft immer, aber er kommt oft eine Viertelstunde später, um unseren Glauben zu erproben.“ O wie wahr, meine lieben Freunde. Gott hilft immer, aber er kommt oft eine Viertelstunde später, manchmal auch ein Vierteljahr später, um unseren Glauben zu erproben. Und Vertrauen haben im Gebet. Die Stunden Gottes schlagen langsam. Je vertrauensvoller unser Gebet ist, um so mehr Gnaden schöpfen wir aus dem Gebet. Man erhält von Gott alles nach dem Maß des Vertrauens. „Man muss Gott beim Herzen packen“, hat einmal die heilige Theresia von Avila geschrieben, „das ist seine schwache Seite.“

Es war während der Kriegszeit. Ein Priester hatte die Kranken und Verwundeten und die Sterbenden in einem Lazarett zu besuchen. Er ging von einem Bett zum anderen. Da war einer, als er den Priester kommen sah, sagte er: „Ich kann nicht beten.“ „Dann werde ich mit Ihnen beten“, sagte der Priester. „Nein“, antwortete er, „ich kann nicht beten.“ „Sind Sie katholisch?“ „Ja, ich bin katholisch, aber ich kann nicht beten.“ Und dann erzählte er stockend und abgebrochen sein Leben, das Leben eines armen Menschen, er war Waisenknabe, hatte nie seine Eltern kennengelernt. In ganz jungen Jahren war er schon zu fremden Leuten gekommen, die hatten ihn ausgenutzt. Er hatte keine rechte Schule besucht, keinen Religionsunterricht erhalten, keinen Priester kennengelernt. Niemals hatte eine Mutter seine Hände gefaltet. Dann war er hinausgegangen ins Feld. Im Granatfeuer hatte er erlebt, wie andere Kameraden beteten. Aber er klagte: Ich kann nicht beten. Der Priester sprach mit ihm über die heiligen Wahrheiten des Glaubens, so schlicht und einfach, wie es eben nur ging. Und dann, das vergaß er nie, hat er mit diesem Manne das erste Vaterunser gebetet. Auf dem Tisch lag die goldene Patene, lag das Allerheiligste. Der Priester sprach Wort für Wort vor, und der Sterbende sprach Wort für Wort nach. Aus seinen Augen rollten die Tränen. Jetzt wußte er, wie er zu seinem Vater im Himmel sprechen mußte, und jetzt mußte er sterben. Wer sich das eingesteht: Ich kann nicht beten, der ist dem Herrgott am nächsten. Derjenige, der bittend und flehend und sehnend ruft: Herr, lehre mich beten, ich kann es nicht, der ist Gott am nächsten,

Der Heiland betet, und die Jünger schauen ihm mit großen Augen zu wie Kinder. Endlich steht er auf. Da kommen die Apostel zu ihm, und flehend sprechen sie zu ihm: „Herr, lehre uns beten!“

Amen.

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