Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
27. Januar 2002

Die Bedeutung Gottes für die menschliche Existenz

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Am vergangenen Sonntag haben wir gefragt: Was ist der Mensch? Wir haben erkannt: Der Mensch ist ein Bote Gottes, er ist eine Magd oder ein Knecht Gottes, und er ist ein Pilger Gottes. Man kann also den Menschen nicht bestimmen, wenn man von Gott absieht; zur Definition des Menschen gehört Gott. Heute wollen wir fragen: Was ist Gott? Wir werden sehen, daß man Gott nicht bestimmen kann ohne Bezug auf den Menschen; denn wie Gott in sich ist, das ist uns absolut unzugänglich, aber was Gott für uns ist, das vermögen wir zu sagen. Wir wollen unsere Aussagen über Gott in vier Attribute zusammenfassen, nämlich

1. Gott ist unser großes Geheimnis,

2. Gott ist unser großes Erlebnis,

3. Gott ist unser großer Reichtum und

4. Gott ist unsere große Verheißung.

An erster Stelle ist Gott unser großes Geheimnis. Ein Geheimnis ist schon der Gottesbegriff. Die großen Denker des Heidentums wie die Theologen des Christentums haben dazu beigetragen, den Gottesbegriff zu formen. Wenn Aristoteles Gott als den „unbewegten Beweger“ bestimmt, dann hat er etwas Richtiges gefunden. Gott ist der unbewegte Beweger. Und wenn die mittelalterlichen Theologen Gott als „ens a se“ bestimmen, als das Sein, das durch sich selbst, also nicht durch einen anderen, existiert, dann ist damit etwas Zutreffendes von Gott ausgesagt. Gott ist ein „ens a se“. Aber freilich, alle Aussagen, die wir von Gott machen, erschöpfen ihn nicht; sie treffen ihn, aber sie vermögen sein Wesen nicht zu umgreifen. Der Gottesbegriff bleibt immer analog, d.h. er sagt etwas Richtiges aus, aber die Unähnlichkeit Gottes mit diesem Begriff ist größer als die Ähnlichkeit. Der Gottesbegriff ist ein Geheimnis.

Ein Geheimnis ist auch das Dasein Gottes. Wir stoßen in unserer Erfahrung nicht auf Gott. Er geht nicht ein in unsere Apparate, in unsere Fernrohre, in unsere Computer. Gott ist der Erfahrung nicht zugänglich; er wohnt, wie die Schrift sagt, „in unzugänglichem Lichte“. Nun gibt es die Gottesbeweise, und diese Gottesbeweise sind gültig. Aber einem, der nicht an Gott glaubt, der nicht an Gott glauben will, vermag man mit diesen Beweisen das Dasein Gottes nicht nahezubringen. Sie haben eine Bedeutung, indem sie uns nämlich intellektuell vergewissern, daß unser Glaube berechtigt, vernünftig, ja gefordert ist, aber einem, der von Gott nichts wissen will, werden die Beweise nicht helfen können. Ein Geheimnis ist das Dasein Gottes.

Ein Geheimnis ist auch das Wesen Gottes. Wir haben versucht, solange es Menschen gibt, in das Wesen Gottes einzudringen: Wie ist Gott? Was ist Gott? Und man hat drei Wege gewählt. Man hat alles, was schlecht und böse ist, von Gott ferngehalten, man hat es Gott abgesprochen; man hat alles Gute, Schöne und Heilige Gott zugesprochen. Man hat das Gute, Schöne und Heilige ins Unermeßliche gesteigert auf der „via eminentiae“, und das ist alles richtig. Dennoch vermögen wir in das Wesen Gottes nur gewissermaßen am Rande einzudringen. Gott bleibt in seinem Wesen ein Geheimnis, denn auch das Schlimme auf der Erde muß seine Erklärung in Gott finden. Es gibt auf Erden nicht nur Engel, sondern auch Teufel; auch das muß aus dem Wesen Gottes erklärt werden.

Ein Geheimnis ist auch unser Verhältnis zu Gott. Wie steht Gott zu mir? Was wird er sagen, wenn ich ihm gegenüberstehen werde im Gericht? Ich habe einmal das Sterben einer sehr alten Dame miterlebt, und eine ihrer Fragen, die sie an mich richtete, lautete: „Wird Gott mich annehmen?“ Ja, das ist die entscheidende Frage: Wird Gott mich annehmen? Wie steht Gott zu mir? Bin ich im Gnadenstande? Wir haben keine untrügliche Glaubensgewißheit, ob wir gerechtfertigt sind und uns im Gnadenstande befinden. Wir haben eine moralische Gewißheit, die jeden vernünftigen Zweifel ausschließt, aber wir haben keine Glaubensgewißheit, nicht diese letzte, endgültige und unwiderrufliche Gewißheit, die dem Glauben zu eigen ist. Ein Geheimnis ist auch Gottes Verhältnis zu uns. Gott ist unser großes Geheimnis.

Gott ist auch unser großes Erlebnis. Ein Erlebnis ist eine Erkenntnis, die uns bis ins Innerste trifft, die uns erfaßt und ergreift, und Gott kann und soll und will uns zum Erlebnis werden. Es soll Stunden geben, in denen wir erfahren, daß Gott ist und wie Gott ist. Der Religionsphilosoph Rudolf Otto hat die beiden Erlebnisweisen in die Worte gefaßt: Gott ist das „tremendum“, und er ist das „fascinosum“ – er ist die erschreckende Macht, und er ist die anziehende Güte. Ja, das sind die Weisen, in denen Gott uns zum Erlebnis werden muß. Einmal, einmal wenigstens müssen wir Gott erfahren als den Herrn, als den absoluten Herrn, denn wir sind seine Knechte und seine Mägde. Was er will, ist Recht, denn er ist die Quelle des Rechtes. Er hat alle Macht, und wenn es auf Erden irgendeine Macht gibt, dann ist sie von ihm abgeleitet. Wir können ihm nicht entgehen, wir können ihm nicht entfliehen, er ist unausweichlich. In einem Psalm heißt es: „Wohin soll ich gehen vor deinem Geist, wohin fliehen vor deinem Antlitz? Stiege ich auch zum Himmel hinauf, du bist dort. Läge ich auch drunten im Totenreich, siehe, da bist du. Nähme ich mir auch der Morgenröte Schwingen und ließe mich nieder am Ende des Meeres, so würde auch dort deine Hand mich geleiten, deine Rechte mich fassen. Und dächte ich: In Finsternis will ich mich verhüllen, zur Nacht soll werden das Licht um mich her, so wäre auch die Finsternis nicht für dich finster, die Nacht wäre hell wie der Tag, die Finsternis wie das Licht.“ Gott ist unausweichlich. Er ist der Herr, und es gibt Stunden, meine lieben Freunde, in unserem Leben, da hilft nichts anderes als der Gedanke: Er ist der Herr. Wenn er es verfügt, dann muß es geschehen. Wenn er es will, dann muß ich es auch wollen. Dein Wille geschehe! Gott ist unser großes Erlebnis, weil er der Allmächtige, der Allherrscher ist, weil er der Herr ist.

Gott kann auch deswegen unser Erlebnis sein, weil er die Güte ist. Er ist die absolute Güte; er ist das Gute selbst. Alle Güte nimmt ihr Maß von ihm. Er ist absolut gut, und wir geben ihm den Namen Vater. Auf Erden gibt es keinen Menschen, der den Begriff Vater wirklich erfüllt. Deswegen sagt ja auch Jesus: „Ihr sollt euch nicht Vater nennen lassen. Einer ist euer Vater, der im Himmel.“ Das besagt: Der Begriff des Vaters wird nur von einem einzigen erfüllt, nämlich von dem Vater im Himmel. Alle anderen sind schwache Anklänge an diesen Vater im Himmel. Gott ist die Güte. Es wäre schlimm, wenn wir an der Güte Gottes jemals irre würden, meine lieben Freunde. Auf dem Friedhof in Riga in Lettland liegt ein 18jähriges Mädchen begraben, das von den Bolschewisten erschossen wurde. Dieses Mädchen hat im Gefängnis ein Gebet verfaßt, das es den Mitgefangenen vorgebetet hat. Dieses Gebet lautet:

„Weiß ich den Weg auch nicht, du weißt ihn wohl,

das macht die Seele still und friedenvoll.

Ist doch umsonst, daß ich mich sorg‘ und müh‘,

daß ängstlich schlägt mein Herz, ob spät, ob früh.

Weiß ich den Weg auch nicht, du weißt die Zeit,

dein Plan ist fertig stets und liegt bereit.

Ich preise dich für deine Liebesmacht,

ich preis‘ die Gnade, die mir Heil gebracht.

Du weißt, woher der Wind so stürmisch weht,

und du gebietest ihm, kommst nie zu spät.

Drum wart‘ ich still; dein Wort ist ohne Trug.

Du weißt den Weg für mich: Das ist genug!“

Das ist das Erlebnis der Güte Gottes. Gott ist unser großes Erlebnis.

Er ist auch drittens unser großer Reichtum. Was in unserer Seele sich bewegt an guten Gesinnungen, an rechten Entschlüssen, an tapferen Haltungen, das geht auf Gott zurück. Das sind immer Spannungen, die da in unserem Inneren sich bewegen, und diese Spannungen sind ein Zeichen der Lebendigkeit, die Gott in unserer Seele erzeugt. Wir müssen ständig auf der Suche sein nach der Tugend, nach dem Vollbringen unseres Werkes, nach dem Fertigwerden mit den Schwierigkeiten unseres Lebens. Wir sind ständig unterwegs. In dieser Hinsicht sind wir ruhelos, aber doch nicht friedlos. Denn unser Suchen hat ja ein Ziel, es hat ja eine Sicherheit, es geht ja zu Gott. Wir haben am vergangenen Sonntag gesehen, daß die Dinge alle deswegen laufen, weil sie zu Gott müssen. Und darin einbegriffen ist auch der Mensch; auch er will zu Gott. Sein ganzes Sehnen und Rufen und Wollen tendiert letztlich zu Gott. Das erzeugt Gott in unserer Seele, diese ständige Bewegung, dieses rastlose Arbeiten, Kämpfen und Suchen, und er gibt uns auch die Gewißheit, daß es zum Ziele führt.

Gott erweckt in unserer Seele auch eine große Bescheidenheit; denn wenn wir uns mit ihm vergleichen, da kommen wir zu den Worten, die der 8. Psalm uns in den Mund legt: „Sehe ich den Himmel, das Werk deiner Finger, den Mond und die Sterne, die du aufgestellt: Was ist der Mensch, daß du sein gedenkst, der Erdensohn, daß du ihn ansiehst?“ Wahrhaftig, der Mensch muß stille werden vor Gott, er muß in Ehrfurcht schweigen, wenn er seine Geschöpflichkeit ernst nimmt. Und doch kann er stolz sein. Er kann stolz sein, weil Gott ihm etwas anvertraut hat, nämlich ein Wörtchen von ihm zu sagen, ein Lied von ihm zu singen, die Botschaft zu formulieren, die Gott in ihn gelegt hat. Und so ist sein Leben sinnvoll, es ist brauchbar. Über jedem Menschen steht eine Erwartung, ob er das, was Gott von ihm hören will, auch richtig formulieren wird. Das ist unser Stolz, daß wir gebraucht werden, von Gott gebraucht werden, daß Gott etwas von uns erwartet. Darum ist unser Leben keine Kleinigkeit, keine Winzigkeit, nein, unser Leben ist bedeutsam und wertvoll und groß im Angesichte Gottes.

Was Gott weiter in unsere Seele legt und was unser Reichtum ist, das ist der Glaube. Der Glaube ist ein Geschenk Gottes. Niemand kann glauben, wenn Gott ihn nicht zieht. Der Glaube ist eine Gnade, die Gott uns gewährt, und der Glaube verbindet uns mit Wirklichkeiten, die über der Erfahrung liegen. Wir wissen, daß Jesus, unser Heiland, in der Brotsgestalt zugegen ist; wir wissen, daß in der Weinsgestalt sein heiliges Blut pulsiert, wir wissen es aus dem Glauben; freilich nicht aus der Erfahrung. Und insofern hat der Glaube eben immer auch ein gewisses Dunkel an sich. Wir leben im Glauben und nicht im Schauen. Aber es wird uns doch immer auch ein Licht gegeben. Es gibt doch Gelegenheiten, Erlebnisse, Stunden, in denen uns gewiß wird, daß der Glaube die Wahrheit ist. Ich denke vor allem, meine lieben Freunde, an die Gebote Gottes. Sie sind unser Halt! Wir spüren doch, wie wir gefallen wären, wenn wir uns nicht an Gott und seine Gebote gehalten hätten. Wir ahnen doch, was aus uns geworden wäre, wenn wir die heilige Religion nicht umfangen hätten. Wir sind doch zu allem fähig! Das ist das Erlebnis des Glaubens, der auch ein Verstehen in sich birgt. Glauben und Verstehen gehören zusammen. Der Glaube gibt uns Licht, er ist nicht bloß Dunkel, wie man so gern hört und gesagt bekommt, nein, der Glaube ist ein Licht unseren Füßen, ein Licht auf unserem Wege.

Noch ein Letztes erweckt Gott in unserer Seele, weil er unser Reichtum ist, nämlich er läßt uns die Einsamkeit ertragen. Wer ohne Gott ist, kann die Einsamkeit nicht aushalten. Er braucht ein Buch, ein Theater, Gesellschaft, er kann nicht einsam sein. Aber wem Gott zum Reichtum geworden ist, der kann einsam sein, denn er weiß, diese Einsamkeit ist eine Zweisamkeit mit Gott. Wer die Welt draußen läßt, der findet Gott. Wer sich von den Dingen und von den Menschen absentiert, der trifft das große göttliche Du, das uns zur Zweisamkeit wird. So ist Gott unser großer Reichtum.

Er ist aber auch viertens unsere große Verheißung. Wenn wir einmal richtig denken, wenn wir einmal mit unseren Überlegungen bis zum Schluß kommen, dann erkennen wir: Wir brauchen eigentlich nichts und niemanden außer Gott. Nur einer ist unersetzlich, nämlich Gott. Nur einer ist unentbehrlich, nämlich Gott. Deswegen ist es so betrüblich, wenn Menschen meinen, Gott nicht zu kennen, nicht kennen zu wollen, auf Gott zu verzichten, auf ihn verzichten zu wollen. Solche Menschen sind zutiefst zu bedauern. Sie haben nicht begriffen, daß alles enttäuscht, daß alles verläßt, daß alles entflieht, nur einer nicht, Gott. Im wahrsten und eigentlichen Sinne ist nur Gott unentbehrlich. Und umgekehrt: Ohne Gott alles Spott! Gott verloren – alles verloren! Gott ist so unersetzlich, er ist so unentbehrlich, daß seine Verheißung sicher und gewiß ist. Er verheißt uns, daß er uns selig machen will. „Gott will, daß alle Menschen selig werden“, so steht es in der Heiligen Schrift. Und wenn er will, dann ist das ein schöpferischer Wille, dann kommt das zum Ziele – wenn der Mensch einstimmt. Denn ein Geisteswesen kann man nicht gegen seinen Willen selig machen. Wenn immer der Mensch einstimmt, dann wird Gott ihm die Seligkeit schenken. Und worin besteht die Seligkeit? Sich selbst wird er schenken, sich selbst will er schenken. Er will das ewige Wort, das Wort, das er von Ewigkeit spricht, in uns hineinsprechen, und davon sollen wir satt werden und zu dem Augenblick sprechen: Verweile! Wenn Gott dieses Wort in uns hineinspricht, dann werden wir sagen: Sprich es noch einmal, sprich es immer wieder! Und wir werden in alle Ewigkeit nicht genug davon bekommen. Das will uns Gott sein: die Seligkeit in alle Ewigkeit.

Wir haben versucht, das, was Gott für uns ist, in Worte zu fassen. Wir sagten: Er ist erstens unser großes Geheimnis, zweitens unser großes Erlebnis, drittens unser großer Reichtum und viertens unsere große Verheißung. Uns bleibt jetzt nur mit dem Psalmisten zu beten: „Wie der Hirsch nach der Wasserquelle, so sehnt sich meine Seele nach dir, o mein Gott.“

Amen.

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