Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
7. Mai 2000

Die Gnade der Gottesfreundschaft

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wir hatten uns vorgenommen, im Anschluß an das Ereignis, das sich am 31. Oktober 1999 in Augsburg zugetragen hat, über die Rechtfertigung nachzudenken. Das ist ja ein recht ungewohnter und fremder Begriff. Rechtfertigung gebraucht man im täglichen Sprachgebrauch, um sich von einem Vorwurf zu befreien. Aber so ist er nicht gemeint, dieser Begriff, wenn wir ihn in der Religion verwenden.

Theologisch betrachtet bedeutet Rechtfertigung Versetzung aus dem Stand des Sünders in den Stand des Geheiligten. Aber damit ist freilich noch nicht alles gesagt. Die Kirche hat immer versucht, dieses Geschehen, das als Wiedergeburt, als Neuschöpfung in der Heiligen Schrift bezeichnet wird, näher zu bestimmen und zu klären. Wir müssen ja Rechenschaft geben von unserem Glauben, d. h. wir dürfen uns nicht bei irgendwelchen Formeln beruhigen, sondern wir müssen versuchen, in das Glaubensgeheimnis einzudringen, soweit das menschlichem Bemühen zugänglich ist. Das sind wir Gott, das sind wir aber auch uns selbst und schließlich den anderen Menschen schuldig. Dabei bleiben wir uns bewußt, daß alles, was wir über göttliche Dinge sagen, nur analog ausgesagt werden kann. Die Analogie ist ein grundlegender Begriff, den auch Sie, meine lieben Freunde, sich einverleiben müssen: analog, d. h. die Aussagen, die wir über Gott treffen, sind mehr unähnlich als ähnlich. Sie sagen etwas Richtiges aus, aber das Richtige, das ausgesagt wird, ist dem, was ausgesagt werden soll, dem Gegenstand der Aussage, mehr unähnlich als ähnlich.

Ja, warum reden wir dann überhaupt? Damit wir nicht schweigen müssen. So hat auch das Konzil von Trient das Rechtfertigungsgeschehen unter Zuhilfenahme der aristotelischen Ursachenlehre deutlich zu machen versucht. Das Konzil von Trient sagt: Die Zielursache der Rechtfertigung ist die Ehre Gottes und unser Heil. Das heißt also: Wozu geschieht die Rechtfertigung? Nun, damit Gott geehrt werde und damit wir das Heil finden. Das Konzil sagt weiter: Die Verdienstursache der Rechtfertigung ist das Leiden Christi. Er hat uns die Rechtfertigung verdient. Er hat ja die Sünden in völliger Ergebenheit gegen den Willen des Vaters auf das Kreuzesholz getragen, und das ist das Verdienst, das uns in der Rechtfertigung zuteil wird. Das Konzil spricht weiter von der Wirkursache der Rechtfertigung. Die Wirkursache ist jene Ursache, welche die Wirkung hervorbringt. Die Wirkursache der Rechtfertigung ist der barmherzige Gott. Aus Barmherzigkeit rechtfertigt Gott den Menschen; aus Liebe zu der gefallenen Kreatur rechtfertigt er den Menschen. Die Werkzeugursache, also das Mittel, mit dem die Rechtfertigung bewirkt wird, ist die Taufe. In der Taufe wird uns die Rechtfertigung zuteil. Und schließlich die letzte Ursache, die wesengebende Ursache, die Formalursache ist die Gerechtigkeit Gottes, nicht die er in sich selbst hat, sondern die Gerechtigkeit, die er uns schenkt, die er uns überträgt, die wir von ihm empfangen. Die einzige wesengebende Ursache unserer Rechtfertigung, unseres Gerechtfertigtseins ist die Gerechtigkeit, mit der Gott uns umkleidet.

Es hat nicht an Versuchen gefehlt, den Aufstellungen der Religionsneuerer entgegenzukommen. Die Kirche hat ja den Bruch nicht gesucht mit diesen Männern; sie hat versucht, auf sie einzugehen, und so ist es auch auf dem Konzil von Trient gewesen, nämlich daß man (Seripando, Gropper, Pighius) versucht hat, dem Rechtfertigungsbegriff der Protestanten entgegenzukommen. Man sprach von einer „doppelten Gerechtigkeit“, von einer angerechneten und von einer anhaftenden. Es hat eine heftige Diskussion um diese doppelte Gerechtigkeit gegeben. Aber sie wurde vom Konzil als unangemessen abgewiesen. Es gibt nur eine wesengebende Ursache der Rechtfertigung, nämlich die Gerechtigkeit, die uns einhaftet, mit der Gott uns beschenkt, die wir von ihm empfangen. Sünde und Heiligkeit können nicht zugleich im Menschen sein. Wenn die Heiligkeit einzieht, muß die Sünde weichen. Und so ist auch die Lehre der thomistischen Theologenschule zu verstehen, wenn sie sagt: „Die heiligmachende Gnade tilgt die Sünde.“ Wenn die heiligmachende Gnade in die Seele einzieht, wird die Sünde vernichtet.

Nun hat man versucht, die heiligmachende Gnade, die also die Rechtfertigung herbeiführt, näher zu bestimmen, philosophisch und theologisch. Was ist die heiligmachende Gnade? Nun, wir haben es als Kinder vielleicht einmal im Katechismus gelernt: Die Gnade ist jede geistliche Gabe, die uns Gott zu unserem Heile verleiht. Das ist nicht falsch, ist aber vielleicht nicht ganz ausreichend, um das Wesen der heiligmachenden Gnade zu bestimmen. Philosophisch gesehen muß man die heiligmachende Gnade als ein Akzidens, eine Qualität und einen Habitus bezeichnen. Das sind gar fremde Ausdrücke, aber ich will sie kurz zu erklären versuchen. Die heiligmachende Gnade ist ein Akzidens, d. h. sie besteht nicht in sich selbst, sondern sie haftet einem anderen an. Die heiligmachende Gnade ist keine Substanz, die einen Selbststand hat, sondern sie besteht in einem anderen, eben in dem menschlichen Ich, mit dem die heiligmachende Gnade zu einer einzigen Wirklichkeit gleichsam zusammenwächst. Sie ist ein Akzidens. Sie ist eine Qualität. Qualität ist leichter zu verstehen. Das bedeutet etwa so  viel wie eine Beschaffenheit. Sie ist eine Beschaffenheit; sie ist eine Eigenschaft, nämlich eine Eigenschaft, die uns Licht und Glut schenkt, Liebe und Wärme. Man kann, als Eigenschaft betrachtet, die heiligmachende Gnade mit einem Eisen vergleichen, das in der Hitze glühend gemacht wird. Das Eisen bleibt natürlich Eisen, aber es verändert seine äußere Form durch den Zustand des Glühendgemachtwerdens. Ähnlich-unähnlich kann man sagen ist die heiligmachende Gnade eine Qualität. Und sie ist schließlich ein Habitus, d. h. eine Zuständlichkeit. Sie wohnt im Menschen, sie bleibt im Menschen, sie verändert den Menschen, sie umkleidet den Menschen. Wir haben, als wir begnadet wurden,  Christus angezogen, wie wir am vergangenen Sonntag gesehen haben. Deswegen muß man die heiligmachende Gnade als einen Habitus, eine Zuständlichkeit bezeichnen. Das ist die philosophische Erklärung: Akzidens, Qualität, Habitus.

Theologisch betrachtet muß man viel mehr und viel Schöneres von der heiligmachenden Gnade sagen. Sie ist nämlich eine neue Existenzweise. Sie erhebt uns in ein höheres Sein. Die heiligmachende Gnade ist nicht nur eine Gesinnungsgemeinschaft mit Christus, sie ist eine Seinsgemeinschaft. Das ist das, was uns von den Aufstellungen der sogenannten Reformatoren wesentlich trennt. Die heiligmachende Gnade ist etwas Ontisches, also etwas im Sein Gegebenes. Sie verändert das Sein des Menschen, nicht nur seine Gesinnung. In der heiligmachenden Gnade bekommen wir eine Seinsgemeinschaft mit Gott; wir werden göttlicher Natur teilhaftig, nicht mehr, aber auch nicht weniger. So ist es in der Heiligen Schrift ausgesagt, nämlich im zweiten Petrusbrief: „Er hat uns der kostbarsten und größten Verheißungen teilhaftig gemacht, damit ihr durch sie der göttlichen Natur teilhaftig werdet, wenn ihr den in der Welt herrschenden verderblichen Lüsten entronnen seid.“ Damit ihr durch sie der göttlichen Natur teilhaftig werdet! Mehr kann man nicht sagen, und Höheres kann dem Menschen nicht zuteil werden: der göttlichen Natur teilhaftig! Und diese Lehre der Heiligen Schrift findet ihren Widerhall in jeder heiligen Messe. Wenn Sie in der heiligen Messe den Schott zur Hand nehmen und bei der Opfervorbereitung das Gebet mitbeten bei der Vermischung des Weines mit Wasser, da heißt es: „Gott, du hast den Menschen in seiner Würde wunderbar erschaffen und noch wunderbarer erneuert. Laß uns durch das Geheimnis dieses Wassers und Weines teilnehmen an der Gottheit dessen, der sich herabgelassen hat, unsere Menschennatur anzunehmen, Jesus Christus, dein Sohn, unser Herr.“ Laß uns durch das Geheimnis dieses Wassers und Weines teilnehmen an der Gottheit dessen, der sich herabgelassen hat, unsere Menschennatur anzunehmen! Wir treten in eine Seinsgemeinschaft, wir treten in eine Wesensgemeinschaft mit Gott.

Das hat wiederum zwei Seiten, nämlich einmal: Diese Seins- und Wesensgemeinschaft bringt eine Verbundenheit mit Gott. Der Mensch in der heiligmachenden Gnade ist Gott verbunden. Die Wesens- und Seinsgemeinschaft bringt sodann eine Ähnlichkeit mit Gott. Der heilige Thomas von Aquin spricht von der übernatürlichen Gottebenbildlichkeit. Es gibt eine natürliche Gottebenbildlichkeit, die haben wir als Geschöpfe. Durch unseren Geist, der den Körper beherrscht, sind wir Gott ähnlich mit einer natürlichen Gottebenbildlichkeit. Durch die heiligmachende Gnade empfangen wir eine übernatürliche Gottebenbildlichkeit. Wie ist das zu verstehen? Wir werden Gott ähnlich, insofern er der Dreipersönliche ist. Das dreipersönliche Wesen Gottes spiegelt sich im Menschen, der die heiligmachende Gnade empfangen hat. Wir können also sagen: Im Menschen, der in der heiligmachenden Gnade lebt, zeugt der Vater durch sein Erkennen den Sohn, hauchen Vater und Sohn den Heiligen Geist. In einer ähnlich-unähnlichen Weise werden wir mit Gott verbunden.

Diese Wirklichkeiten sind nicht anschaulich, wie ja der Glaube überhaupt nicht anschaulich ist. Ich erinnere immer wieder an die Aussage des Briefes an die Hebräer: Der Glaube ist die Überzeugung von dem, was man nicht sieht, die Zuversicht auf das, was man erhofft. Das ist das Wesen, aber auch die Grenze des Glaubens, und sie kann von uns nicht überschritten werden. Auf Hoffnung hin sind wir gerettet, und wir können die Wirklichkeiten der heiligmachenden Gnade nicht unter dem Mikroskop untersuchen oder auf der Waage wägen. Die Wirklichkeiten der Gnade sind unanschaulich, sie überschreiten jede Erfahrung. Und dennoch sind sie wirklich. Wir sind Freunde Gottes. In der heiligmachenden Gnade sind wir Freunde Gottes. Wir sind Diener Gottes von Natur, denn wir sind auf Erden, ihm zu dienen, aber wir sind Freunde Gottes durch die Begnadung. Freunde sind im irdischen Leben Menschen, die sich gegenseitig lieben, die eine Gemeinschaft bilden und doch ihren Selbststand bewahren, die sich einander hingeben, ohne sich zu verlieren. So ähnlich-unähnlich ist die Freundschaft, die uns mit Gott verbindet. Auch hier haben wir wieder einen biblischen Text, der uns gewiß macht: Wir sind Freunde Gottes. „Eine größere Liebe hat niemand, als die ist, daß jemand sein Leben für seine Freunde hingibt. Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch heiße. Ich nenne euch nicht mehr Diener, denn der Diener weiß nicht, was sein Herr tut. Ich nenne euch Freunde, denn ich habe euch alles geoffenbart, was ich von meinem Vater gehört habe. Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und euch dazu bestellt, daß ihr hingeht und Frucht bringt und eure Frucht dauere, damit der Vater euch alles gebe, um was ihr ihn in meinem Namen bittet.“ In diesen ergreifenden Versen aus dem Johannesevangelium werden wir gewiß gemacht, daß wir Freunde Gottes sind. Gott liefert sich uns gewissermaßen aus, und wir sollen uns ihm übergeben.

Eine Freundschaft ist immer auch ein Wagnis, denn man weiß nie, wie sich eine Freundschaft entwickelt. Bei der Freundschaft mit Gott sind wir uns gewiß, daß Gott uns nicht enttäuschen wird. Aber auch wir dürfen ihn nicht enttäuschen. Freundschaften haben Belastungsproben zu bestehen, und das gilt auch für die Freundschaft mit Gott. Gott mutet nämlich seinen Freunden viel zu. Er mutet ihnen vor allem Leiden und Fährnisse zu. Aber wahre Freundschaft triumphiert über alle Belastungsproben. Wahre Freundschaft hält durch in allen Beschwernissen. Wahre Freundschaft endet erst, wenn sie erfüllt wird in der Freude des Himmels.

„Wenn ein Mensch wüßte“, sagt einmal die heilige Magdalena von Pazzi, „was es um die Freundschaft Gottes ist, dann würde er vor Glück sterben.“

Amen.

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