Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
8. November 1998

Die dem Nächsten geschuldete Ehre

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wir hatten uns vorgenommen, die Pflichten zu bedenken, die der Einzelne gegenüber dem Nächsten hat. Am vergangenen Sonntag sprachen wir von der Treue, die der eine dem anderen schuldet. Wir wollen heute uns Gedanken machen über die Ehre, die ebenfalls dem Nächsten geschuldet wird. Die Ehre oder der gute Name besteht in dem Ansehen, das jemand in der Gesellschaft besitzt. Man hat einen guten Namen, wenn die Menschen gut von einem sprechen.

Der gute Name oder die Ehre ist ein hohes Gut, mehr wert als Geld und Reichtum, denn es sind drei Gründe, welche den Wert des guten Namens ausmachen. Erstens: Wer Ehre besitzt, wer in der Gesellschaft angesehen ist, der besitzt auch Einfluß. Wenn man einen guten Namen hat, hören die Menschen auf einen; sonst sagen sie: Arzt, heile dich selbst! Zweitens: Man kann nicht innerlich glücklich sein, wenn man in der Schande lebt. Ein Mensch, der von allen verachtet wird, der kann nur betrübt und trostlos sein. Der innere Friede hängt zu einem Stück davon ab, daß man unbescholten ist und als solcher gilt. Drittens: Der gute Name ist ein Vehikel der Tugend, d.h. wenn jemand Ehre besitzt, wird er sich auch bemühen, ehrenhaft zu handeln, denn er will ja der Ehre nicht verlustig gehen, er will seine Ehre behaupten. Das ist aber nur möglich, wenn er sich von allem fernhält, was die Ehre mindert oder zerstört.

Die Ehre ist also ein hohes Gut, und wir haben die Pflicht, dem Nächsten in dreifacher Weise seine Ehre erhalten zu helfen. Erstens, indem wir ihm die Ehre erweisen, die er verdient. Jeder Mensch kann von den anderen erwarten, daß sie ihm ein Minimum an Ehre beweisen, und das müssen wir dem anderen zubilligen. Zweitens: Wir sollen die Ehre des Nächsten verteidigen, wenn sie angegriffen wird. Wir sollen sie schützen, vor allen Dingen, wenn es sich um nahestehende Menschen handelt, um unsere Angehörigen. Dann sollen wir ihre Ehre gegen Anwürfe verteidigen. Drittens: Wir dürfen die Ehre des Nächsten nicht schmälern; wir dürfen sie nicht verletzen. Das soll der Hauptgegenstand unserer heutigen Überlegungen sein: Wie verletzten wir die Ehre des Nächsten? Wir verletzen sie erstens durch innere Sünden und zweitens durch äußere Sünden.

Wir verletzen die Ehre des Nächsten durch innere Sünden. Die erste innere Sünde besteht in dem unberechtigten Zweifel an der Ehrenhaftigkeit des anderen. Man darf manchmal zweifeln, ob jemand ehrenhaft ist oder nicht, aber dann müssen Gründe vorliegen. Wenn wir unbegründet zweifeln, verfehlen wir uns schon gegen die Ehre des Nächsten; denn auch hier gilt der Satz: Melior est conditio possidentis – Die Lage dessen, der etwas besitzt, ist besser als die eines anderen, der nichts besitzt. Und wenn einer die Ehre nach außen hat, dann darf man sie ihm auch nicht in unberechtigter Weise kränken. Einen Schritt weiter geht man, wenn man Argwohn gegen den Nächsten hegt. Argwohn kommt von Arges wähnen. Wenn man also dem Nächsten zutraut, daß er Böses tut, daß er sittlich fehlerhaft ist, und dies wiederum auf ungenügende Gründe hin, dann ist man argwöhnisch; der leichtfertige Argwohn ist eine Sünde. Wenn sich jemand schuldig gemacht hat, und wenn wir Beweise dafür haben, dann wird man bei späterem Verhalten des anderen mißtrauisch sein, mit Recht. Aber wo das nicht der Fall ist, wo keine genügenden Gründe vorliegen und man nimmt als wahrscheinlich an, daß er Böses getan hat, dann ist das der leichtfertige Argwohn.

Die Heilige Schrift gibt uns manche Beispiele solchen leichtfertigen Argwohns. Der Pharisäer im Tempel meinte, der Zöllner sei ein großer Sünder; in Wirklichkeit war er ein aufrichtiger Büßer. Und Simon, der Pharisäer, meinte, die Frau, die sich dem Herrn näherte und seine Füße mit ihren Tränen benetzte, sei eine böse Sünderin; aber sie war eine große Büßerin. Das war unberechtigter Argwohn. Ein Schutzmann herrschte einmal eine Frau, die auf der Straße etwas aufgehoben hatte, an: „Was haben Sie sich da unberechtigt angeeignet?“ Die Frau öffnete ihre Schürze und zeigte ein Glasscherbe. „Ich habe die Glasscherbe aufgehoben, damit nicht die Kinder, die barfuß laufen, sich verletzen.“ Unberechtigter Argwohn ist eine Sünde, kann unter Umständen, wenn wir dem anderen schwerste Vergehen zutrauen, zu einer schweren Sünde werden. Noch weiter geht man, wenn man ein freventliches Urteil über den anderen fällt. Das geschieht dann, wenn man seine sittliche Fehlerhaftigkeit als sicher hinstellt, obwohl keine genügenden Gründe dafür vorliegen. Wer dem anderen sittliche Schwäche zuschreibt ohne hinreichende Gründe, der fällt ein freventliches Urteil. Und leider ist dieses freventliche Urteil nicht selten. Menschen sind leicht geneigt, auch ohne genügende Gründe dem anderen etwas Böses zuzutrauen.

Die inneren Sünden werden leicht zu äußeren Sünden gegen die Ehre und den guten Namen des anderen. Die erste äußere Sünde ist die Beschimpfung. Die Beschimpfung besteht darin, daß man ehrenkränkende, ehrverletzende, Geringschätzung oder Verachtung ausdrückende Bemerkungen über einen anderen in dessen wirklicher oder gedachter Gegenwart macht. Die Beschimpfung ist ein weites Feld, und es kommt leider Gottes auch in vielen Familien vor, daß der eine den anderen beschimpft. Ein junges Mädchen berichtete ihrer Mutter, daß sie einen Verehrer habe und daß er sie sehr liebe. „Ja“, sagte die Mutter, „woran merkst du das?“ „Ja, er sagt zu mir: Mein Mäuschen, mein Häschen.“ „O“, sagte die Mutter, „das kenne ich; später werden die Tiere immer größer!“ Es ist merkwürdig, daß gerade Tiernamen dazu herhalten müssen, um einen anderen zu beschimpfen, um die verächtliche Gesinnung, die man über ihn hegt, auszudrücken. Beschimpfungen werden uns im Neuen Testament an mehreren Stellen berichtet; vor allem trafen sie unseren Herrn und Heiland. Man nannte ihn einen „Fresser“ und „Weinsäufer“, weil er nicht so asketisch lebte wie Johannes der Täufer. Man nannte ihn einen „Samariter“, und das war auch eine Beschimpfung, denn die Juden hatten ja Feindschaft mit den Samaritern. Auch im Alten Bunde wird von solchen Beschimpfungen berichtet. Semei verfluchte den David und nannte ihn einen Bluthund und einen Sohn des Teufels. David allerdings lehnte es ab, ihn zu bestrafen oder sich an ihm zu rächen, denn er sagte: „Der Herr hat es ihm eingegeben.“ Semei war offenbar ein Werkzeug in der Hand Gottes, der dem David seine Vergehen und Verfehlungen vorhalten wollte.

Neben die Beschimpfung tritt die Ehrabschneidung. Die Ehrabschneidung besteht darin, daß man geheime Fehler des anderen aufdeckt und auf diese Weise ihm seine Ehre verkürzt. Das ist ein Fehler, der außerordentlich häufig ist; denn über weniges sprechen die Menschen so gern wie über geheime Fehler des anderen. Sie meinen, wenn der andere sinkt, steigen sie selbst empor. Aber das ist nicht der Fall. Die Ehrabschneidung fällt auf den zurück, der sie begeht. Es ist oft schon im Leben so gewesen, daß derjenige, der einem anderen durch Aufdeckung von dessen Fehlern die Ehre verkürzt, ebenfalls wieder an Ehrabschneidung zu leiden hat.

Nicht jedes Aufdecken fremder Fehler ist unberechtigt. Es kann zulässig, es kann sogar pflichtmäßig sein, geheime Fehler des anderen aufzudecken. Wenn etwa jemand unter einem anderen leidet, und er besitzt einen vertrauten Freund, dann ist es ohne Schuld, wenn er diesem Freund seine Leiden unterbreitet, denn Gott hat uns einen Mund gegeben, mit dem wir auch klagen können, was uns bedrückt. Es wäre auch nicht unzulässig, geheime Fehler aufzudecken, wenn man einen anderen oder die Allgemeinheit vor einem Menschen bewahren will. Denken Sie etwa an einen Mann oder an eine Frau, die sich um öffentliche Ämter bewerben. Wenn wir mit Gewißheit Kenntnis haben von schwerwiegenden Mängeln und Fehlern dieser Menschen, dann kann eine Pflicht bestehen, sie der Öffentlichkeit zu unterbreiten, um das Volk, um die Gemeinde, um den Bundestag vor ihnen zu bewahren. Denn ich sage noch einmal mit den Worten von Robespierre: „Ich glaube nicht, daß ein schlechter Mensch ein guter Politiker sein kann!“

Die schlimmste Verfehlung gegen den anderen in offener Weise ist die Verleumdung. Sie besteht darin, daß man dem Nächsten Fehler zuschreibt, die er nicht hat. Verleumdung ist deswegen so schwerwiegend, weil hier eine doppelte Sünde begangen wird, nämlich: Man schadet dem anderen an der Ehre und man lügt zudem. Verleumdung ist eine doppelte Sünde; sie vergeht sich gegen zwei Gebote. Aber auch diese Sünde ist leider Gottes nicht selten. Im Alten Bunde wird uns berichtet, wie die Frau des Putiphar den Josef verleumdete, als ob er sich ihr in böser Absicht genähert hätte. Im Babylonischen Exil haben zwei Richter, also zwei führende Männer des jüdischen Volkes, die Susanna, die keusche Susanne verleumdet, als ob sie mit ihnen hätte Unzucht treiben wollen. Verleumdung ist eine furchtbare Waffe, ist wie ein Dolch, der einen anderen verletzt.

Meine lieben Freunde, wir haben die Pflicht, die Ehre des anderen zu schützen, ihm die gebührende Ehre zu erweisen und uns vor Ehrverletzung zu hüten. Wir können, indem wir dem anderen ehrenhaft und ehrenvoll begegnen, ihn selbst heben. Jemand, der ehrenhaft behandelt wird, fühlt sich, wenn er einen Funken Edelmut in sich hat, angetrieben, so zu handeln, wie die Menschen von ihm denken. Und umgekehrt: Wenn wir jemandem die Ehre vernichten, dann kann es sein, daß er in die Gosse absinkt, daß er das Böse, das ihm zu Recht oder zu Unrecht zugeschrieben wird, zum Anlaß nimmt, um so mehr in die Schuld hineinzufallen. Die Heilige Schrift mahnt uns oft, die Ehre des anderen zu schützen und zu verteidigen. „Vergeltet nicht Böses mit Bösem, nicht Scheltwort mit Scheltwort, vielmehr kommet einander zuvor und segnet einander, damit ihr Segen erbet!“ In einem Hause habe ich einmal den schönen Spruch gelesen: „Was machst du mir das Leben schwer! Wir zanken hin, wir zanken her. Und hast du mich genug gekränkt, wirst du und ich ins Grab gesenkt!“

Amen.

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