Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
3. Mai 1998

Die Pflicht zur Nächstenliebe

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Die Verbindung mit Gott, die für unser Diesseits und Jenseits lebensnotwendig ist, wird hergestellt durch die göttlichen Tugenden, durch die auf Gott sich beziehenden Tugenden des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe. Wir hatten an den vergangenen Sonntagen diese Tugenden zu entfalten und zu verstehen versucht. Am letzten Sonntag sprachen wir von der Liebe, von der übernatürlichen Liebe zu Gott. Wir erkannten, daß die Liebe ein dreifaches Moment in sich schließt, nämlich das Wohlwollen, das Wohltun und die Einmütigkeit der Gesinnung. Wir haben heute zu diesem Thema noch einige andere Fragen zu stellen und sie zu beantworten zu versuchen, nämlich

1. Welche Veränderungen sind in der Liebe möglich?

2. Welches sind die Motive der Liebe?

3. Welches ist ihr Gegenstand?

Die erste Frage lautet: Welche Veränderungen der übernatürlichen Liebe sind möglich? Die Antwort lautet: Die Liebe kann vermehrt oder vermindert werden, sie kann aber auch verlorengehen. Die Liebe ist ja eine Annäherung an Gott, und diese Annäherung ist in sich unbegrenzt. Die Liebe kann also gesteigert und vermehrt werden. Und deswegen betet die Kirche: „Gib uns Wachstum im Glauben, in der Hoffnung und in der Liebe!“

Die Liebe soll in uns vermehrt werden; wir sollen Gott immer mehr lieben. Wodurch wird die Liebe vermehrt? Sie wird vermehrt – und das ist die Wirkursache – durch Gottes allmächtiges Erbarmen. Gott ist die einzige Wirkursache der Vermehrung. Aber das schließt die Tätigkeit des Menschen nicht aus, sondern ein; denn Gott vermehrt die Liebe nur dem, der sich dafür disponiert, der also seine Seele in einen Zustand versetzt, wiederum in der Kraft der Gnade, der für die Aufnahme eines größeren Maßes an Liebe geeignet ist. Was müssen wir tun, um diese Vermehrung der Liebe von Gott zu verdienen? Jawohl, verdienen! Das ist der Ausdruck, auch wenn er dem Herrn Spital in Trier nicht paßt. Wir verdienen die Vermehrung der Liebe. Wir verdienen sie durch gute Werke. Durch gute Werke, die in der Kraft der Gnade vollbracht werden, verdienen wir uns die heiligmachende Gnade, die himmlische Glorie und die Vermehrung der himmlischen Glorie. Wir müssen also bemüht sein, durch gute Werke uns zu disponieren für die Vermehrung der Liebe in uns. Gute Werke sind zum Beispiel die Losschälung von der Anhänglichkeit an die irdischen Dinge; gute Werke sind die Werke der leiblichen und geistlichen Barmherzigkeit; ein gutes Werk ist die Erweckung der Liebe zu Gott. „O mein Gott und Herr, ich liebe dich von ganzem Herzen über alles und meinen Nächsten wie mich selbst, weil du das unendlich liebenswürdige Gut bist.“ Das ist Erweckung der Liebe.

Die Liebe kann auch vermindert werden. Sie wird vermindert durch die läßliche Sünde und durch Nachlässigkeit in der Verrichtung guter Werke. Das Christenleben ist anstrengend, meine lieben Freunde, und deswegen sucht man es heute zu entschärfen; man sucht es bequem zu machen. Die gesamten sogenannten Pseudoreformen der letzten drei Jahrzehnte stehen unter dem Generalnenner Erleichterung, Bequemlichkeit. Das ist keine Reform! Nein, wer nicht aufpaßt, bei dem wird die Liebe vermindert. Wer nachlässig ist in der Verrichtung guter Werke, wer in die läßliche Sünde verfällt, der vermindert die übernatürliche Liebe in sich, und er ist auf dem Wege, sie zu verlieren.

Die übernatürliche Liebe wird verloren durch die schwere Sünde. Mit der Gnade wird auch die Liebe durch die schwere Sünde vertrieben. Jede schwere Sünde hat diese Folge, nicht nur etwa eine Sünde, die unmittelbar gegen die Gottesliebe gerichtet ist, nein, jede schwere Sünde. Es besteht heute ein moraltheologischer Irrtum, daß nämlich nur die Sünden, die unmittelbar gegen Gott gerichtet seien, schwere Sünden seien. Das ist ganz falsch. Das widerspricht der Botschaft des Neuen Testamentes. Im 1. Brief an die Korinther schreibt der Apostel Paulus: „Wisset ihr nicht, daß Ungerechte das Reich Gottes nicht erben werden? Täuschet euch nicht: Weder Unzüchtige noch Götzendiener, weder Ehebrecher noch Weichlinge, weder Knabenschänder noch Diebe, weder Habsüchtige noch Trunkenbolde, weder Lästerer noch Räuber werden das Reich Gottes erben.“ Hier wird also ganz klar gesagt, daß jede schwere Sünde vom Reiche Gottes, und das heißt natürlich auch von der Liebe, die ja zum Reiche Gottes führt, ausschließt. Ähnlich im 1. Timotheusbrief: „Das Gesetz ist nicht für die Gerechten gegeben, sondern für die Ungerechten und Unbotmäßigen, Gottlosen und Sünder, Lasterhaften und Gemeinen, Vatermörder und Muttermörder, Menschenmörder, Unzüchtigen, Knabenschänder, Menschenräuber, Lügner und Meineidigen und was sonst noch der gesunden Lehre widerstreitet.“ Wir müssen uns also vor jeder schweren Sünde hüten, wenn wir die übernatürliche Liebe bewahren wollen.

Die zweite Frage, die wir uns stellten, war: Welche Motive haben wir denn für die übernatürliche Liebe? Nun, das entscheidende Motiv für die echte übernatürliche Gottesliebe kann nur Gott selbst sein. Gott in seiner Schönheit und Größe, Gott in seiner Güte und Allmacht, Gott in seinem Erbarmen und seiner Gerechtigkeit, das ist das entscheidende Motiv für die übernatürliche Liebe. Weil Gott so ist, wie er ist, deswegen lieben wir ihn. Seine wesenhafte Güte, seine wesenhafte Schönheit, seine wesenhafte Erhabenheit, das ist der Grund unserer übernatürlichen Liebe. Aber freilich, Gottesliebe und Nächstenliebe sind eng verbunden, ja, sie sind eigentlich ein Gebot, weil wir nämlich in Gott auch alles lieben, was zu Gott gehört; und zu Gott gehört eben alles, was er geschaffen hat und zur Seligkeit berufen hat. Deswegen ist sekundäres Prinzip der übernatürlichen Liebe die gesamte Schöpfung, soweit sie zur Seligkeit berufen ist. Diese übernatürliche Liebe ist von ungeheurer Bedeutung und von größtem Wert. Wer nämlich die übernatürliche Liebe hat, der ist ein Freund Gottes, in dem ist nichts Verdammenswertes, der ist gewissermaßen jetzt schon der Seligkeit gewiß. Das ist das große Geheimnis und die tiefe Freude der übernatürlichen Gottesliebe. Wer in ihr lebt, dem steht der Himmel offen.

Eine besondere Dimension nimmt die übernatürliche Gottesliebe an, wenn sie sich mit der Reue verbindet. Übernatürliche Reue, Liebesreue, wie wir sagen, disponiert den Menschen augenblicklich zum Empfang der heiligmachenden Gnade. Der Todsünder, der fähig und imstande ist, Liebesreue zu erwecken, wird von Gott – wiederum als der einzigen Wirkursache – in den Zustand der Gnade versetzt, freilich verbunden, einschlußweise verbunden mit der Sehnsucht nach dem Sakrament; denn wir wissen, daß Gott ein Sakrament der Sündenvergebung eingesetzt hat, für die Ungetauften die Taufe, für die Getauften das Bußsakrament. Also noch einmal: Wer übernatürliche Liebesreue, verbunden mit dem Wunsch und der Absicht, so bald wie möglich das Bußsakrament zu empfangen, besitzt, dem werden jetzt schon, vor Empfang des Sakramentes, die schweren Sünden vergeben. Es ist das eine schöne, aber auch eine gefährliche Botschaft. Schön ist sie, weil sie uns die Freiheit gibt, augenblicklich aus einem Ungerechten ein Gerechter, aus einem Sünder ein Heiliger zu werden. Gefährlich ist sie, weil wir uns täuschen können über unsere Fähigkeit und unsere Kraft, übernatürliche Liebesreue zu erwecken.

Der Catechismus Romanus, also jener Katechismus, den das Konzil von Trient zu erlassen geboten hat und der dann von Papst Pius V. und Clemens XIII. herausgegeben wurde, befaßt sich mit diesem Thema. Er schreibt über diese Liebesreue folgendes: „Fürs erste ist also zu lehren, daß die Einsetzung der Beicht uns im höchsten Grade nützlich und geradezu notwendig gewesen sei. Denn wenn wir auch zugeben, daß durch die Reue die Sünden getilgt werden, wer weiß nicht, daß jene so heftig, lebhaft und heiß sein müsse, daß die Bitterkeit des Schmerzes mit der Größe der Missetaten verglichen und gleichgestellt werden könne. Weil aber nur sehr wenige zu dieser Stufe gelangen würden, so folgte daraus auch, daß auf diesem Wege nur die wenigsten Verzeihung der Sünden hoffen dürfen.“ Der Catechismus Romanus ist also keineswegs sehr optimistisch über die Fähigkeit der Menschen, Liebesreue zu erwecken, und deswegen betont er um so dringlicher die Notwendigkeit, das Bußsakrament zu empfangen. Denn das Bußsakrament tilgt die Sünden mit absoluter Sicherheit, auch wenn die Liebesreue nicht vorhanden ist, sondern wenn nur unvollkommene Reue, die also aus der Besorgnis für das eigene Schicksal hervorgeht, vorliegt. Aber noch einmal: Wir wollen die Lehre von der Liebesreue nicht unterschlagen. Sie ist ein großer Trost, und wir sollen uns darum bemühen, daß wir Menschen werden, geeignet und fähig, Liebesreue zu erwecken.

Die dritte Frage, die wir uns stellten, war: Welche Gegenstände umfaßt denn die übernatürliche Liebe? Nun, natürlich an erster Stelle Gott. Gott, unser Freund, Gott, der Freund der Menschen, der Beseliger, der Erlöser, der Heiligmacher, Gott ist es, den wir als ersten Gegenstand unserer Liebe umfassen müssen. Es ist nicht unmöglich, den unsichtbaren Gott zu lieben. Er hast sich uns ja in liebenswürdiger Weise geoffenbart. Er hat uns ein Kindlein gesandt, das wir lieben können; er hat uns einen einsamen Wanderer an den Gestaden von Tiberias gesandt, den wir lieben können; er hat uns einen Gekreuzigten gesandt, den wir in Liebe und Dankbarkeit und mit Tränen umfassen können. Es ist also nicht unmöglich, Gott zu lieben, auch wenn er unsichtbar ist. Wir wissen von ihm aus der Offenbarung Jesu, wie schön, wie herrlich, wie erhaben, wie gewaltig und wie mächtig er ist. Wir können Gott lieben, und wir sollen ihn lieben. Wir dürfen ihn lieben. Das ist das wunderbare Geheimnis unserer Berufung zur Seligkeit: Wir dürfen ihn lieben. Er hat uns aufgefordert, ihm Liebe entgegenzubringen.

Aber wir müssen mit Gott gleichzeitig alles umfangen, was zu ihm gehört; und zu ihm gehört eben alles, was er geschaffen und zur Seligkeit berufen hat. Wir müssen also auch die Menschen lieben um Gottes willen. Wir müssen in Gott die Menschen lieben, und wir müssen die Menschen um Gottes willen lieben. Da erheben sich Schwierigkeiten, denn wir wissen, wie viele Menschen wenig liebenswürdig sind. Wir kennen garstige Menschen, wir kennen Täuscher, rechthaberische, eigensinnige, boshafte Menschen. Die alle sollen wir lieben? Ja, die alle müssen wir lieben. Wir müssen sie lieben in Gott und um Gottes willen. Wir müssen sie lieben, weil hinter jedem dieser Menschen Gottes Wirklichkeit und Gottes Wille steht.

Es gibt zwei Mittel, meine lieben Freunde, wie man Menschen, die einem unsympathisch sind, lieben kann. Das erste Mittel ist: Man muß Mitleid mit ihnen haben. Sie sind in dem Gefängnis ihrer schlechten Eigenschaften, ihrer Untugenden gleichsam eingeschlossen und reißen sich die Finger blutig, um herauszukommen. Ja, da muß man doch Mitleid haben mit diesen Menschen, die so unglücklich sind, daß sie es sich mit allen verderben, daß sie überall Schwierigkeiten machen und daß keiner sie mag. Mit solchen Menschen muß man doch Mitleid haben. Und Mitleid ist der Anfang der Liebe. Das zweite Mittel besteht darin, daß wir für sie beten. Sie müssen einmal die Probe aufs Exempel machen. Wenn Sie regelmäßig für Menschen, die Sie nicht mögen, beten, vollzieht sich in Ihrem Herzen eine Änderung. Ihr Herz wandelt sich und erträgt diese Menschen, findet sie unter Umständen sogar liebenswert. Denn es ist so, daß kein Mensch auf dieser Erde nur unliebenswerte Eigenschaften hat. Jeder hat auch liebenswerte Eigenschaften, und die muß man eben herausfinden.

Wir müssen auch die Sünder lieben. Natürlich nicht, insofern sie Sünder sind, sondern insofern sie Geschöpfe Gottes und zur Seligkeit berufen und sie zu erlangen fähig sind. Wir müssen die Sünder lieben. Die Sünde müssen wir hassen, aber die Sünder müssen wir lieben. Wie sollen sie denn aus ihrem Elend herausfinden, wenn sie keine Liebe erfahren? Nur die Liebe kann sie retten, nicht der Zorn. Ja, wir müssen sogar unsere Feinde lieben. Die Feinde tragen Menschenantlitz. Es gibt schon eine rein natürliche Liebe zu den Feinden, die haben schon die Heiden des Altertums geübt. Sokrates hat die Feindesliebe bewiesen, Platon hat sie gepriesen. Also schon die heidnischen Philosophen wußten, daß es eine natürliche Feindesliebe gibt, die auf der Gemeinsamkeit der Menschennatur beruht. Wir Christen haben nicht nur eine natürliche, sondern eine übernatürliche Feindesliebe. Wir lieben den Feind, weil er zur Seligkeit berufen ist, weil er in der Gnade stehen soll, weil Gottes Liebe auch in seinem Herzen ausgegossen sein will. Die Feindesliebe zerfällt in Pflicht und Rat. Manche Handlungen gegenüber dem Feind sind pflichtmäßig; wir dürfen dem Feind nicht die gewöhnliche Freundlichkeit und Höflichkeit verweigern. Wenn Menschen grußlos aneinander vorbeigehen, dann ist das ein böses Zeichen. Und wir müssen bereit sein, das ist das Minimum der Feindesliebe, wir müssen bereit sein, dem Feind in der Not zu helfen. Das ist pflichtmäßig, dem Menschen, der unser Feind ist, die allgemeinen Menschenpflichten, Menschenfreundlichkeiten erweisen und ihm in der Not helfen. Darüber hinaus geht der Rat der Feindesliebe, daß wir ihm eben mehr als das Pflichtmäßige an Liebe erweisen. Die Sünden gegen die Feindesliebe zerfallen in solche der Apathie, der Antipathie und des Hasses. Apathie, Antipathie ist Abneigung. Sie ist verständlich, aber nicht berechtigt. Wir müssen die Abneigung zu überwinden versuchen. Wir müssen uns so lange mit dem Feind befassen und so lange für ihn beten, bis wir die Abneigung überwunden haben. Und Haß darf nicht in unser Herz einsteigen. Haß ist Wille zum Schaden und zur Vernichtung. Wer haßt, fällt selbst aus der Liebe heraus. Nein, Haß darf in uns nicht sein. Und wenn es die schlimmsten Feinde wären, wir müssen für ihr Seelenheil besorgt sein, indem wir sie wenigstens mit dem Minimum der pflichtmäßigen Liebe umfangen.

Das waren die drei Fragen, die wir uns heute stellten, nämlich: Welche Veränderungen sind in der übernatürlichen Liebe möglich? Und zweitens: Welche Motive haben wir, diese übernatürliche Liebe zu hegen? Und drittens: Welche Gegenstände müssen wir mit übernatürlicher Liebe umfangen? Der Herr hat es uns im Evangelium eindeutig gesagt: Alles Gute und Böse, was wir dem Nächsten erweisen, das erweisen wir ihm. „Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ Gott stellt sich gleichsam vor jeden Menschen, um ihn zu schützen. Man kann einem Menschen kein Unrecht tun, ohne daß man zuvor Gott Unrecht getan hat. Und das soll das Kennzeichen der Seinen sein, daß sie einander lieben. „Daran sollen alle erkennen, daß ihr meine Jünger seid, wenn ihr einander liebet.“

Amen.

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