Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
25. Januar 1998

Die Pflicht zur Erhaltung des eigenen Lebens

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Als ich ein Knabe von etwa 10 Jahren war, wurde eines Tages die Mutter eilig von einer Frau, die im dritten Stock unseres Hauses wohnte, zu sich gebeten. Die Mutter ging hinauf und fand den Gatten dieser Frau tot in der Wohnung, getötet durch Leuchtgas. Er hatte Selbstmord begangen. Der Selbstmord ist die freiwillige, eigenmächtige und absichtliche Vernichtung des eigenen Lebens. Der Selbstmord ist außerordentlich häufig. Wir rechnen in der Bundesrepublik mit jährlich 13.000 Selbstmorden. Die höchste Selbstmordrate unter allen Ländern der Erde hat Österreich; danach folgen Ungarn, die Tschechoslowakei, Schweden und an fünfter Stelle Deutschland. Außerordentlich selten ist der Selbstmord in Mexiko, in Irland und in Griechenland. Selbstmordversuche sind weit häufiger als Selbstmorde. Wir rechnen in Deutschland im Jahr mit mehreren hunderttausend Selbstmordversuchen. Selbstmordgedanken sind wiederum noch weit häufiger. Es wird wenige Menschen geben, die im Leben nicht einmal von dem Gedanken überfallen wurden: Wie schön wäre es, wenn ich jetzt sterben könnte! Oder:  Soll ich nicht selbst meinem Leben ein Ende setzen? Am Freitag dieser Woche besuchte mich ein Priester, der nach 27 Jahren segensreicher Tätigkeit in einem Krankenhaus zwangsweise in den Ruhestand versetzt wurde, weil er mit einem Pastoralreferenten nicht klarkam. Er sagte: „Ich habe Selbstmordgedanken.“

Wie kommen die Menschen zum Selbstmord? Welche Motive veranlassen sie, ihrem Leben selbst ein Ende zu setzen? Es sind vor allem vier Motivkreise, welche Menschen veranlassen, sich das Leben zu nehmen.

Erstens: Die einen sind der Meinung, daß ein unüberwindlicher Widerspruch zwischen ihrer Lebenserwartung, ihrem Lebensanspruch und der Wirklichkeit besteht. Sie halten die Kluft zwischen dem, was sie vom Leben erwarten, und dem, was ihnen im Leben begegnet, für unüberwindbar und greifen deswegen zum Selbstmord. Ein solcher Fall dürfte wohl der des Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein, Uwe Barschel, gewesen sein. Er stürzte herab in einem plötzlichen Absturz von der Höhe der Ministerpräsidentschaft zu einem Angeklagten vor Gericht.

Die zweite Motivkette ist die subjektive oder objektive Meinung, daß das Streben nach Sinn mißlungen ist. Es sind Menschen, die meinen, ihr Sinnstreben sei gescheitert. Einen solchen Selbstmörder wird man Adolf Hitler nennen müssen. Er wollte Deutschland groß machen, freilich mit schwerem Unrecht, und er stand am Ende des Krieges vor einem Trümmerhaufen, nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa, und so setzte er seinem Leben ein Ende.

Eine dritte Motivkette ist der Leidensdruck, unter dem manche Menschen stehen oder den sie für die Zukunft befürchten. Sie halten diesen Leidensdruck für unerträglich, und um ihm zu entgehen, bereiten sie selbst ihrem Leben ein Ende. Als der Kampf in Stalingrad allmählich erlosch, haben sich viele deutsche Soldaten und noch mehr Offiziere selbst getötet. Sie fürchteten die russische Kriegsgefangenschaft mehr als den Tod. Als die Rote Armee im Jahre 1945 das Städtchen Demmin in Pommern besetzte, haben sich vor und nach dem Einmarsch tausend Menschen selbst den Tod gegeben aus Furcht vor den Gewalttaten oder aus unüberwindlicher Trauer über das, was ihnen angetan worden war.

Eine vierte Gruppe endlich wählt den Selbstmord als Mittel, um bestimmte Ziele zu erreichen. Sie will durch ihr Selbstopfer auf gewisse Mißstände aufmerksam machen. Dazu wird man den Selbstmord des evangelischen Pfarrers Brüsewitz in der früheren DDR rechnen müssen, der Hand an sich selbst legte, sich selbst verbrannte, um auf die seiner Meinung nach unhaltbare Situation der Christen in der DDR hinzuweisen.

Die christliche Sittenlehre, wie sie die katholische Kirche vorträgt, findet den Selbstmord aus drei Gründen als verwerflich. Der erste Grund ist ein individualethischer. Der Christ spürt einen Drang zum Leben, und dieser Drang zum Leben wird ihm verpflichtend gemacht durch die Selbstliebe. Wer sich also selbst tötet, verfehlt sich gegen das Gebot der Selbstliebe. Der zweite Grund für die Verwerflichkeit des Selbstmordes ist ein sozialethischer. Der Mensch ist verpflichtet gegenüber seiner Gemeinschaft, der Gesellschaft, der Familie. Wenn es jedem gestattet wäre, aus dem Leben zu scheiden, dann könnte man sich drückenden Verpflichtungen entziehen, indem man eben dieses Leben beendet. Der dritte Grund und wohl der entscheidende ist, daß Gott allein Herr über Leben und Tod ist. Er regiert die Welt mit seiner Vorsehung. Er weiß, wann die Stunde schlägt, in der der Mensch von dieser Welt abberufen werden soll. Er ist auch der Eigentümer des Leibes; wir sind nur die Verwalter. Er ist der Richter, und diesem Richter darf sich niemand vorzeitig vorstellen.

Von dem Selbstmord verschieden ist die Selbsttötung. Es kommt vor, daß sich jemand aus Unvorsichtigkeit tötet, etwa beim Hantieren mit elektrischen Geräten. Kein Selbstmord ist es, wenn jemand aus einem brennenden Schiff ins Wasser stürzt und dort zugrunde geht; denn er wollte sich vor dem Brand in Sicherheit bringen. Als Selbsttötung und nicht als Selbstmord muß man es auch bezeichnen, wenn Menschen durch Unmäßigkeit, Leidenschaft, Überanstrengung sich selbst den Tod bereiten. Vor einiger Zeit besuchte ich eine alte Dame, die mit ihrem Sohn zusammenlebte. Der Sohn, Frührentner, saß am Tisch, und vor sich hatte er eine große Flasche Schnaps. Von früh bis abends trank er diese Flasche Schnaps aus. Er sagte zu mir: „Ich brauche nur noch einen Bestatter,“ denn er hatte sich selbst zugrundegerichtet.

Die Selbstmörder und auch andere Kreise versuchen, den Selbstmord zu rechtfertigen. Man sagt, die Selbstmörder seien geistig krank. Ohne Zweifel. Es geschehen zweifellos Selbstmorde aus geistiger Verwirrung. Wenn ein Kind wegen eines schlechten Schulzeugnisses sich selbst umbringt, wird man annehmen müssen, daß es in einem Zustand hochgradiger Verwirrung gehandelt hat. Aber es gibt auch Fälle, in denen völlig gesunde Menschen planmäßig den Tod vorbereiten und ihn sich zufügen. Der Selbstmord ist nicht immer eine Krankheit. Man sagt weiter, es gäbe ein Recht auf den Tod. Aber woher soll dieses Recht kommen, wenn Gott der Herr über Leben und Tod ist? Es gibt kein Recht auf den Tod. Wieder andere meinen, es sei ein Zeichen sittlicher Größe, wenn man sich selbst den Tod gebe. Aber ist nicht in den meisten Fällen der Selbstmord eine Flucht, eine Desertion, ein Ausweichen vor schwierigen Situationen? Große Gelehrte wie Aristoteles und Augustinus haben in der Regel darin den Grund für Selbstmord gefunden, daß man schwierigen Lebenssituationen entfliehen will. Eine andere Gruppe behauptet, der Selbstmord sei eine Sühne für ein verfehltes Leben. Aber mit dem selbst zugefügten Tode kann man nicht sühnen, sondern sühnen muß man, indem man lebendig ist und Akte der Sühne setzt. Buße und Sühne setzen das Leben voraus.

Diese Versuche, den Selbstmord zu rechtfertigen, werden von der christlichen Sittenlehre ausnahmslos verworfen. Der Mensch ist nicht Herr über sein Leben, er ist nicht einmal unbeschränkter Herr über seinen Leib. Er darf seinen Leib weder verstümmeln, indem er ein Glied unbrauchbar macht oder entfernt, noch darf er ihn schädigen, indem er irgendwelche Akte setzt, die die Gesundheit oder das Leben bedrohen. Ein Glied zu entfernen ist nur gestattet, wenn es gilt, das Ganze zu retten. Wenn die Amputation eines Beines notwendig ist, um den Menschen am Leben zu erhalten, dann darf das Bein amputiert werden. Es ist in den letzten Jahrzehnten vielfach üblich geworden, die Geschlechtsorgane zu entfernen, um auf diesem Gebiete unbeschränkte Freiheit zu besitzen. Die Entmannung oder die Entfernung der weiblichen Geschlechtsorgane ohne genügenden Grund, der in der Gesundheit liegt, ist nicht gestattet. Die Entmannung oder die Sterilisation ist auch kein geeignetes Mittel, um gegen den Trieb anzukämpfen. Der Trieb muß anders überwunden werden als durch Selbstverstümmelung.

Es kann manchmal pflichtmäßig, erlaubt oder unerlaubt sein, das Leben und die Gesundheit zu gefährden. Es ist pflichtmäßig, das Leben und die Gesundheit zu gefährden, wenn höhere Interessen, wenn größere Werte auf dem Spiele stehen. Man darf sein Leben nicht retten wollen, indem man den Glauben verleugnet. Das Martyrium aller unserer großen Martyrer erhebt dagegen Einspruch. Es gibt Berufe, die verpflichten, das Leben einzusetzen. Der Seelsorger, der Arzt, der Polizist, der Feuerwehrmann müssen notfalls unter Lebensgefahr anderen beistehen und andere retten. Es ist erlaubt, das Leben oder die Gesundheit zu gefährden, wenn hohe Werte auf dem Spiele stehen. Es darf zum Beispiel jemand einen gesundheitsbedrohenden Beruf ergreifen, wenn er keine andere Arbeit findet. Im Kriege war es nicht verboten, sich zu einem gefährlichen Stoßtrupp als Freiwilliger zu melden, um anderen Kameraden diese Gefahr zu ersparen. Die Gefährdung des eigenen Lebens ist immer erlaubt, wenn ein genügender Grund dafür vorhanden ist. Unerlaubt ist die Gefährdung erst dann, wenn ungenügende Motive eine bedrohliche Tätigkeit nahelegen. Es könnte sein, daß Profiboxkämpfe in diese Gruppe der unerlaubten Gefährdungen fallen. Wie viele unserer Boxer haben durch solche Kämpfe gesundheitliche Schäden erlitten! Es könnte sein, daß gewisse Wettbewerbe, Rennen, eine Gefahr bedeuten, die nicht mehr zu verantworten ist. Es könnte sein, daß gewisse Schaustellungen, die so pervers gefährlich sind, daß der Tod leicht eintreten kann, vom Sittengesetz verboten sind.

Vor allem aber ist unerlaubt jener Kreis von Verfehlungen, den wir zusammenfassen unter dem Namen Euthanasie. Man darf sich nicht selbst durch Medikamente den Tod geben. Man darf Medikamente einnehmen, um Schmerzen zu lindern, auch wenn dadurch der Tod eher eintritt. Aber Medikamente einnehmen in der einzigen Absicht, dadurch den Tod herbeizuführen, das ist sittlich unerlaubt. Die Euthanasie besteht im wesentlichen in zwei verschiedenen Gruppen von Handlungen, einmal in der Ersetzung eines schmerzvollen, natürlich eintretenden Todes durch einen schmerzlosen, selbst herbeigeführten Tod, und zweitens in der Verkürzung des Lebens. Euthanasie ist nicht nur im Dritten Reich geübt worden, sondern längst vor dem Erscheinen des Nationalsozialismus haben deutsche Ärzte und Professoren die Euthanasie empfohlen, ist sie in anderen Ländern, etwa in Dänemark und in den USA praktiziert worden. Und heute wissen wir, daß Euthanasie in Holland gang und gäbe ist. Bei der Euthanasie unterscheiden wir zwei Gruppen, nämlich einmal die mit Zustimmung des Kranken erfolgende und die ohne seine Zustimmung geschehende. Die letztere ist Mord an einem anderen, die erstere muß man wohl als Selbstmord bezeichnen.

Der Mensch, auch der leidende Mensch, ist nicht wertlos. Das Leiden trägt, am Vorbild unseres Herrn und Heilandes gemessen, Werte in sich. Das geduldig getragene Leiden dient zur Abbüßung von Sünden, soll zur Vorbereitung auf die Ewigkeit dienen und kann anderen ein Beispiel der Geduld und der Ergebung sein. Es gibt kein unnützes Leben. Es gibt kein unbrauchbares Leben. Alles Leben, auch das kranke und das behinderte Leben, besitzt Wert vor Gott. Der Mensch hat keine Vollmacht, dieses Leben zu beenden.

Selbstmord, Selbsttötung, Selbstverstümmelung sind Weisen, wie man sich gegen das Gebot der Selbstliebe verfehlen kann. Wir alle wissen, daß wir gehalten sind, Leben und Gesundheit nach Möglichkeit zu erhalten; daß wir verpflichtet sind, das Erforderliche zur Wiederherstellung einer gefährdeten oder verlorenen Gesundheit zu tun; daß wir vor allem aber kein Recht haben, unser Leben selbst zu beenden, Hand an uns selbst zu legen. Wir haben die Pflicht, Gottes Abruf zu erwarten, die Stunde zu erwarten, in der er spricht: Nun ist es genug. Du hast genug gearbeitet. Lege den Spaten aus der Hand. Jetzt ist die Stunde, da ich dich rufe.

Amen.

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