Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
11. Mai 1997

Die Gerechtigkeit Gottes

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Gott ist unendlich gerecht. Seine Gerechtigkeit unterscheidet sich von der der Menschen. In bezug auf sich selbst besagt die Gerechtigkeit Gottes, daß Gott sein unendlich reiches Wesen mit ebenbürtiger Kraft behauptet. Das ist die Gerechtigkeit Gottes gegen sich selbst. Er liebt sich selbst mit einer Intensität, die seiner unendlichen Vollkommenheit entspricht. Er ist die personale Gerechtigkeit oder die Gerechtigkeit als Person. Er hat kein Gesetz über sich, sondern er ist sich selbst Gesetz. Er ist das Urgesetz, und er ist das Allgesetz. Es kann kein verbindliches Gesetz geben, das nicht mit diesem obersten Gesetz in Übereinstimmung steht.

Gegenüber den Geschöpfen bewährt sich Gottes Gerechtigkeit in dreifacher Weise, nämlich als schöpferische, als gesetzgebende und als vergeltende Gerechtigkeit. An erster Stelle bewährt sich Gottes Gerechtigkeit gegenüber den Geschöpfen als schöpferische Gerechtigkeit. Was ist damit gemeint? Damit ist gesagt, daß Gott seine unendliche Vollkommenheit in den Geschöpfen in endlicher Weise hervorbringt. Er bildet Abbilder, natürlich schwache, geschöpfliche Abbilder seiner unendlichen Vollkommenheit, und es kann nichts existieren, was nicht in irgendeiner Weise ein Abbild der göttlichen Vollkommenheit ist. Darin besteht die schöpferische Gerechtigkeit Gottes: Er entwirft in Schattenrissen Abbilder seiner unendlichen Vollkommenheit. Er teilt nicht jedem das gleiche Seinsmaß mit, denn er schafft ja in absoluter Freiheit. Aber er achtet alles, was geschaffen ist, nach dem Maße der Güte und der Vollkommenheit, die er dem betreffenden Geschöpf mitgeteilt hat. Das ist seine schöpferische Gerechtigkeit.

Die gesetzgebende Gerechtigkeit Gottes besteht darin, daß Gott einem jeden Geschöpf Anlagen und Weisungen mitteilt. Der unvernünftigen Schöpfung legt er diese Weisungen in ihren ganzen körperlichen Bestand hinein. Dem vernünftigen Geschöpf gibt Gott Gesetze – Gesetze, nach denen sich das Geschöpf zu richten hat. Diese Gesetze sind keine wesensfremde Auflage, die Gott macht, sondern die Gesetze, die Gott gibt, sind wesensgemäß; sie führen das Geschöpf, das sich daran hält, zur Vollendung. Sie verbürgen die Selbstverwirklichung des Geschöpfes. Wer immer im Gehorsam dem Gesetz Gottes nachlebt, der findet die Vollendung, die Gott für ihn bestimmt hat. Wer sich dagegen im Ungehorsam Gottes Gesetz verweigert, der führt die Zerstörung der Welt und des eigenen Selbst herauf. Wenn es dem Menschen vorkommt, daß manche Gesetze ihn einengen und bedrücken, dann liegt das an der Selbstherrlichkeit, an der Blindheit und an der Selbstsucht des Menschen. Nein, die Gesetze Gottes sind keine Einengung, sind keine Bedrückung. Sie sind die Befreiung aus der Enge und aus der Verlorenheit, in die das Geschöpf zurückfällt, wenn es sich von Gott löst.

So erklärt sich auch die Freude, die der Beter im Alten Testamente am Gesetz empfindet. Wir Priester beten an jedem Sonntag den Psalm 119. In diesem Psalme wird das Lob des Gesetzes gesungen: „Glückselig sind, die ohne Tadel wandeln, und die einhergehen im Gesetz des Herrn. Glückselig sind, die seine Zeugnisse bewahren, die ihn von ganzem Herzen suchen, und die auch Ungerechtigkeit nicht üben, vielmehr auf seinen Wegen wandeln. Du selber hast gegeben deine Aufträge, auf daß man sorglich sie befolgen soll. O wäre doch mein Wandel fest begründet in der Befolgung deiner Satzungen! Dann werd’ ich nimmermehr zuschanden werden, blick’ ich auf alle deine Vorschriften. Ich preise dich mit einem geraden Herzen, wenn dein gerechtes Gesetz ich kennenlerne. Ich halte deine Satzungen genau, so wolle mich gar nicht so sehr verlassen!“ Das ist nur der Anfang dieses sehr ausgedehnten Psalmes. Aber in all diesen vielen Versen wird das Lob des Gesetzes, die Freude über das Gesetz, der Dank für das Gesetz laut.

Die dritte Weise, wie Gott seine Gerechtigkeit den Geschöpfen offenbart, besteht darin, daß er das Gute lohnt und das Böse straft. Das ist die vergeltende Gerechtigkeit. Gott belohnt alles Gute und straft – oder kann strafen – alles Böse. Der kleinste Dienst, den ein Mensch einem anderen oder auch Gott erweist, bleibt nicht unbelohnt. Aber auch die kleinste Missetat kann von  Gott bestraft werden. „Ihr werdet Rechenschaft legen für jedes unnütze Wort, das ihr gesprochen habt.“ Die Belohnung und die Bestrafung vollzieht Gott entweder in diesem Leben oder im Jenseits. In diesem Leben trägt oft schon die gute Tat ihren Lohn in sich selbst, ist aber auch das Unheil mit der bösen Tat verbunden. Doch freilich, es bleibt ein Rest, manchmal ein sehr großer und schmerzlich empfundener Rest, so daß der Mensch fragt: Wo ist denn mein gerechter Gott? Die Antwort ist darin gelegen, daß wir auf das jenseitige Gericht verweisen. Es gibt ein persönliches Gericht eines jeden einzelnen unmittelbar nach seinem Tode; und es gibt ein allgemeines Gericht dann, wenn Gott die große Verwandlung herbeiführen wird. Der heilige Augustinus hat einmal den Zusammenhang zwischen dem Gericht, das sich schon in diesem Leben vollzieht, und jenem, das erst am Ende der Tage geschehen wird, meisterlich hervorgehoben. „Würde Gott jede Sünde in diesem Leben strafen, dann würde man meinen, daß dem Endgericht nichts vorbehalten bleibt. Würde Gott aber keine Sünde in diesem Leben strafen, dann würde man nicht an die Vorsehung Gottes glauben.“ Ich meine, zutreffend hat Augustinus das Verhältnis von zeitlicher und ewiger Strafe beschrieben. Gott richtet sich beim Lohnen und Strafen nach der Handlung des Menschen. Es liegt im Gutes-Tun schon ein Lohn, und Gott lohnt auch häufig offensichtlich gute Taten in einer ganz überschwenglichen Weise. Ich kannte eine arme Frau; diese arme Frau war von einer entwaffnenden Freigebigkeit. Hatte sie etwas erhalten oder erworben, dann schenkte sie es weg, und je mehr sie wegschenkte, um so mehr ward ihr zuteil. Ich habe an dem Beispiel dieser guten Frau erlebt, wie Gott auf Erden schon Gutes lohnt. Und ähnlich ist es mit dem Bösen. Gott straft auch das Böse häufig schon auf Erden, nicht nur mit den Folgen der Sünde, die in der Sünde selbst begründet sind, sondern auch mit Strafen, die von ihm zur Abschreckung, zur Vergeltung verhängt werden. Gott richtet sich beim Lohnen und Strafen nach den Verhältnissen der Menschen. Er prüft die Voraussetzungen, aus denen die guten und die bösen Taten geschehen. Er fragt nach dem Schicksal des Menschen, nach seiner Anlage; er beachtet die Umstände, in denen jemand lebt. Gott ist ein gerechter Richter, der nichts übersieht und der nichts vergißt.

Die Gerechtigkeit Gottes wird im Alten Testament an vielen Stellen hervorgehoben, vor allem die lohnende und die strafende Gerechtigkeit. Im Psalm 1, den wir Priester jeden Sonntag beten, wird der Gute und der Böse gegenübergestellt. „Glückselig der Mann, der nicht im Rate der Frevler weilt, nicht auf dem Wege der Sünder geht, nicht im Kreis der Bösen sitzt, vielmehr an der Lehre des Herrn seine Freude hat, seiner Lehre nachsinnt bei Tag und Nacht. Er ist wie ein Baum, an Wasserbächen gepflanzt, der zur rechten Zeit seine Frucht bringt, dessen Laub nicht verwelkt. Was er treibt, gedeiht alles.“ Jetzt das Gegenbild: „Nicht so die Bösen. Sie sind wie die Spreu, die der Wind verweht. Darum können die Frevler im Gericht nicht bestehen noch die Sünder in der Gerechten Gemeinde.“ In vielen Psalmen wird die lohnende und strafende Gerechtigkeit Gottes hervorgehoben. Im Psalm 11 etwa heißt es: „Der Herr ist gerecht, Gerechtigkeit liebt er; nur Redliche schauen in sein Antlitz.“ Und beim Propheten Jeremias: „Die Schuld der Väter zahlst du ihren Kindern heim, großer, gewaltiger Gott, Herr der Heerscharen genannt, groß an Rat, mächtig in Taten. Deine Augen wachen über die Wege der Menschen, um jedem nach seinem Wandel und dem Wert seiner Taten zu vergelten.“

Wenn im Alten Testament – wie es scheint – mehr die Gerechtigkeit als die Liebe im Vordergrund zu stehen scheint, dann hat das nicht darin den Grund, als ob Gott im Laufe der Zeit milder geworden wäre, als ob er im Alten Testament weniger Liebe hätte als im Neuen, sondern die Strenge hat Gott angewandt aus heilspädagogischen Rücksichten, weil es das Volk nötig hatte, weil die Strenge erforderlich war, um die Menschen vor den verführerischen Kulten und Praktiken ihrer Umgebung zu bewahren. Also Gott ist immer der gleiche, er wirbt mit gleicher Gerechtigkeit und gleicher Liebe, aber je nach den Verhältnissen, auf die seine Liebe trifft, offenbart sie sich mehr als Gerechtigkeit oder mehr als Barmherzigkeit.

Auch im Neuen Testament wird Gott als der Gerechte bezeichnet, etwa in der Abschiedsrede des Herrn bei Johannes, wo der Heiland seinen Vater im Himmel anspricht: „Gerechter Vater, die Welt hat dich nicht erkannt, aber ich habe dich erkannt, und diese haben erkannt, daß du mich gesandt hast.“ Oder in den Predigten der Apostelgeschichte, wo ebenfalls die Gerechtigkeit Gottes kundgemacht wird. „Gott hat einen Tag festgesetzt, an dem er die Welt richten wird in Gerechtigkeit durch einen Mann, den er dazu bestellt hat und durch seine Auferweckung von den Toten bei allen beglaubigt hat“, nämlich unseren Herrn Jesus Christus. Im Römerbrief bezeugt Paulus ebenfalls die Gerechtigkeit. „Wir wissen, daß das Gericht Gottes der Wahrheit gemäß ist gegen die, welche solches tun.“ Und noch einmal im Ausblick auf das Endgericht im zweiten Timotheusbrief schreibt der Apostel: „Nunmehr ist mir die Krone der Gerechtigkeit hinterlegt, die mir an jenem Tage der Herr, der gerechte Richter, verleihen wird.“

Bei uns Menschen liegen sich Gerechtigkeit und Liebe im Streit miteinander. Wir vermögen diese beiden Haltungen nicht immer in geeigneter Weise zu vereinigen. Nicht so bei Gott. Gottes Gerechtigkeit und Liebe decken sich. Seine Gerechtigkeit ist voll Liebe und seine Liebe ist voll Gerechtigkeit. Sie laufen nicht nebeneinander her, sie durchkreuzen sich nicht. Die Liebe mindert nicht oder schwächt nicht die Gerechtigkeit, sondern indem Gott gerecht ist, bezeugt er seine Liebe, und indem er seine Liebe darstellt, wirkt er als der gerechte Gott. Das läßt sich zeigen an der Sünde und an der Hölle. An der Sünde: Gott hat Achtung vor dem Menschen, er behandelt ihn als verantwortliches Geschöpf, und deswegen gibt er ihm die Freiheit. Er läßt ihm auch die Freiheit der Auflehnung, und die nennen wir ja Sünde. Aber damit ist auch die Gerechtigkeit Gottes verbunden; denn wenn der Mensch sich gegen Gott auflehnt, dann zerstört er sich selbst und die Welt. Der Abfall von Gott ist immer der Zerfall. Wer sich gegen Gott wendet, gegen den schlägt die Ordnung, die Gott gesetzt hat, zurück. Und so erlebt der Mensch in der Sünde die Gerechtigkeit Gottes, die er mit seinem bösen Tun verletzt hat. Ähnlich ist es mit der Hölle. Gott hat die Hölle geschaffen; sie ist kein Widerspruch zu seiner Liebe. Die Hölle ist ein Ausdruck seiner Liebe, denn Gott läßt dem Menschen die Freiheit der Auflehnung bis zum letzten Augenblick. Er hindert ihn nicht, die Liebe und die Anbetung abzuweisen und sich in den Haß und in die Auflehnung hineinzubegeben. Das ist ein Ausdruck seiner Liebe. Er hindert den Menschen nicht, in radikaler Autonomie zu leben. Gleichzeitig freilich muß der Mensch büßen, daß er das Leben in Liebe und Anbetung abgelehnt hat, denn die Hölle ist der Zustand hoffnungsloser Zerrissenheit und auswegloser Einsamkeit. Der Mensch hat das, was er will, nämlich ein Leben in Autonomie, ein Leben in Freiheit von Gott. Wenn Gott ihn zwingen würde, ein Leben in Liebe und Anbetung auf sich zu nehmen, wäre das unangemessen. Der Verdammte kann sich nicht bekehren, und er will sich nicht bekehren. Wenn er die Vollendung nur finden könnte in der Anbetung und der Liebe, dann verzichtet er lieber auf die Vollendung.

Angesichts der Gerechtigkeit Gottes, meine lieben Freunde, ziemt sich uns die Haltung heiliger Gottesfurcht, ein Gegenstand der Verkündigung, der im Wort der Heiligen Schrift oft und oft angesprochen wird, der aber in der nachkonziliaren Kirche völlig vergessen ist. Uns ziemt angesichts der Gerechtigkeit Gottes die Haltung heiliger Furcht, die eine Gabe des Heiligen Geistes ist. Damit ist nicht gemeint die knechtische Furcht, die sich nur vor der Strafe fürchtet, ohne die Sünde innerlich zu überwinden, sondern gemeint ist die kindliche Furcht, die sich vor der Beleidigung des Schöpfers scheut. Wir müssen den timor filialis, die kindliche Furcht in uns erwecken, die aus der Liebe kommt. Ein Kind, das liebt, ist bestrebt, alles zu vermeiden, was den geliebten Vater, die geliebte Mutter kränken könnte. Ähnlich-unähnlich muß es in unserem Verhältnis zu Gott sein. Die Furcht treibt die Sünde aus; die Furcht ist eine Schutzwehr gegen die Sünde. Durch die Furcht, durch die heilige Gottesfurcht kommen wir zur Vollkommenheit, weil wir uns anstrengen, weil wir uns bemühen, alles zu tun, was dem liebenden Auge des Vaters wohlgefällig ist. Die heilige Gottesfurcht führt zur Vollkommenheit.

So wollen wir, meine lieben Freunde, unsere heutige Betrachtung mit einem ergreifenden Wort, das auch in den Texten des Missales immer wieder vorkommt, beschließen: „Confige timore tuum carnes meas – durchdringe mein Fleisch mit der Furcht vor dir.“

Amen.

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