Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
16. März 1997

Die Weisheit und Erkenntnis Gottes

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

„Es gibt kein höchstes, weisestes und vorsehendes göttliches Wesen, das von dieser Gesamtheit der Dinge verschieden wäre. Gott ist dasselbe wie die Natur der Dinge und deshalb Veränderungen unterworfen. Gott wird wirklich im Menschen, in der Welt, und alles ist Gott und hat Gottes ureigenste Substanz. Gott ist mit der Welt ein und dasselbe Ding und deswegen Geist mit Stoff, Notwendigkeit mit Freiheit, Wahres mit Falschem, Gutes mit Schlechtem, Gerechtes mit Ungerechtem.“ Diese Sätze geben die Lehre des Pantheismus wieder. Der Pantheismus oder die All-Gott-Lehre ist der Meinung, daß die gesamte Wirklichkeit mit Gott identisch ist. Sie ist zunächst unbewußt, aber sie entfaltet sich zur Bewußtheit im Menschen.

Ein Vertreter dieser Lehre war im vorigen Jahrhundert der angesehene Berliner Philosoph Hegel. Glauben Sie nicht, daß diese Ansichten überholt seien. Auch heute haben viele Menschen ein falsches Gottesbild. Die Gottesvorstellungen sind überaus zahlreich, aber nur eine kann richtig sein, und nur die kann richtig sein, die uns Gott selbst geoffenbart hat. Wir sind deswegen dabei, uns den wahren, einzigen, lebendigen Gott vor Augen zu führen, um ihn immer besser kennenzulernen, um ihn immer mehr zu lieben und um ihm immer treuer zu folgen.

Gegen die Verirrungen des Pantheismus, wie sie Papst Pius IX. in den genannten Sätzen zusammengefaßt hat, ist vom Ersten Vatikanischen Konzil eindeutig festgelegt worden: „Gott ist unendliche Vernunft.“ Gott hat ein über alles menschliche Wissen erhabenes Erkennen; sein Wissen ist undurchdringlich und geheimnisvoll. Seine Erkenntnis reicht in die Tiefen des Seins hinab; es ist umfassend und unauslotbar. Die Heilige Schrift gibt dieser Erklärung des göttlichen Wissens recht, wenn sie an vielen Stellen von der Tiefe der Weisheit Gottes spricht, etwa im Buche Job: „Die Weisheit also, wo kommt sie her? Die Einsicht, wo ist sie zu Hause? Sie ist verhüllt aller Menschen Blick, selbst den Vögeln des Himmels verborgen. Die Unterwelt spricht und das Totenreich, wir hörten von ihr nur Gerüchte. Nur Gott ist’s, der den Weg zu ihr weist; er allein kennt ihren Fundort. Denn sie reicht zu den Grenzen der Welt, bis zu den Grenzen der Welt reicht sein Blick. Was all unter dem Himmel ist, sieht er. Als er dem Wind seine Wucht bestimmt, mit dem Maße abgrenzt das Wasser, als er dem Regen bestellt seine Zeit, eine Bahn dem Wüten der Wetter, da sah er sie und tat er sie kund, hat sie hingestellt und ergründet.“ Auch im Psalm 139 ist von diesem Allwissen Gottes die Rede. „Du hast ja meine Nieren geschaffen, mich gewoben im Schoß meiner Mutter. Mein Werden war nicht verborgen vor dir. Als im Verborgenen ich wurde gewirkt in irdischen Tiefen, deine Augen sahen mich als gestaltlosen Keim, in deinem Buche stehen sie alle verzeichnet, die Tage, die vorausbestimmt wurden, als noch keiner von ihnen da war.“ Vor allem in der Herrlichkeit der Schöpfung offenbart sich das Wissen Gottes, wie es das Buch Sirach schildert. „Gedenken will ich der Werke des Herrn und darlegen, was ich gesehen habe. Des Herren Werke sind durch sein Wort gebildet, voll Glanz erstrahlt die Sonne über dem All, und der Herrlichkeit des Herrn sind seine Werke voll. Er erforscht die Meerestiefe und die Herzen und durchschaut alle ihre Anschläge. Denn der Herr kennt alles Wissen und schaut die Zeichen der Zeiten. Er hat die Wunderwerke seiner Weisheit wohl geordnet, daß sie bestehen ewiglich.“ Dieses unbedingte Wissen gehört zum Ruhme Gottes, wie es der Prophet Isaias beschreibt: „Ich bin der Herr, dies ist mein Name. Meine Ehre gebe ich keinem anderen, meinen Ruhm nicht den Götzen. Das früher Vorausgesagte, seht, es traf ein, Neues tue ich nun kund, noch ehe es hervorkeimt, lasse ich’s euch wissen.“

Wenn man die Werke der Vorsehung Gottes betrachtet, kann man nur mit Paulus im 11. Kapitel des Römerbriefes ausrufen: „O Tiefe des Reichtums und der Erkenntnis Gottes! Wie unerforschlich sind seine Wege, wie unaufspürbar seine Gerichte!“ Und von Jesus wird bekannt, daß in ihm alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis sind. Mit den Mitteln der Gnosis sagt Johannes, der Evangelist, von Jesus aus: „Er war Licht, und keine Finsternis war in ihm.“

Die Quantität des Wissens Gottes ist unvorstellbar, aber ebenso seine Qualität. Gott besitzt ein tiefgehendes Wissen. Fraglos steht jede Wirklichkeit bis in ihre Seinsgründe vor ihm. Er hat kein flüchtiges und seichtes Wissen, seine Erkenntnis bleibt nicht tastend an der Oberfläche der Dinge stehen, sondern dringt in die Tiefe. Sein Wissen erschöpft die Wirklichkeit. Gottes Wissen trifft auch keine Auswahl unter den Gegenständen, wie wir auswählen, was uns interessiert und was uns beschäftigt. Was wir ausgewählt haben, davon gewinnen wir keine umfassende Erkenntnis, sondern wir haben nur Teilansichten. Gott trifft keine Auswahl, Gott hat keine Teilansichten; sein Wissen umfaßt die gesamte Wirklichkeit bis in ihre letzten Tiefen. Seine Erkenntnis ist allseitig und dringt in die äußersten Wirklichkeiten ein. Gottes Erkennen ist auch unabhängig. Wir sind abhängig in unserem Erkennen von Erkenntnisgegenständen. Wir müssen ein Buch lesen, wir müssen eine Wirklichkeit untersuchen, um zur Erkenntnis zu gelangen. Wir sind gebunden an das Gegenüber der Geschöpfe. Gott dagegen ist schöpferisch in seinem Erkennen. Wir erkennen die Gegenstände, weil sie sind. Bei Gott ist es umgekehrt: Die Gegenstände sind, weil er sie erkennt. Gottes Erkennen ist schöpferisch. Es ist nicht leidendlich, wie das Erkennen des Menschen, sondern es bringt die Gegenstände hervor. „Wäre die Welt nicht, so könnte sie nicht erkannt werden von uns“, sagt der heilige Augustinus. „Aber wäre sie nicht von Gott erkannt, so würde sie nicht bestehen.“ Gottes Erkenntnis ist unabhängig, losgelöst von irgendeinem Gegenüber. Sie vollzieht sich, indem er sich selbst erkennt. In seiner eigenen Wirklichkeit schaut er die Möglichkeit, wie sie in geschöpflicher Weise nachgeahmt werden kann.

Gott erkennt sich auch, ja zuerst selbst. Er ist sich selbst bewußt, und er erkennt sich selbst. Die Pantheisten sagen: Der unbewußte Gott entwickelt sich im Menschen zum bewußten. Nein, sagt das Erste Vatikanische Konzil, Gott ist sich selbst bewußt und begreift sich selbst. Selbstbewußtsein besagt, daß man Aufmerksamkeit auf sich selbst hat. Ich bin bewußt meines Redens, meines Handelns, meines Leidens. Selbstbegreifung besagt, daß man sich selbst erkennt, daß man Einsicht hat in das eigene Selbst, daß man also seine Fähigkeiten, Veranlagungen, Schwächen erkennt. Gott besitzt Selbstbewußtheit, weil er Person ist. Seine Weltüberlegenheit und seine Personalität sichern sein Selbstbewußtsein. Er tut sein Selbstbewußtsein kund, indem er sich offenbart. Vor allem in der Menschwerdung gibt er sich zu erkennen, da spricht er, da redet er zu den Menschen, da richtet und tröstet er, da begnadet und heilt er. Die Erkenntnis Gottes, die man Selbstbewußtsein nennt, ist von dem Wissen um seine Erhabenheit und Andersartigkeit begleitet. Das tritt vor allem in Christus Jesus, dem Offenbarer Gottes, zutage. „Ich bin von oben, ihr seid von unten.“ „Ich und der Vater sind eins.“ Die Selbstbegreifung Gottes wird im Neuen Testament von Christus mehrfach ausgesagt. Im Matthäusevangelium etwa heißt es: „Alles ist mir von meinem Vater übergeben, und niemand kennt den Sohn als der Vater, und auch den Vater kennt niemand als der Sohn und wem der Sohn es offenbaren will.“ Im Johannesevangelium spricht Christus: „Ich kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich, wie der Vater mich kennt und ich den Vater kenne.“ Hier wird die Selbsterkenntnis, das Selbstbegreifen, wie es in Gott allein wirklich sein kann, nämlich als das dreipersönliche Selbstbegreifen, andeutungsweise ausgesprochen. Paulus schreibt die Erkenntnis Gottes dem Geiste Gottes zu, im ersten Korintherbrief: „Uns aber hat Gott eben das geoffenbart durch seinen Geist. Denn der Geist erforscht alles, auch die Tiefen der Gottheit. Denn welcher Mensch kennt das Wesen des Menschen außer dem Geist des Menschen, der in ihm ist? So erkennt auch keiner das Wesen Gottes als nur der Geist Gottes.“

Wenn also das Erkennen Gottes dreipersonal ist, dann muß man die Selbsterkenntnis Gottes und die Selbstbegreifung Gottes folgendermaßen beschreiben: Der Vater erkennt sich, den Sohn und den Geist; der Sohn erkennt sich, den Vater und den Geist; der Geist erkennt sich, den Vater und den Sohn. Würde das Erkennen Gottes sich nicht in dreipersonaler Weise vollziehen, dann würde das Leben Gottes erlöschen und damit auch seine Erkenntnis. Diese Erkenntnis Gottes ist ein einziger, in sich stehender Akt. Wir erkennen in einem Aktgefüge, in einer Aktfolge; wir müssen nacheinander erkennen, zunächst das eine, dann das andere. Gott erkennt alles in einem einzigen, zusammenfassenden Blick. Sein Erkennen ist ein einziger, in sich stehender Akt. Ja, diese Selbsterkenntnis und die Erkenntnis des anderen ist Gott selbst. Denn in Gott ist alles einfach. Deswegen müssen sein Selbstbewußtsein und seine Selbsterkenntnis zusammenfallen und mit ihm selbst identisch sein. Gott erkennt das Mögliche und das Wirkliche. Er erkennt das Sein der Dinge nach ihrem Wert und nach ihrem Unwert. Man unterscheidet deswegen eine billigende und eine mißbilligende Erkenntnis, eine Erkenntnis des Notwendigen und des Freien sowie des Möglichen.

Gottes Erkenntnis ist von höchster Seligkeit begleitet. Beim Menschen muß man fragen, ob er sich nicht selbst lästig und überdrüssig wird, wenn er mit sich allein ist. Gott wird seiner nicht lästig oder überdrüssig; denn seine Erkenntniskraft ist mit höchster Intensität tätig, und seine Erkenntnis umfaßt den höchsten, unerschöpflichen Wert, den es gibt, nämlich sich selbst. Dieses sich selbst erkennende absolute Sein ist deswegen von höchster Seligkeit erfüllt. Gott wird seiner nicht überdrüssig, es wird ihm nicht langweilig, wenn er sich selbst erkennt, er schaut nicht aus nach neuen Erkenntnissen, nach anderen Wirklichkeiten, sondern er ruht in sich selbst und empfindet dabei eine nicht zu überbietende Seligkeit.

Das, meine lieben Freunde, soll einmal unser Anteil sein, daß wir an der Selbsterkenntnis Gottes beteiligt werden, daß wir, soweit es dem Geschöpf möglich ist, an dieser Selbsterkenntnis in Liebe teilnehmen, daß wir schauen, was wir jetzt glauben, und daß wir erfüllt werden von dem, worauf wir jetzt hoffen. Amen.

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