Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
19. Mai 1996

Das gehorsame Leben der Gottesmutter Maria

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Maria ist in die Aufgabe, die ihr gestellt war, rückhaltlos und vorbehaltlos eingegangen. Bei ihr gab es keine Gezweiung und erst recht keinen Widerspruch zwischen Amt und Leben, zwischen Aufgabe und Gesinnung. Sie hat ihr ganzes Sein und Leben bedingungslos und uneingeschränkt Gott überantwortet. Diese Haltung Mariens war durch Glauben geprägt. Ihre Liebe, ihr Gehorsam, ihre Treue lassen sich zusammenfassen in dem Begriff ihres Glaubens. Wenn Abraham der Vater aller Glaubenden ist, dann ist Maria die mütterliche Urgestalt aller Gläubigen. Dieser Glaube Mariens soll es sein, der uns heute beschäftigt.

Maria hat in der Zeit ihres irdischen Lebens bis zur Herabkunft des Geistes nicht die volle Einsicht in die Pläne Gottes und in das Vorhaben ihres Sohnes gewonnen. Mehrfach heißt es in der Heiligen Schrift: „Sie verstand nicht, was er damit sagen wollte“, aber „sie bewahrte alle diese Worte in ihrem Herzen“. Maria ist die Jüngerin ihres Sohnes durch ihren Glauben gewesen. Sie ist in die Glaubenssituationen, die Gott ihr zumutete, mit ihrem freien Liebeswillen eingegangen. Wir hören, daß sie das Wort des Engels aufnahm, daß sie die Worte, welche die Hirten zu ihr sprachen, behielt und erwog, daß sie die Worte des Simeon im Tempel in sich bewahrte. Die Glaubenssituation Mariens war in gewisser Hinsicht schwerer als aller anderen, weil sie nämlich ohne Vorbild war. Sie mußte in der Ungesichertheit aushalten, die der Erstmaligkeit und der Einmaligkeit zu eigen ist. Sie mußte unter der Überlast einer Aufgabe sich bewähren, die Gott keinem Menschen vor ihr und keinem nach ihr zumutete. Ihre Glaubenssituation war deswegen unvergleichlich schwerer als die aller anderen Menschen. Sie konnte noch nicht zurückblicken auf die Machttaten und Wunder ihres Sohnes; die Auferstehung und die Himmelfahrt des Jesus lagen noch vor ihr. Deswegen war ihre Glaubenssituation von einer unglaublichen Schärfe.

Das zeigte sich schon bei der Verkündigung des Engels. Der Engel, der ihr die Botschaft brachte, wirkte kein Wunder. Wie wurde sie denn gewiß, daß das nicht ein Trugbild des Teufels war, sondern eine Botschaft von Gott? Der Maßstab, den sie anlegen konnte, war allein ihr heiliges, Gott hingegebenes Wesen. Sie spürte eine Welle der Verwandtschaft zwischen dem Engel und ihr hinüberwogen, die sie gewiß machte, daß ein Bote Gottes zu ihr gekommen war. Und sie überantwortete sich mit ihrem Worte „Siehe, ich bin die Magd des Herrn“ rückhaltlos und vorbehaltlos dem Willen Gottes.

Ihre Mutterschaft war eine einzige Glaubensprobe. Sie mußte ihren Sohn in einer gleichgültigen Umgebung gebären, wo nicht einmal Platz in der Herberge war. In äußerster Armut und Dürftigkeit bringt sie ihr Kind zur Welt. Statt ihn nun in die Geborgenheit der Heimat tragen zu können, muß sie fliehen. In einem fremden Land, unter fremden Menschen, fern den heimatlichen Festen muß sie verweilen mit ihrem Sohne. Diese Flucht, dieses Flüchtlingsdasein scheint fast ein Symbol zu sein für ihren Glaubensweg, der eben durch Dunkelheiten hindurch führte. Vor dem Haß des Herodes muß sie ihren Sohn im fremden Lande bergen. Da mag manchmal die Frage in ihr aufgestiegen sein: Kann denn Gott sein eigenes Kind nicht vor dem Haß der Feinde schützen? Wo sind denn die Verheißungen des Alten Bundes von der Herrlichkeit und vom Glanze des Messias? Kein Strahl fiel in dieser Stunde von der Verkündigungsszene und von dem Jubel beim Besuche der Elisabeth in ihre Seele.

Als sie ihr Kind im Tempel darbrachte, hörte sie seltsame, merkwürdige Worte aus dem Munde des Simeon. Zunächst: „Nun lässest du, Herr, deinen Knecht nach deinem Wort in Frieden scheiden, denn meine Augen haben dein Heil geschaut, das du vor allen Völkern bereitet hast, ein Licht zur Erleuchtung der Heiden und eine Verherrlichung deines Volkes Israel.“ Über diese Worte wunderten sich Maria und Josef; sie waren offenbar noch nicht voll eingeweiht in das, was Simeon ihnen unterbreitete. Er wußte anscheinend mehr über das Wesen und die Aufgabe dieses Knaben als seine Eltern. Dann aber führte Simeon seine Rede fort und sprach zu Maria, seiner Mutter: „Siehe, dieser ist bestimmt zum Fall und zum Aufstehen vieler in Israel und zu einem Zeichen, dem man widerspricht. Deine eigene Seele aber wird ein Schwert durchdringen. So werden die Gedanken vieler Herzen offenbar werden.“ Was kündigte Simeon hier an? Nicht den Glanz der Messiasherrlichkeit, nicht die Aufrichtung von Herrschaft und Macht, sondern Widerstand, Feindseligkeit. Gegen diesen Messias, gegen diesen Gottessohn wird sich Widerspruch erheben, und er wird zu einem Zeichen der Entscheidung werden. Die einen werden sich an ihm aufrichten, die anderen werden an ihm zugrundegehen. Ein furchtbares Schicksal wird hier ihrem Sohne vorhergesagt, und sie selbst wird davon getroffen werden wie von einem Schwert. Wie ein Schwert einen Körper durchdringt, so – bildlich gesprochen – wird der Schmerz ihre Seele durchdringen. Ihre Erwählung sichert sie also nicht vor Qualen und Schmerzen, sondern, im Gegenteil, ihre Erwählung ist die Ursache dafür, was sie an Leiden und Schmerzen erfahren muß.

So geht es weiter in dem Erlebnis mit dem zwölfjährigen Knaben im Tempel zu Jerusalem. Nichts bisher in dem Leben des Jesus hat Maria so getroffen und so verletzt wie der wortlose Abschied ihres Sohnes. Man spürt, wie fassungslos sie ist, wenn sie sagt: „Kind, warum hast du uns das getan? Dein Vater und ich, wir haben dich mit Schmerzen gesucht.“ Über dem Leben dieses Kindes steht ein anderer Wille als ihr eigener. Es ist der Wille des himmlischen Vaters. Der Sohn gehorcht einem Gesetz, das nicht ihr eigenes ist; dieses Gesetz ist ihm vom Vater im Himmel gegeben. Es ist ihr nicht geoffenbart, denn sie ist erstaunt, ja fassungslos über das, was mit ihrem Sohne geschieht und was er tun muß nach dem Willen des Vaters im Himmel. Er besitzt ein Wissen, das ihr in diesem Zustand und zu dieser Zeit noch nicht eigen ist.

Ähnlich ist es dann bei der Hochzeit zu Kana, wo sie das ferne, befremdliche Wort hört: „Frau“ – nicht Mutter – „Frau, was ist zwischen dir und mir? Meine Stunde ist noch nicht gekommen.“ Das ist zweifellos eine herbe Abweisung Mariens gewesen in dieser Freudenstunde, und doch hat Maria dadurch ihren Glauben nicht verloren. Sie ist nicht irregeworden an ihrem Sohn, denn sie sagt ja sogleich zu den Dienern: „Was er euch sagen wird, das tut!“ Sie ahnt, daß die Stunde kommen wird, in der er seine Macht beweisen wird.

Noch einmal erfährt Maria eine bittere Stunde, als sie mit ihren Verwandten den Sohn sucht, der in einem Hause ist. Man meldet ihm: „Deine Mutter und deine Brüder stehen draußen.“ Da weist er auf die um ihn Sitzenden und erklärt: „Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Brüder? Die den Willen Gottes erfüllen, die sind mir Bruder und Schwester und Mutter.“ Wiederum, so scheint es, eine herbe Abweisung der Mutter, die nur zu erklären ist aus seiner Berufung zum Mittler und Erlöser der Menschheit. Die leiblichen, die irdischen Bindungen müssen zurücktreten gegenüber dem Auftrag, den ihm der Vater im Himmel gegeben hat. Das Irdische zählt nicht mehr, wenn das Himmlische ins Spiel gebracht wird.

Diese Erlebnisse Mariens mit ihrem Sohne machten sie reif für die schwerste Stunde, die sie erleben mußte, nämlich die Stunde des Todes ihres Sohnes. Die ersten drei Evangelisten berichten nichts davon, daß Maria in der Leidenswoche in Jerusalem weilte. Aber das vierte Evangelium sagt uns, daß Maria mit Johannes unter dem Kreuze stand. Maria wird in der Nähe ihres Sohnes gewesen sein, und ich meine, unser Kreuzweg hat nicht unrecht, wenn er eine Station benennt: „Jesus begegnet seiner Mutter.“ Sie wird ohne Zweifel, wenn sie auf dem Kreuzaltar, auf Golgotha gestanden ist, auch den Kreuzweg ihres Sohnes begleitet haben. Sie wird mit dem Zuge gegangen sein, der hinaufzog zum Golgothahügel, und sie stand dann mit Johannes unter dem Kreuz und blickte hinauf zu ihrem sterbenden Sohn. Da hörte sie noch einmal ein Wort aus seinem Munde, ein letztes Wort, mit dem er sich verabschiedete. In dieser Stunde wird sie begriffen haben, was Simeon sagen wollte, wenn er erklärte: „Ein Schwert wird deine Seele durchdringen.“ Da mag sie auch die Erfüllung der alttestamtentlichen Weissagung begriffen haben, als sie hörte, wie ihr Sohn den 21. Psalm betete: „Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Sie mußte ein Wort hören, das er mehrfach zu ihr gesagt hatte, nämlich „Frau“. Auch in dieser Stunde sagt er nicht Mutter zu ihr, sondern er nennt sie Frau, um gleichsam noch einmal seine amtliche Eigenschaft zu betonen, die sich über alle leibliche und irdische Verbundenheit erhebt. Derjenige, der bisher ihr Sohn war, steht jetzt als Erlöser und Mittler der ganzen Welt vor der Gerechtigkeit Gottes. An seiner Stelle muß sie Johannes als Sohn annehmen. „Siehe da deinen Sohn!“ Der bisher ihr Sohn war, geht ein in Gottes großes Gericht, und sie bekommt dafür den Sohn des Zebedäus als einen schwachen Ersatz.

Ihr Glaube hat unter diesen Anforderungen nicht gewankt. Das Maß der Liebe war bei Maria immer größer als das Maß der Einsicht. Auch unter dem Andrang des Unverstandenen, Unbegriffenen ist ihr Glaube nicht zusammengebrochen. Sie hat sich an das gehalten, was Gott ihr gesagt hat. In einer bestimmten Stunde hat eine Frau sie selig gepriesen wegen ihrer Mutterschaft. Und der Herr hat diese Seligpreisung aufgenommen und bestätigt, indem er sagte: „Ja, selig, die das Wort Gottes hören und es bewahren.“ Niemand hat das Wort Gottes treuer bewahrt als Maria. Als sie unter dem Kreuze stand und aufschaute zu ihrem sterbenden Sohne, da ist sie nicht nur die Mutter der Glaubenden, sondern da ist sie auch die Königin der Glaubenden geworden, da hat sich an ihr das Wort erfüllt: „Selig, die du geglaubt hast.“

Amen.

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