Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
5. Juli 1992

Die Versuchung

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Täglich beten wir zu Gott: „Und führe uns nicht in Versuchung!“ Diese Wendung kann mißverstanden werden, nämlich als ob Gott es wäre, der uns in die Versuchung, d.h. in den Anreiz zur Sünde führt. Das ist mit dieser Aussage natürlich nicht gemeint, denn Gott versucht niemanden zum Bösen. Der Apostel Jakobus schreibt: „Keiner sage, wenn er versucht wird: Von Gott werde ich versucht. Gott kann nicht zum Bösen versucht werden, er versucht auch selbst niemand.“ Also wenn wir beten: „Und führe uns nicht in Versuchung!“, dann ist damit etwas anderes gemeint als der von Gott ausgehende Anreiz zur Sünde. Es ist damit die Erprobung ausgesagt, die Erprobung, die unter Umständen freilich auch zur Sünde führen kann, wenn wir sie nicht bestehen. Aber daß Gott erprobt, daran ist kein Zweifel. Daß er Schweres über die Menschen kommen läßt, das ist durch hundertfache Zeugnisse überliefert. Die eigentliche Versuchung, die mit der Erprobung nur entfernt etwas zu tun hat, ist ein Anreiz zur Sünde. Und mit ihr verschwistert ist die Gelegenheit zur Sünde, d.h. eine Konstellation, bei der die Möglichkeit besteht, daß man in die Sünde fällt. Die Versuchung kann auf drei Ursachen zurückgeführt werden,

1. auf die böse Begierlichkeit,

2. auf den Satan,

3. auf die Welt.

Die erste und nächste Quelle der Versuchung ist die böse Begierlichkeit. Was ist darunter zu verstehen? Die böse Begierlichkeit ist die sinnliche Neigung im Menschen, der Drang der Sinnlichkeit nach den vergänglichen Gütern, insofern sie sich der Herrschaft der Vernunft entzieht. Die böse Begierlichkeit ist ein Erbe Adams. Sie stammt aus der Sünde, und sie führt zur Sünde. Sie ist das Materiale der Erbsünde. Das Formale der Erbsünde ist die Abwendung von Gott. Das Materiale der Erbsünde ist die böse Begierlichkeit. Sie ist in jedem Menschen, und sie bleibt auch nach der Taufe. Die böse Begierlichkeit wirkt in drei Hauptrichtungen, nämlich als Augenlust, Fleischeslust, Hoffart des Lebens. Mit der Augenlust ist gemeint das Begehren nach Macht und Besitz, Fleischeslust ist das Verlangen nach allem, was der Mäßigung entgegengesetzt ist, Hoffart des Lebens ist der Stolz, die Angeberei, die Prahlerei. Psychologisch wirkt die böse Begierlichkeit, indem sie die Vernunft trübt und den Willen in die Trübung hineinzieht. Die böse Begierlichkeit hat ihren Ansatzpunkt in den Vorstellungen, indem sie dem Menschen etwas vorgaukelt, was ihm anziehend zu sein scheint. Und diese Vorstellungen können sich wiederum herleiten aus der Wahrnehmung dessen, was man sieht – Zeitungen, Bilder – oder dem Sichüberlassen an das, woran man sich erinnert, was man also früher erlebt oder gelesen oder gesehen hat, oder der Phantasie, was man sich von sich aus vor die Seele stellt. Die böse Begierlichkeit ist tatsächlich der fomes peccati, wie das Konzil von Trient sagt, der Zündstoff der Sünde. Ein Zündstoff ist ein Material, das geeignet ist, einen Brand hervorzurufen. Und die böse Begierlichkeit ist ein solcher Zündstoff. Wer mit dem Feuer spielt, der verbrennt leicht.

Die zweite Wurzel der Sünde kann der Satan sein; nicht in dem Sinne, daß bei jeder Sünde der Satan unmittelbar beteiligt wäre. Er ist der Vater der Sünde, weil er die Ursünde hervorgerufen hat und weil ihm an dem Sündigen der Menschen liegt, keine Frage. Aber er muß nicht bei jeder aktuellen Sünde beteiligt sein. Er macht sich vor allen Dingen über Menschen her, die für ihn eine Gefahr bedeuten, Menschen, an deren Fall ihm viel liegt. Der Teufel hat Sinn für Qualität. Und deswegen wird zwar ein jeder Mensch versucht, aber nicht in gleichem Umfang. Besonders schwere Versuchungen kommen über diejenigen, an deren Fall dem Teufel viel gelegen ist. Wir erinnern uns, daß er dem Herrn in der Wüste sich nahte und ihn versuchte. „Sage, daß diese Steine Brot werden!“ Er wollte ihn in seiner Messiaswürde herausfordern. „Stürze dich von dieser Zinne hinab!“ Damit wollte er den Herrn zu einem Schauwunder verleiten. „Diese ganze Welt will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest.“ Hier wollte er die Sendung des Herrn in der Wurzel zerstören. Es bleibt eine Tatsache: Der Herr wurde vom Satan versucht. Das ist eine Warnung für uns, daß wir uns nicht seinem Einfluß überlassen. Denn er nötigt uns nicht, er zwingt uns auch nicht. Es ist unser Wille, der sich ihm ausliefert. Eine Predigt, die dem heiligen Augustinus zugeschrieben wird, vergleicht den Satan mit einem Kettenhund. Zähnefletschend haust er in seiner Hundehütte, aber er ist angebunden, und wenn man sich nicht in seine Nähe begibt, hat man nichts von ihm zu fürchten. Wehe dem aber, der sich ihm naht. Über den fällt er her, den beißt er und den reißt er.

Der Satan wirkt auf den Menschen in doppelter Weise ein, nämlich in der Weise des Vorbereitens und in der Weise des Überredens. In der Weise des Vorbereitens, indem er Vorstellungen erweckt, sinnliche Vorstellungen, die den Menschen anreizen sollen, die seine Begierde erregen sollen und die ihn zu dem vorgestellten Objekt hinlenken sollen. In der Weise des Überredens, indem er sagt: Es ist doch etwas Schönes, etwas Wertvolles; davon hast du etwas. Das bringt dir neue Lebensqualität. Das ist berauschend schön. Auf diese Weise versucht der Satan, den Menschen zur Sünde zu verführen.

Die dritte Quelle der Sünde ist die Welt. Damit ist nicht die Schöpfung gemeint, wie sie aus der Hand Gottes hervorgegangen ist. Welt in diesem Sinne als Verführerin zur Sünde bedeutet zweierlei, einmal die sinnlichen Dinge, insofern sie sich der Kontrolle der Vernunft entziehen. Die Schätze dieser Erde, Geld, Karriere, Macht, die Werte der Nahrung, der Kleidung, des Trinkens, alle diese Schätze können, wenn sie sich der Vernunftskontrolle entziehen, zu einer Gefahr werden und können den Menschen, der seine Sinnlichkeit schrankenlos walten läßt, ins Verderben ziehen. Noch gefährlicher aber ist die Welt, insofern damit die von Gott abgekehrte Schöpfung gemeint ist, die unmittelbar oder mittelbar den Menschen zur Sünde verführt. Unmittelbar, indem sie aufreizend sagt: Ja, das ist gut, das mußt du haben, und mittelbar, indem sie Ärgernis gibt. Die von Gott abgewandte Menschenwelt kämpft gegen Gott, gegen Christus und gegen die Kirche. Sie dient dem Satan, sie schafft im Menschen Neigungen, dem Bösen zu folgen durch eine Scheinkultur, durch eine entartete Kunst, durch schlechte Filme, schlechte Bücher, schlechte Zeitungen. Das ist die Welt, die den Menschen von Gott abwendet.

Der Versuchung soll man widerstehen. Es gibt keinen Menschen, der nicht versucht wird. Es gibt aber auch keine Versuchung, die man nicht überwinden kann! „Niemand wird versucht über seine Kräfte.“ So schreibt der Apostel Paulus: „Es hat euch bisher nur menschliche Versuchung betroffen. Gott ist treu. Er läßt euch nicht über eure Kräfte versucht werden, sondern wird mit der Versuchung auch den Ausweg schaffen, der euch das Aushalten ermöglicht.“

Wie überwinden wir die Versuchung? Wir überwinden sie, indem wir wachsam sind, also die Gefahren beobachten, die auf uns einstürmen, indem wir treu unsere Berufsarbeit erfüllen, indem wir beten, ausreichend, anhaltend und innig beten. Wir überwinden die Versuchung, indem wir die Vernunftwidrigkeit dessen, was uns da vorgestellt wird, bedenken. Der Teufel ist zwar schlau, aber er ist nicht klug. Wenn wir, mit Gottes Weisheit ausgerüstet, seine Schlingen betrachten, dann erkennen wir, daß sie der von Christus geleiteten Vernunft zuwider sind. Wir überwinden die Versuchung auch, indem wir uns abwenden. Die Beschäftigung mit Vorstellungen, Gedanken, Phatasieprodukten, die uns gefährlich werden können, kann man sehr rasch beenden, indem man sich besseren, heilsameren Gegenständen zuwendet. Adolf Kolping, der jetzt seliggesprochen ist, hat einmal einen Vortrag vor Müttern gehalten. Da erzählte er von seinem früheren Leben; er war ja zunächst Schuhmacher. „Und was hat mich in aller Verderbnis bewahrt?“ fragte er; „ich hatte eine arme Mutter, aber eine gute Mutter, von der ich nichts gehört habe, was ich nicht ehren konnte. Wenn ich also in Versuchung war, dann habe ich an meine fromme Mutter gedacht, und die Versuchung wich von mir.“

Der Versuchung verschwistert ist die Gelegenheit. Die Gelegenheiten sind Umstände, die zur Sünde führen können. Die Gelegenheit wird eingeteilt in die nächste und in die entfernte Gelegenheit. Die nächste Gelegenheit ist jene, bei der die Wahrscheinlichkeit groß ist, daß man in die Sünde fällt. Entfernte Gelegenheit ist jene, die eine geringere Wahrscheinlichkeit des geistlichen Ruins enthält. Entfernte Gelegenheiten sind außerordentlich häufig. Sie sind so zahlreich, daß man sie gar nicht alle meiden kann. Das wußte auch der Apostel Paulus. „Habt keinen Umgang mit Unzüchtigen“, schreibt er im 1. Korintherbrief, „ich meine damit nicht allgemein die Unzüchtigen dieser Welt oder die Habsüchtigen oder Räuber oder Götzendiener, sonst müßtet ihr ja aus der Welt hinausgehen.“ Es sind ihrer nämlich so viele, meint er. „Nun aber schreibe ich euch, ihr sollt keinen Umgang haben mit einem, der sich Bruder nennt – also einem Christen – und dabei ein Unzüchtiger oder Habsüchtiger oder Götzendiener oder Lästerer oder Trunkenbold oder ein Räuber ist. Mit einem solchen sollt ihr nicht einmal zusammen essen.“ Also die entfernte Gelegenheit kann man nicht restlos meiden, aber die nächste Gelegenheit muß man in jedem Falle meiden. Die Gelegenheit kann weiter eine stets gegenwärtige sein oder eine, die man aufsucht. Wer jeden Tag mit Geld zu tun hat, der ist natürlich immer in der Gefahr, einmal zuzugreifen. Das ist eine stets gegenwärtige Gelegenheit. Eine andere, die man aufsucht, ist eine solche, die nicht schon ohne weiteres gegeben ist. Und schließlich unterscheidet man die freiwillige und die notwendige Gelegenheit. Freiwillig ist eine Gelegenheit, die man selbst schafft. Notwendig ist eine Gelegenheit, die man entweder gar nicht oder nur mit großer Mühe ausschalten kann.

Meide die Gelegenheit! So heißt eine entscheidende Regel für den sittlichen Fortschritt. Meide die Gelegenheit! Denn wir sind alle schwach, und in der Gelegenheit gehen wir leicht unter. Wer die Gefahr liebt, der kommt in der Gefahr um.

Ich habe einmal, meine lieben Freunde, ein Beispiel für den Zusammenbruch eines Menschenkindes in der nächsten Gelegenheit erlebt. Als Knabe unterrichtete ich zwei Kinder, die Kinder meines Mathematiklehrers. Ich gab ihnen Nachhilfeunterricht. Einen Knaben und ein Mädchen. Es waren liebe Kinder, und es waren religiöse Kinder, es waren fromme Kinder. Nach der Vertreibung kamen sie von Schlesien nach Hamburg. Die Kinder wuchsen auf; das Mädchen lernte einen protestantischen Pastor kennen. Es war das eine große Gefahr, denn es war doch sicher, wenn sie diesen Pastor heiratete, daß sie den katholischen Glauben nicht würde leben können. Sie ließ sich nicht davon abhalten. Sie ging diesen falschen Weg, sie heiratete ihn, sie trat aus der Kirche aus und fiel vom Glauben ab. Das ist ein Beispiel dafür, wie die freiwillige Gelegenheit einen Menschen zu Fall bringt. Beispiele dieser Art gibt es viele. Wer weiß, daß er sich im Trinken nicht beherrschen kann, der muß eben das Gasthaus und das Trinken meiden. Wer weiß, daß er von fleischlichen Versuchungen überfallen wird, der darf sich nicht an Orte begeben, wo er fallen kann. Man soll als junger Mensch nicht mit andersgeschlechtlichen Personen verreisen, zusammenziehen oder in Urlaub gehen. Das sind Gelegenheiten zur Sünde, und zwar freiwillige Gelegenheiten, keine notwendigen Gelegenheiten. Und wir sind verpflichtet, die Gelegenheiten zu meiden. Wir sind verpflichtet, sie genauso zu meiden wie die Sünde. Es ist eine wichtige Lehre, eine heute weithin vergessene Lehre, daß wir nicht nur die Sünde zu meiden haben, sondern auch die Gelegenheit zur Sünde.

Machen wir, meine lieben Freunde, den Vorsatz, daß wir, wenn wir beten: „Und führe uns nicht in Versuchung!“, auch daran denken wollen, daß Gott uns vor den Gelegenheiten zur Sünde bewahre, daß er unser Herz dahin lenke, die Gelegenheiten zu meiden oder wenigstens zu entfernten Gelegenheiten zu machen, indem man die Mittel anwendet, die nun einmal notwendig sind, um sich in der Versuchung zu behaupten.

Amen.

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