Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
30. September 1990

Die Gottesliebe

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Welches ist das erste und größte Gebot im Gesetze? Du sollst den Herrn deinen Gott lieben aus deinem ganzen Herzen, aus deiner ganzen Seele, aus deinem ganzen Gemüte und mit allen deinen Kräften. Dies ist das erste und größte Gebot.

So muß es sein. Wenn Gott die größte, allumfassende Wirklichkeit ist, dann muß auch er an erster Stelle bei allen Geboten und bei allem Tun des Menschen stehen. Wir wollen drei Fragen zur Gottesliebe stellen und zu beantworten versuchen.

1. Was ist die Gottesliebe?

2. Warum sollen wir Gott lieben?

3. Wie muß die Gottesliebe beschaffen sein?

Die erste Frage lautet: Was ist die Gottesliebe? Wir können sie kurz so bestimmen: Die Gottesliebe ist das umfassende Ja des menschlichen Herzens zu der Wirklichkeit Gottes, mit dem sich der Mensch Gott ganz zu eigen gibt und sich ihm schenkt. Wenn wir im einzelnen diese Ganzübergabe analysieren wollen, dann müssen wir sagen: Die Gottesliebe ist ein Wohlgefallen, ein Wohlwollen und eine Wertschätzung.

An erster Stelle ist die Gottesliebe ein Wohlgefallen. Wenn Gott der Schönste und Größte, der Gewaltigste und Herrlichste von allem ist, dann muß der Mensch notwendig Wohlgefallen an dieser Wirklichkeit haben. Er muß davon entzückt sein, er muß davon hingerissen sein; und das ist der Ausdruck der begehrenden Liebe. Was schön ist, zu dem will man in Verbindung treten, mit dem will man in Kontakt kommen, das will man besitzen. Die Liebe des Wohlgefallens ist also der Anfang der Gottesliebe. Wer kein Wohlgefallen an Gott hat, der wird auch nicht zu den weiteren Stufen der Gottesliebe emporsteigen können. Denn aus dem Wohlgefallen ergibt sich das Wohlwollen. Was so schön und so herrlich, so groß und gewaltig ist wie Gott, dem muß man gut sein, dem muß man mit Warmherzigkeit begegnen, d.h. man muß Gott Freude machen wollen, man muß Gott sich übergeben und schenken wollen, man muß die Neigung haben, ihm zu dienen und zu helfen. Das Wohlwollen zeigt sich vor allem in der tätigen Gottesliebe, indem man nämlich seinen Willen tut, indem man seine Gebote erfüllt, indem man seine Kräfte für Gott aufwendet.

Die dritte Stufe ersteigt man in der Wertschätzung. Die Wertschätzung ist eine Form der Liebe, denn sie besagt, daß man den Wert, den der andere darstellt, hochschätzt. Und Gott muß man, weil er der höchste Wert ist, über alles schätzen. Die Wertschätzung ist also jene Form der Liebe, die nichts anderes Gott vorzieht, die Gott über alles stellt. Das ist die Gottesliebe. Sie ist das Ja unseres ganzen Herzens, die Übergabe unseres Wesens an den dreifaltigen Gott.

Warum sollen wir Gott lieben? Wir sollen Gott lieben, erstens, weil er uns erschaffen, erlöst und geheiligt hat, und zweitens, weil er das unendlich liebenswürdige Gut ist. Wir sollen Gott lieben, weil er uns erschaffen, erlöst und geheiligt hat. Hier schauen wir also auf das, was Gott für uns getan hat. Das ist Anlaß, das ist Grund, ihn zu lieben, daß er uns ins Dasein gerufen hat, daß er uns mit seinem Erlösungswerk heimgerufen hat, als wir verloren waren, daß er uns mit seiner heiligmachenden Gnade, mit der Gottesfreundschaft beschenkt. Das ist Grund, Gott zu lieben. Es ist schon unter Menschen so, daß man die liebt, die einem wohltun. Wie sollte man den größten Wohltäter, nämlich Gott, nicht lieben? Freilich braucht es, um diese Gottesliebe zu gewinnen, eine Sicht, die nicht jedem ohne weiteres gegeben ist. Denn wir wissen, daß Gott auch manches tut oder zuläßt, was uns unverständlich, rätselhaft, beschwerlich oder schmerzlich ist. Der Tiefenblick, den Gott dem Wissenden schenkt, weiß, daß alle Leiden, die den Menschen treffen, letztlich auch aus dem Liebeswillen Gottes hervorgehen. Der liebe Gott schickt keinen Schmerz, um den Menschen zu quälen und zu peinigen, sondern er schickt ihn, weil dieser Schmerz in seinem Plane eine Aufgabe hat; und diese Aufgabe wird uns einmal in der Herrlichkeit des Himmels aufgehen, und dann werden wir Gott preisen um seiner Weisheit willen.

Wir müssen aber Gott auch lieben um seiner selbst willen, weil er das unendlich liebenswürdige Gut ist. Die Liebe, die Gott liebt um dessentwegen, was er für uns getan hat, ist noch eine unvollkommene Liebe. Die Liebe, die Gott liebt, wie er in sich selbst ist, ist die vollkommene Liebe, vollkommen, weil sie ganz von sich selbst absieht. Es ist die selbstlose, es ist die selbstvergessene Liebe. Gott lieben um seiner selbst willen, Gott lieben, weil er so schön ist, Gott lieben, weil er so gewaltig und groß und herrlich ist, das ist die vollkommene Liebe. Warum müssen wir Gott lieben? Weil er uns erschaffen, erlöst und geheiligt hat und weil er das unendlich liebenswürdige Gut ist.

Und schließlich: Wie soll unsere Gottesliebe beschaffen sein? Erstens über alles groß. Wir dürfen nichts Gott vorziehen. Das ist das Wesen der Sünde, daß man ein Geschöpf in ungeordneter Weise Gott vorzieht. Da begreifen wir, daß jede Sünde ein Verstoß gegen die Gottesliebe ist. Da verstehen wir, warum Jesus sagt: „Das ist das erste und größte Gebot!“ Die Liebe muß also über alles groß sein, und sie darf nicht irgendetwas Gott vorziehen. Sie muß zweitens stetig sein. Wir dürfen Gott nicht zeitweilig lieben, wir müssen ihn immer lieben. Wir müssen ihn lieben, wie das schöne Lied von Angelus Sileius sagt, „auch in der allergrößten Not“. Dann nicht die Hand gegen Gott erheben, nicht murren und nicht sich empören gegen ihn, nein, auch unter Tränen muß man Gott lieben. Die Liebe muß drittens dankbar sein, nämlich eingedenk der Wohltaten, die wir von dieser Liebe empfangen haben. Die dankbare Liebe ist besonders wichtig, weil die Menschen zwar in der Not oft zu Gott rufen, aber wenn sie erhört worden sind, vergessen, ihm gebührend zu danken. Die dankbare Liebe ist eine sehr schöne Form der Gottesliebe. Und schließlich die vierte Eigenschaft: Die Liebe muß gehorsam sein. Das ist vielleicht psychologisch am feinsten empfunden, wenn z.B. im Johannesevangelium unser Heiland immer sagt: „Derjenige ist es, der mich liebt, der meine Gebote hält.“ Also das Gefühl ist dabei nicht unbedingt beteiligt, sondern es muß eine wirksame, eine effektive Liebe sein, die die Gebote hält, die Gottes Gesetz beobachtet. „Wer mich liebt, der hält meine Gebote, und wer meine Gebote hält, der liebt mich.“ Das ist der Tenor der Abschiedsreden im Johannesevangelium.

Das Wesen der Gottesliebe, meine lieben Freunde, hat kaum jemand schöner beschrieben als unser schlesischer Dichter Angelus Silesius in dem ergreifenden Lied:

„Ich will dich lieben, meine Stärke,

ich will dich lieben, meine Zier,

ich will dich lieben mit dem Werke

und immerwährender Begier.

Ich will dich lieben, schönstes Licht,

bis mir das Herz im Tode bricht.

Ich will dich lieben, o mein Leben,

als meinen allerbesten Freund.

Ich will dich lieben und erheben,

solange mich dein Glanz bescheint.

Ich will dich lieben, Gotteslamm,

als meiner Seele Bräutigam.“

Und jetzt der Gipfel:

„Ich will dich lieben, meine Krone,

ich will dich lieben, meinen Gott.

Ich will dich lieben sonder Lohne

auch in der allergrößten Not.

Ich will dich lieben, schönstes Licht,

bis mir das Herz im Tode bricht.“

Amen.

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