Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
24. Dezember 1989

Die Erbsünde

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

„Es geht ein allgemeines Weinen, soweit die stillen Sterne scheinen, durch alle Fasern der Natur.“ Wer von uns hätte dieses allgemeine Weinen noch nicht verspürt! Der Zwiespalt im eigenen Inneren, zwischen dem Wollen des Guten und dem Vollbringen des Bösen – ist das nicht ein Bestandteil dieses allgemeinen Weinens? Die Dunkelheit unseres Verstandes, unsere Unwissenheit, das Vergessen wichtigster Tatsachen, die Schwäche unseres Willens, die Unkraft unserer Vorsätze, ist das nicht ein Ausschnitt des allgemeinen Weinens, das sich durch die ganze Natur hindurchzieht? Und wenn wir in die Familien schauen, die Risse, die Zwiespalte in den Familien, der Unfriede in den Familien an den heiligsten Tagen! Der Krieg aller gegen alle in der Gesellschaft, die Hetze und der Haß, den die Parteien nähren, ist das nicht ein Stück des allgemeinen Weinens, das durch die Natur geht? In der großen Welt zeitweilige Lichtblicke, aber schon wieder dunkle Wolken, Überfälle, Kämpfe, Bürgerkriege. Wahrhaftig: Es geht ein allgemeines Weinen, soweit die stillen Sterne scheinen, durch alle Fasern der Natur. Und nicht nur die Menschenwelt, auch die vom Menschen gestaltete oder verunstaltete Welt nimmt an diesem allgemeinen Weinen teil. Ich glaube nicht, daß es auch nur eine Wüste auf der Erde gibt, die nicht vom Menschen verursacht worden ist. Wir lesen von furchtbaren Überschwemmungen in Spanien. Ja, woher denn? Weil der Mensch die Berge kahlgeschlagen hat, weil die Wälder in Spanien vernichtet sind, so daß das Wasser sich nicht mehr sammeln kann, sondern in den Tälern zusammenströmt und dann die furchtbarsten Verheerungen anrichtet. Es geht ein allgemeines Weinen, soweit die stillen Sterne scheinen, durch alle Fasern der Natur.

Woher kommt denn dieses allgemeine Weinen? Da stoßen wir, meine lieben Freunde, auf Adam und seine Schuld. Adam hat die Ursünde begangen, aber die Ursünde wurde zur Erbsünde. Was Adam angerichtet hat, das hat er für die ganze Menschheit, vom ersten bis zum letzten Tage ihres Bestehens, angerichtet. Das Verhängnis, das er heraufbeschworen hat, vererbt sich fort, denn Adam war der Stammvater der Menschheit, und was der Stammvater verloren hat, das hat er für den ganzen Stamm verloren. Es gibt eine Solidarität, eine Verknüpftheit und eine Verbundenheit des Menschengeschlechtes, die kein Mensch lösen kann.

So müssen wir heute, und das ist ein recht passender Tag, von der Erbsünde sprechen, von Adam und seiner Schuld.

Wir wollen die Lehre über die Erbsünde in vier Sätzen zusammenfassen. Erstens: Die Erbsünde besteht darin, daß Adam durch seine Sünde ein Erbverhängnis heraufbeschworen hat, daß dieses Erbverhängnis durch Abstammung und nicht durch Nachahmung auf alle Menschen übergeht. Es ist also nicht so, daß die Menschen nur dem Adam im schlechten Beispiel, das er gegeben hat, folgen. Das tun sie freilich auch durch die persönlichen Sünden. Aber es gibt auch ein Urverhängnis, das vor jeder persönlichen Sünde liegt, und das ist die Erbsünde. Adam hat nicht nur für sich die Gnade verloren, sondern für das ganze Menschengeschlecht. Adam hat auch nicht bloß einen Erbtod hinterlassen, sondern er hat eine Erbschuld den Menschen weitergegeben. Deswegen werden auch die kleinen Kinder, die einen Tag alt sind, schon getauft, um von der Erbschuld befreit zu werden.

Auch da gibt es heute Irrlehren. Vor wenigen Wochen hat ein Bischof in Rom gefordert, man solle nur noch an Ostern taufen. Man soll also die Kinder ein ganzes Jahr in der Erbsünde lassen, wenn sie nach Ostern geboren werden. Welch ein Unsinn! Vermutlich glaubt er nicht mehr an die Erbsünde. Die Taufe ist nicht nur Aufnahme in die Kirche, sondern sie ist zuerst und zuoberst Tilgung der Erbschuld. Durch Abstammung, nicht durch Nachahmung, wird diese Schuld weitergegeben.

Der zweite Satz lautet: Die Erbsünde besteht wesentlich in dem Beraubtsein der Gnade. Daß die Menschen ohne das übernatürliche Leben zur Welt kommen, das ist das Wesen der Erbsünde. Das Konzil von Trient, das die Erbsünde gegen die Neuerer verteidigen mußte, hat die Erbsünde mors animae genannt – den Tod der Seele. Tod der Seele ist hier zu verstehen als Tod des übernatürlichen Lebens der Seele. Und dieses Geschick wird nur behoben durch die heiligmachende Gnade. Wem in der Taufe die heiligmachende Gnade eingeflößt wird, dem wird der Tod der Seele in das Leben der Seele verwandelt, ihm wird das übernatürliche Leben der Seele geschenkt und der Tod hinweggenommen. Das Wesen der Erbsünde ist also nicht, wie die Reformatoren sagten, die Konkupiszenz. Das Wesen der Erbsünde ist auch nicht die Erbstrafe, wie Abaelard im Mittelalter verkündete, nein, das Wesen der Erbsünde ist das Gnadenberaubtsein, daß also die Natur weitergegeben wird im gnadenentblößten Zustand.

Der dritte Satz lautet: Die Erbsünde wird durch Zeugung weitergegeben. Jedesmal, wenn ein Mensch entsteht durch das Zusammenwirken der Eltern, wird die gnadenentblößte Natur weitergegeben. Deswegen wird die Zeugung nicht schlecht. Sie ist gut in objektiver und subjektiver Hinsicht. Gut, weil eben ein Menschenwesen neu entsteht, und gut, weil auf diese Weise die Menschheit fortgepflanzt wird. Auch Gott begeht kein Unrecht, wenn er den Menschen in dem Zustand des Fehlens der Gnade entstehen läßt, denn er ist nicht verpflichtet, die Menschennatur im Gnadenzustand zu erschaffen. Er ist dazu nicht verpflichtet, und es gibt eben eine Geschichte des Heils und des Unheils. Denn Gott ist kein Popanz, er ist kein Papiertiger, sondern wenn er einmal den Menschen schafft, dann nimmt er ihn auch ernst. Und wenn er dem Adam sagt: Von allen Bäumen darfst du essen, nur von dem einen nicht, dann meint er es auch so. Gott ist anders, als viele, die heute reden im Raume der Kirche, sich ihn vorstellen. Und die Erbsünde bezeugt sein Anderssein, belehrt uns darüber, wie ernst er den Menschen nimmt, wie ernst er die Verflochtenheit der Menschen nimmt, wie ernst er die Solidarität der Menschen nimmt.

Der vierte Satz lautet: Der erbsündige Mensch ist der übernatürlichen Gaben beraubt, in den natürlichen Gaben verwundet. Das ist die Folge der Erbsünde. Diese Folge der Erbsünde bleibt auch in dem erlösten Menschen, abgesehen einmal von dem Gnadenzustand. Der Gnadenzustand wird durch die Taufe wiedergeschenkt. Aber was sonst noch mit der Erbsünde zusammenhängt, das bleibt auch in dem begnadigten Menschen, jetzt nicht mehr als Schuld, sondern als Mittel zur sittlichen Bewährung.

Beraubt der übernatürlichen Gaben, verwundet in den natürlichen Gaben. Verwundet ist der Mensch an Leib und Seele. Daß der Mensch durch die Erbschuld am Leibe verwundet ist, das erfahren wir in den Leiden und im Tod des Körpers. Das ist die Folge der Erbsünde: Leidensfähigkeit und Sterblichkeit des Menschen sind die verbleibenden Folgen der Erbsünde, was den Leib betrifft. Aber auch die Seele bleibt von den Folgen der Erbsünde nicht verschont. Es ist nicht so, daß sie völlig verderbt ist, wie Luther und seine Anhänger behaupten. Der Mensch kann auch im Zustand der Erbsünde natürliche Wahrheiten erkennen und natürliche sittlich gute Akte setzen. Aber er hat vier Wunden der Seele, einmal die Unwissenheit. Er kommt nur schwer zur Erkenntnis der Wahrheit. Es gibt viele Hindernisse für die Erkenntnis der Wahrheit, und mancher fühlt sich wohl in der Unwissenheit und in der Unwahrheit; denn die Wahrheit ist unbequem, die Wahrheit ist anspruchsvoll. Die erste Wunde der Seele ist also die Unwissenheit. Die zweite Wunde der Seele ist die Bosheit, die Willensschwäche im Menschen. Er sieht das Gute, aber er tut es nicht. Nitimur in vetitum – wir neigen zum Verbotenen. Die dritte Wunde der Seele ist die Schwachheit des Willens, die vor Schwierigkeiten zurückschreckt. Der Mensch ist dazu geneigt, die mit dem Tugendstreben, mit dem Sichmühen um sittliche Vollendung gegebenen Schwierigkeiten beiseite zu lassen. Er will bequem und lässig leben. Deswegen geht dem Menschen nichts so schnell und so gut ein wie die Bequemlichkeit. Die sogenannten Reformen, die wir in den letzten Jahrzehnten erlebt und erlitten haben, sind den Menschen deswegen so leicht eingegangen, weil sie bequem sind. Nichts ist dem Menschen lieber als das Bequeme. Und das ist eine Folge der Erbsünde. Er schreckt zurück vor den Schwierigkeiten, die das harte Tugendstreben nun einmal mit sich bringt. Und schließlich die letzte, die vierte Wunde der Seele, das ist die Begierlichkeit, daß sich also das sinnliche Streben im Menschen regt auch gegen die Vernunft. Beispielsweise die ungezügelte Eßlust, die gegen die Vernunft ist. Aber trotzdem sind es Millionen und Abermillionen, die da nachgeben. Und so ist es mit allen anderen Lüsten, Geschlechtslust, Besitzdrang, Machtstreben, Karriere. Alle diese Dinge hängen mit der bösen Begierlichkeit zusammen, Konkupiszenz genannt, einer Folge der Erbsünde, einer Wunde, welche die Erbsünde der Seele geschlagen hat.

Da begreifen wir jetzt auch, meine lieben Freunde, warum wir das Fest Unbefleckte Empfängnis feiern, denn Maria hat ja die Erbsünde sich nicht zugezogen. Ihr sind also diese Wunden erspart geblieben, die wir in uns tragen; und das ist wahrhaft ein Grund, sich zu freuen und zu jubeln, daß es einen, wenigstens einen Menschen gibt, der von diesen Wunden frei war.

Es geht ein allgemeines Weinen, soweit die stillen Sterne scheinen, durch alle Fasern der Natur. Adam, was hast du getan! Adam, was hast du vererbt!

Morgen, meine lieben Freunde, werden wir sehen, wie der, den Gott auserwählt hat, gekommen ist, um die Erbschuld und alle Sünden des Menschen zu tilgen. Es sollte ein zweiter Adam entstehen, wiederum ein Stammbaum begründet werden, wiederum der Anfang eines neuen Geschlechtes gesetzt werden, ein Erlöser erscheinen, der alles das den Menschen vermacht, die guten Willens sind, was er durch sein Leben, Leiden und Sterben uns erworben hat. Lasset uns also hoffen!

Amen.

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