Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
25. Dezember 2005

Das Dogma von der Menschwerdung

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte, zur Feier der Geburt unseres Herrn und Heilandes Versammelte!

Wenn die Menschen das Wort Dogma hören, überrieselt sie ein leichter Schauer. Dogmen, das sind festgeschriebene Sätze, das sind Glaubensgesetze, und vor denen scheut man sich. Wer aber die Dogmen, die Glaubenssätze und Glaubensgesetze, richtig betrachtet, der erkennt, dass sie lebendig und lebendigmachend sind. Die Dogmen sind Dogmen des Lebens. Sie vermögen denen, die sie annehmen, Leben zu spenden. Wenn wir von den lebendigen Dogmen sprechen, dann steht an erster Stelle das von der Menschwerdung Gottes; denn dieses Dogma hat das Christentum gegründet und hat es zu einer Weltreligion gemacht. Von diesem Dogma ist das Antlitz der Erde erneuert und gestaltet worden. Es ist in hervorragender Weise ein lebendiges Dogma.

Seitdem Johannes, wie sir soeben gehört haben, in seinem Prolog die unsterblichen Worte geschrieben hat: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort ist Fleisch geworden“, seitdem haben sich unzählige Knie gebeugt ob dieser Botschaft. Eine in allen Sprachen redende Literatur ist entstanden, und zahllose Denkmale der Kunst sind geschaffen worden, die dieses Wort zum Ausdruck gebracht haben. Es sollte eben die unfassbare und die unsagbare und doch immer neu zu preisende Wahrheit kundgemacht werden: Gott ist ein Mensch geworden.

Auch heute noch steht die Weihnachtszeit als das Fest der Menschwerdung Gottes wie ein heller Lichtschein im Ablauf unserer dunklen Jahre. Täglich dreimal verkünden die Glocken von den Türmen: Er ist ein Mensch geworden, denn der Engel des Herrn brachte Maria die Botschaft, und sie empfing vom Heiligen Geiste. Jeder Jahreswechsel erinnert uns daran, dass wir unsere Jahre nach der Ankunft des Herrn zählen. Also dieses Dogma ist wie kein anderes in das Bewusstsein der Christenheit eingegangen. Und dennoch ist das alles noch kein genügender Beweis für den Lebenswert des Dogmas. Daß also die Jahre und Jahrhunderte nach Christi Geburt gezählt werden, dass die liturgischen Feiern und Zeremonien in seinem Namen abgehalten werden, dass die Denkmale der Kunst die Menschwerdung Gottes künden, das alles genügt noch nicht für den wirklichen Lebenswert des Dogmas. Selbst wenn wir uns erschüttern lassen vom Credo in der Missa Solemnis Beethovens, selbst dann, wenn wir dort singen hören: Empfangen vom Heiligen Geist und geboren aus Maria, der Jungfrau, muss das nicht eine Erschütterung auch unserer Seele bedeuten. Und doch ist dieses Dogma zutiefst ein Dogma des Lebens. Es greift tief und schöpferisch und formend in unser Dasein und in unser Leben ein, in das Geistesleben und in das Alltagsleben.

Wenn wir davon sprechen, dass das Dogma von der Menschwerdung ein Lebensdogma ist, dann meinen wir damit zwei Dinge, erstens die Tatsache, die dieses Dogma ausspricht, die dieses Dogma enthält, und zweitens unser Bekenntnis zu dieser Tatsache. Beides ist lebensmächtig, die Tatsache und unser Bekenntnis zu dieser Tatsache, unser Glaube, unsere Überzeugung, unser Erfülltsein von dieser Tatsache. Gott ist ein Mensch geworden! Diese Tatsache ist lebensmächtig. Sie muss lebensmächtig sein, denn sie ist ja eine Tat Gottes. Sie ist das zweite der beiden großen Werke, die Gott hervorgebracht, gewirkt hat. Gott hat die Welt geschaffen aus nichts. Das war sein erstes Werk. Und über diese Schöpfung hinaus in einer neuen, in einer höheren Ebene liegt das zweite Werk, das er geschaffen hat. Schon die Erschaffung der Welt ist etwas höchst Wirksames und Lebendiges. Alles Dasein und Leben verdankt ja Gott seinen Ursprung. Aber die zweite Tatsache, das zweite Werk ist noch viel größer, noch viel lebendiger, noch viel wirksamer. In der Schöpfung wurde die Welt gegründet, aber in dem zweiten Werk wurde eine neue Welt gegründet, eine Welt, die fruchtbarer ist als alle Sterne und als alle Geschöpfe, leuchtender als alle Wellen des Geistes für sich allein sein können.

Durch die Schöpfung ist Gott die allbewegende Ursache aller Dinge und aller Wesen geworden, der geniale Künstler, der alles nach seinen Ideen geformt hat. Aber wir wissen ja: Das ist das große Leid aller Künstler, dass ihre inneren Gesichte nicht eingehen in ihre Werke, dass sie die schöpferischen Befehle, die aus ihrer Seele kommen, in den Werken nicht voll und ganz verwirklicht finden. Und so ist es auch mit Gottes Werken. Die Werke Gottes, die Schöpfungswerke, sind weit draußen in unermesslicher Entfernung von Gott gelegen. Auch seine stolzesten Geschöpfe, die Engel, die Cherubim und die Seraphim, sind unendlich geringer als Gott. Manche Geschöpfe erscheinen uns sogar so gering, dass wir sie verachten zu können meinen: den Staub der Erde, eine verwelkende Blume oder das armselige Leben eines Tierchens. Und auch der Mensch, die Krone der Schöpfung, macht uns zuweilen einen so armseligen Eindruck, dass wir nur schwer glauben können, dass er ein Werk Gottes, ja das Meisterwerk Gottes ist. Die Welt ist einerseits groß genug, um einen weltüberlegenen Gott erkennen zu lassen. Aber sie ist nicht groß genug, um die ganze Größe dieses Schöpfers ahnen zu können. Darum ist der Eindruck, ein oft niederschlagender Eindruck, den wir von der Welt gewinnen: Gott überragt sie unendlich. Er ist weit weg, ja er ist ein verborgener Gott. In unersteiglichen Höhen und in unerschöpflichen Tiefen wohnt Gott.

Aber in dem zweiten seiner Werke, in der Menschwerdung, da ist Gott uns nahe gekommen. Da ist er nicht bloß die rufende Ursache, nicht bloß der schöpferische Befehl, nein, da ist er selbst in die Weltdinge und in die Weltwesen eingegangen, ja, er ist ein Weltding und ein Weltwesen geworden, und zwar ein Weltwesen, das mitten in der großen Menge steht. Nicht eines der niedersten, aber auch nicht eines der höchsten, sondern ein Mensch. Denn der Mensch steht da, wo sich alle Weltstraßen kreuzen: Geist und Leib, Tod und Leben, Helle und Dunkelheit. Solch ein Ding aus der großen Menge ist Gott geworden. Mitten in die Welt ist er gekommen, und unendlich nahe ist er ihr gekommen, so wie er einst unendlich fern war. Seitdem diese Tatsache sich begeben hat, meine lieben Freunde, kann man die Welt nicht mehr fragen, wie sie alle Zweifler, alle Weinenden, alle Leidtragenden, alle Ratlosen und alle Hilflosen, alle Enttäuschten und Erbitterten gefragt werden: Wo ist denn nun dein Gott? Jetzt ist die Antwort gekommen, und sie ist frohlockend: Er ist da! Er ist so sehr da, dass man mit Fingern auf ihn zeigen kann, und dass er unter uns Wohnung, Zeltwohnung genommen hat.

Gott ist da, und er ist auch wirksam. Gott ist in einer neuen Weise wirksam geworden in der Welt. Er ist jetzt nicht mehr bloß die unendliche Kraft, die alle Kreaturen trägt, nein, er ist selbst in die Reihe der Weltkräfte eingetreten. Er ist ein Weltkämpfer und ein Weltarbeiter geworden. Wenn aber eine Kraft da ist, dann will sie sich auch auswirken, dann bleibt sie nicht untätig. Der bei uns eingekehrte Gott muss also auch wirksam sein in unserer Mitte, in unserem Lebenskreise. Er muss eine Tätigkeit haben, die er vor seiner Menschwerdung nicht hatte. Wir wissen, wie wir schon entzückt sind, wenn eine Blume uns zugetragen wird, ein Bild, ein Tier, und erst recht, wenn ein Mensch zu uns kommt, ein Mensch, ein Kindlein. Das ist nicht gleichgültig, das betrifft uns, und das berührt uns. Und wenn nun ein besonders wertvoller Mensch, ein kostbarer Mensch, ein froher, ein starker, ein guter Mensch zu uns kommt, dann sind wir beglückt, dann wirkt dieser Mensch schon durch seinen bloßen Eintritt in unser Haus, in unsere Gesellschaft, dann wirkt er durch seinen Eingang und durch seinen Ausgang, durch seinen Gruß und sein Verweilen, so dass es hell wird, wo es vorher dunkel war, dass Sicherheit entsteht, wo vorher die Angst wohnte, dass eine Welle von gutem Willen, von Güte aufsteht, wo vorher Gleichgültigkeit, Verzagtheit oder Bosheit herrschte.

Nun ist aber nicht bloß irgendein Mensch zu uns gekommen, sondern der Mensch, der einmalige Mensch, der einzigartige Mensch, der Mensch, der Gott ist, der Menschensohn schlechthin. Er ist zu uns gekommen. Und so ist auch dieser Eintritt einmalig und einzigartig wie Gott selbst. Und wenn wir diesen Menschen auch zunächst nur als Kindlein sehen und als einen Armen unter Armen oder als einen Kreuztragenden, mit seinem Kommen allein ist schon etwas Neues und einzigartig Großes geschehen. Johannes sagt nicht umsonst, dass er das Licht war. Das Licht muss leuchten. Er sagt, dass er das Leben war. Das Leben muss sich ausweiten. Er sagt uns, dass er die Wahrheit war. Die Wahrheit will angenommen werden. Er sagt uns, dass er die Gnade war. Die Gnade will sich verbreiten. So muß also dieser Mensch, dieser einzigartige Mensch, dieser Gottmensch, seit dem Tage, da das Wort Fleisch geworden ist, die Welt verändert haben. Seitdem kann es in der Welt nicht mehr sein, wie es vorher war. Und wenn auch unsere Augen die Veränderung nicht sähen, wenn unsere Seelen sie nicht verspürten, wenn wir von diesem Menschen, der da bei uns eintrat, nichts wüssten, die Tatsache allein, dass Gott zu uns kam, würde genügen. Es kann nur Helligkeit, Ruhe und Reichtum, Sicherheit, Mut und Freude ausstrahlen von dem neuen Ankömmling. Sein Kommen muss schön und verheißungsvoll sein wie eine Morgenstunde, stark genug, um selbst den sich neigenden Tag des Lebens zu vergolden.

Meine lieben Freunde, in dem äußersten Osten Chinas, des heutigen Chinas, liegt ein Stadt mit Namen Charbin. Charbin gehörte früher zu Russland. Die zaristische Regierung baute eine Bahn dahin, die mandschurische Bahn. Sie errichtete auch ein großes Bahnhofsgebäude in Charbin, und sie ließ in diesem Bahnhofsgebäude eine lebensgroße Statue von Jesus Christus aufstellen. Als das Land sich von Russland löste und eine heidnische Obrigkeit bekam, blieb die Statue in dem Wartesaal zu Charbin stehen. Doch dann rührten sich Kräfte, die den Bahnhofsvorsteher bedrängten, er solle doch die Statue wegschaffen lassen. Der Bahnhofsvorsteher begab sich wiederholt in die Bahnhofshalle zu dem Bild Jesu Christi. Er war ein Heide; aber er sah, wie vor dem Bilde Christen knieten, Mütter mit ihren Kindern, sorgengebeugte Männer, Flüchtlinge, Auswanderer. Und er gewann den Eindruck, dass die Menschen froher, zuversichtlicher und hoffnungsvoller von ihren Knien aufstanden, wenn sie vor dieser Statue gebetet hatten. Und so entschied der heidnische Bahnhofsvorsteher: Das Standbild Jesu bleibt stehen. Es ist mir heute, meine lieben Freunde, als ob ich von Bethlehem aus einen Befehl hörte, der lautet: Laßt Jesus im Wartesaal des Lebens stehen!

Unser Leben ist eine Reise. Wir sind unterwegs. Auf dieser Reise brauchen wir eine Kraft und einen Trost. Diese Kraft und dieser Trost ist Jesus Christus. Er ist der Arzt, der unsere Wunden heilt. Er ist der Freund, der uns tröstet. Er ist der Begleiter, der uns nicht verlässt. Darum: Laßt Jesus im Wartesaal des Lebens stehen! Laßt ihn stehen, bis er uns heimgeleitet hat!

Amen.

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