19. Oktober 2025
Woher kommt das Gute?
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Eine Glaubenslehre ist jedem Menschen verständlich und entscheidet die letzten Fragen unseres Lebens. Es ist das Dogma von dem heiligen Gott, von dem Gott, der das Gute belohnt und das Böse bestraft. Das ist vielleicht das Erste, was die Kinder von Gott hören. Wenn sie im späteren Leben das Unglück haben, ihren Glauben zu verlieren oder auf sittliche Abwege zu geraten, diese furchtbare Ahnung, ja Gewissheit können sie nicht ganz abschütteln, dass Gott ihre Untaten rächen und verurteilen werde. Dieses Dogma verknüpft die zwei größten und wichtigsten Lebensbezirke, das religiöse und das sittliche Gebiet. Diese Zusammenhänge wollen wir uns anhand zweier Fragen klarmachen. Sie lauten: Woher kommt das Gute? und: Wohin geht das Gute?
Der Unterschied, den wir machen zwischen gut und bös, ist eine wunderbare Erscheinung unseres Geisteslebens. Wir müssen diesen Unterschied machen und können ihn nicht verleugnen. Auch der böse Mensch kann es nicht. Es gibt Menschen, in denen der Sinn für die moralischen Unterschiede schwach entwickelt ist. Aber je geistiger und fortgeschrittener ein Mensch ist, umso stärker und zugleich feiner wird sein Gefühl sein für gut und böse. Wenn wir irgendwo einen krassen Undank finden, wenn eine aufopfernde Liebe mit Füßen getreten wird, wenn wir einem schreienden Unrecht begegnen, einem Habgierigen, der seine Übermacht ausnützt, um den Armen auch noch um das bisschen Habe zu bringen, wenn wir einen Verräter sehen, der kaltblütig den besten Freund ins Verderben lockt, wenn wir eine Herzlosigkeit beobachten, die es sich wohl sein lässt auf Kosten und mit Verhöhnung des Armen, der vor der Tür liegt, dann steht ein heiliger Zorn in uns auf; eine Woge des Abscheus geht über uns hin; wir müssten vor uns selbst aufs tiefste erschrecken, wenn wir diesen Abscheu nicht spüren würden. Und umgekehrt! Wenn wir einer selbstlosen, aufopfernden und heldenmütigen Liebe zuschauen dürfen, wenn wir die Kraft, die Geradheit und die Aufrichtigkeit eines charaktervollen Mannes beobachten, wenn wir die unbedingte Zuverlässigkeit und Treue eines Menschen erfahren dürfen, dann spüren wir ein Entzücken, eine innere Erhebung und Tröstung und zugleich eine Mahnung und einen Ernst, wie sonst nirgends mehr; dann spüren wir fast mit den Händen, dann sehen wir beinahe mit Augen, dass da etwas Großes, etwas Göttliches geschieht, das man verehren, vor dem man sich in Ehrfurcht neigen muss, wie wenn Gott selbst in unsere Mitte träte.
Das ist auch wirklich der Fall. Das Gute kommt nämlich unmittelbar von Gott, ja es ist die vollkommenste Erscheinung Gottes. Wir können Gott nicht anders denken denn als gut, und zwar gut im vollkommensten Sinne; wir müssen ihn als heilig denken. Er wäre nicht das allerhöchste Sein und könnte nicht alles Sein und Leben, alle Schönheit und Seligkeit der Schöpfung in sich tragen, wenn er auch nur die leiseste Spur des Bösen an sich hätte, wenn auch nur ein Schatten von Minderwertigkeit, die wir als böse empfinden, auf ihn fiele. Gott ist das unendlich vollkommene Wesen. Und weil alles Vollkommene, alles Wirkliche in den geschaffenen Dingen von Gott, der Quelle alles Seins, kommen muss, kann auch das Gute nur von ihm stammen. Der ewige und unauslöschliche Unterschied zwischen gut und böse, zwischen heilig und unheilig, muss auf ihn zurückgehen. Und gerade darin liegt der Grund, warum wir Gott nicht anders als gut denken können, weil von ihm alles Gute ausgeht, weil es das Gute nur durch ihn und um seinetwillen gibt. Ohne Gott gäbe es auch keine Güte. Das Gute ist nichts anderes als die Offenbarung und Erscheinung des göttlichen Wesens. Gott ist von Ewigkeit und mit absoluter Notwendigkeit so, wie er ist, unveränderlich und mit vollkommener Wahrheit und Echtheit. Wenn nun ein anderes Wesen, ein Geschöpf, auch so ist wie Gott, nennen wir es eben gut. Das Gute ist die Ähnlichkeit, die Übereinstimmung mit dem Wesen, mit dem Charakter, mit der Sinnesart Gottes. Nun begreifen wir, warum uns alles Gute, das uns begegnet, so einzigartig und unwiderstehlich ergreift. Das kommt davon, dass Gottes Wesen uns darin begegnet und sichtbar wird. Wenn wir einen guten und heiligen, einen sittlich großen Menschen sehen, dann wissen wir ohne weiteres: so ist Gott! Und wir erschrecken in Freude und Ehrfurcht. Denken Sie an Franz von Assisi und Vinzenz von Paul, an Birgitta von Schweden und an Theresia von Lisieux. Wir sehen und spüren ihre Ähnlichkeit mit Gott.
Nun sehen wir auch, worin das Böse liegt. Es ist der Widerspruch zum göttlichen Wesen, und darum ist das Böse erbärmlich, minderwertig, grauenvoll und abscheulich, unselig, weil es eben anders ist als Gott. Wir begreifen, warum wir den Unterschied zwischen gut und bös nicht verleugnen können. Dieser Unterschied bezeichnet das Allerrealste, das es gibt, das Innerste alles Seins. Denn das Gute ist ebenso viel wie das Göttliche, das Schöpferische, das ewig Gültige, während das Böse das Nichts ist, das Nein, das Ungültige und Wertlose. Weil nun Gott das absolut Gültige, das notwendige Wesen ist, so muss er auch wollen, dass er auch in seinen Geschöpfen Geltung habe, dass auch in ihnen seine Notwendigkeit verwirklicht und nicht verleugnet werde. Wenn er etwas schafft, kann er es nur nach dem Bilde, dem Maße und der Norm seines Wesens machen. So wurde alles, was Gott unmittelbar geschaffen hat, gut, und es war gut, soweit er es geschaffen. Darum konnte der biblische Schöpfungsbericht nach jeder einzelnen Schöpfungstat feststellen: „Und Gott sah, dass es gut war“.
Nun hat aber Gott auch freie Wesen erschaffen, Persönlichkeiten, die sich ihre letzte Vollendung selbst geben. Wir Menschen sind solche Wesen, denen es in die Hand gegeben ist, wie sie endgültig sein werden. Es hängt von uns ab, ob wir nach dem Bilde und dem Wesen Gottes werden und geraten oder nicht. Wenn wir uns selbst so machen, wie Gott ist, dann sind wir wirklich Menschen, wie sie Gott ins Dasein rufen wollte, dann sind wir gut geraten. Wenn wir uns nicht so machen, wie Gott ist, dann sind wir missratene und missglückte Wesen, dann sind wir bös. Gut und bös ist also in unsere Hand gegeben, es ist Gegenstand unserer freien Wahl und Entscheidung. Dadurch erhält das Gute wie das Böse für uns eine ganz neue, erschreckende Bedeutung. Ein Tier, eine Blume, ein Stern sind immer gut, weil sie notwendig so sind, wie Gott sie schuf. Wir aber sind erst dann gut, wenn wir uns gut machen. Weil Gott das Gute will als Übereinstimmung mit seinem Wesen, darum kann er auch nur unser Gutsein wollen. Und da dieses Gutsein von uns abhängt, so steht Gott mit seinem allgewaltigen Willen vor uns und sagt uns: Du sollst das Gute wollen. Du sollst dich machen, wie dein Schöpfer ist und wie dein Gott dich haben will. Du sollst nach meinem Willen und Gesetz sein, denken, wollen und leben. Es ergibt sich also, dass für uns Menschen das Gute nicht nur in der Übereinstimmung mit dem göttlichen Wesen, sondern auch mit dem göttlichen Willen besteht. Gut ist für uns, was Gott von uns will, böse ist, was Gott nicht will, was er verwirft und verurteilt. Das Gute ist für uns die freie Verwirklichung des Wollens Gottes, so dass wir mit Herz und Mund, mit unserer Seele, mit unserer Tat und mit unserem ganzen Wesen sprechen: „Herr, dein Will’ gescheh, wo ich geh und steh!“ Das ist die Sittlichkeit des Christentums, und keine andere gibt es. Niemand außer Gott kann mit absoluter Macht sprechen: Du sollst. Es gibt keine verbindliche Moral als die von Gott aufgestellte.
Die sittliche Gutheit verlangt ein Wirken des Menschen, und zwar ein freies Wirken, durch das der Mensch auf objektive Werte und Ziele sich hinordnet. Gut ist eine Handlung, die nach Gegenstand, Umständen und Zweck mit der sittlichen Ordnung übereinstimmt. Böse ist eine Handlung, die in irgendeiner Hinsicht der auf das Ziel hinordnenden Norm widerspricht. Das Böse verändert nicht nur den, der es tut, zum Schlechteren; das Böse des Einzelnen wirkt sich auch auf die Gemeinschaften aus, in denen er lebt. Der Einzelne tritt auch infolge der Anhäu-fung der Folgen des Bösen mit Anlagen ins Dasein, die ihn zum Bösen geneigt machen (böse Begierlichkeit, Konkupiszenz). Als Widerspruch gegen das göttliche Gesetz heißt das sittlich Böse Sünde, als zurechenbare verantwortliche Tat wird es Schuld genannt. Die böse Tat ist böse, weil ihr die Übereinstimmung mit der gesollten Ordnung fehlt. Böse oder sittlich schlecht ist zuerst die innere, freie, geistige Entscheidung und Gesinnung, dann die Tat und hieraus entspringend die sich verfestigende böse Gewohnheit und Haltung, das Laster. Man kann fragen: Warum lässt der heilige Gott, der das Böse niemals wollen, bewirken oder billigen kann, das Böse zu, oder warum hindert er die von ihm geschaffenen freien Wesen nicht, ihre Freiheit zum Bösen zu missbrauchen? Die Zulassung ist keine positive Billigung und schließt keine Verantwortlichkeit für das Böse ein; sie wird motiviert durch überragende Werte. Die sittlich gute Entscheidung als freie Verherrlichung Gottes setzt die Wahlfreiheit und damit die Möglichkeit zum Bösen voraus. Die verzeihende Güte Gottes begnadigt den gefallenen, reuigen Menschen, der durch den Fall Demut und Erlösungsbedürftigkeit lernt. Das vom Nächsten zugefügte Unrecht gibt Gelegenheit zur Geduld und Bewährung in der Liebe. Endlich wird der unbußfertige Sünder für das Böse seine gerechte Strafe und so die verletzte sittliche Weltordnung ihre Wiederherstellung finden. Dies sind die Gründe, weshalb Gott das Böse nicht hindert.
Mit dieser Erkenntnis gewinnen wir nun wieder einen neuen Einblick in das Wesen des Guten. Weil es die freigewollte Erfüllung des göttlichen Willens ist, wird es zu einer höchstpersönlichen Angelegenheit, zu einer Kundgebung und Äußerung der Freundschaft, der Liebe, der Hingabe an das göttliche Du. Das Gute ist in seiner höchsten Vollendung nicht eine Angelegenheit des einsamen Ich, sondern eine Gemeinschaftssache, eine Sache zwischen zweien. Hier liegt der Grund, warum das Gute auf dem Gipfel seiner Vollkommenheit gerade in der Liebe besteht und ohne Liebe eine vollkommene Sittlichkeit nicht möglich ist. Das Gute in seiner edelsten Gestalt ist nicht ein Imperativ, den man sich selbst vorsagt, sondern der uns gesagt wird von einem, den wir liebhaben. Ein sittliches Gebot, hinter dem kein anderes Ansehen steht als ein Privatname, hat nicht mehr Macht als ein König auf der Spielkarte. Wird der göttliche Wille als letzte Verpflichtungsnorm ausgeschaltet und durch ein Teilziel (z.B. Fortschritt, Volk) ersetzt, so werden die unantastbare Würde, die absolute Geltung und Sicherung von Sittlichkeit und Pflicht beseitigt. Und wenn es schon ein Imperativ ist, eine Forderung, die wir selbst an uns stellen, dann nicht so sehr eine Forderung der Selbstvervollkommnung, der eigenen Geltung und Würde, sondern eine Forderung der Liebe zu einem anderen: Ich will gut sein, o Gott, weil ich dich liebhabe; ich will gut sein, weil ich für dich sein möchte; ich will gut sein, weil ich dir gehöre.
Daran sehen wir nun ohne weiteres, dass alle Sittlichkeit im letzten Grunde religiös ist und ein Gebot der Religion. Gut sein wollen hat nur deshalb einen vollen Sinn, weil es einen Gott gibt, in dem das Gute begründet ist, weil Gott gut ist. Und alle Beweggründe, die unser sittliches Wollen stärken und beflügeln, laufen schließlich auf diesen einen hinaus: weil Gott es will, den wir lieben. Wenn wir fragen, warum ist das Gute so gebieterisch, so absolut und notwendig, dann können wir auf diese Frage nur antworten: weil das Gute in Gott liegt und aus Gott kommt, aus dem Wesen und Willen Gottes. Durch Gott erst erhält es seinen unvergleichlichen Wert und seine verpflichtende Kraft. So ist ein enger Zusammenhang zwischen Sittlichkeit und Religion. Es gibt keine Sittlichkeit, die nicht den Gottesgedanken und die Gottesliebe enthält. Und umgekehrt kann es keine Religion, keine Frömmigkeit, keinen Gottesdienst von wirklichem Wert geben ohne Sittlichkeit. Die Religion, die nicht gut macht, die nicht immer besser macht, ist eine falsche Religion. So konnte der heilige Jakobus schreiben: Die wahre Religion besteht in Reinheit und Liebe, in Reinheit vom Bösen und in der Fülle der Liebe.
Amen.