Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
15. März 2015

Jesus Barabbas

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wir leben im Zeitalter der Revolutionen. Das Problem ist, für welche Art von Revolution wir uns entscheiden. Wie alle Zeiten hat auch unsere Zeit ihre Schlagwörter, besonders das Wort Freiheit. Es kann wohl sein, dass die Menschen deswegen so viel von der Freiheit sprechen, weil sie in Gefahr sind, sie zu verlieren, so wie man am meisten von der Gesundheit spricht, wenn man krank ist. Wann ist der Mensch frei? Wenn er ohne Schranken und ohne Gesetz lebt? Oder wenn er die Aufgaben erfüllt, für die er bestimmt ist? Ein Gefängnis kann Schuldige und Unschuldige aufnehmen. Während der Herrschaft eines Tyrannen können mehr Unschuldige hinter Gittern schmachten als Schuldige. Im Jahre 1938 befanden sich 5% der Bevölkerung der Sowjetunion in Gefängnissen und Arbeitslagern – 5% der Gesamtbevölkerung. Das tiefe, dunkle Verlies in der Festung des Pilatus beherbergte viele Gefangene, schuldige und unschuldige, darunter drei, die unsere Aufmerksamkeit auf sich lenken. Von einem wissen wir den Namen: Barabbas. Den Namen der beiden anderen kennen wir nicht, aber die Überlieferung nennt sie Dismas und Gestas. Als die Sonne an jenem entscheidenden Morgen aufging, hoffte jeder von ihnen auf die Freilassung, denn es war Sitte, dass der Statthalter am Ostertage dem Volke einen Gefangenen freigab zur Erinnerung an die Befreiung Israels aus ägyptischer Knechtschaft. Pilatus wusste, dass die Menschen ihn bitten würden, einen freizulassen. Und die Sache wurde dringend, denn Herodes hatte Jesus zurückgeschickt: er finde keine Schuld an ihm, deswegen sagte er: „Ihr habt mir diesen Menschen vorgeführt als einen Volksaufwiegler. Ich habe ihn in eurer Gegenwart verhört, aber nichts Strafbares an ihm gefunden. Auch Herodes nicht, denn er hat ihn zu mir zurückgeschickt. Nichts Todeswürdiges ist von ihm begangen worden.“ Pilatus hatte Christus in der Hand, aber er wollte ihn loswerden. Plötzlich kam ihm ein Einfall, ein Einfall, wie ihn ein Politiker fassen kann. Er war moralisch zweifelhaft, aber er war politisch als Schachzug gedacht. Er wollte dem Volk die Entscheidung überlassen, welchen Gefangenen er freigeben sollte. Wahrscheinlich hoffte er, das Volk würde Jesus von Nazareth begehren. Er wählte also einen der drei Männer aus und schlug ihn dem Volke vor: „Wen soll ich euch freigeben, Jesus oder Barabbas?“ Barabbas war ein häufiger Name in Israel und bedeutet so viel wie Sohn des Vaters, bar abbas, Sohn des Vaters oder Sohn des Rabbi, des Lehrers. Nun muss ich Ihnen aber etwas sagen, was Sie wahrscheinlich noch nie gehört haben. Es gibt Handschriften, alte und gute Handschriften des Matthäusevangeliums, in denen dieser Mann als „Jesus Barabbas“ bezeichnet wird. Er hat also denselben Namen wie Christus: Jesus Barabbas und Jesus von Nazareth. Die beiden standen also jetzt zur Freigabe bereit. Diese Tatsache, dass Barabbas den Vornamen „Jesus“ hatte, ist glaubwürdig, denn sie steht in den besten Zeugen der Handschriften, die wir haben, z.B. im „Codex Syro-Sinaiticus“.

Barabbas war als Schwerverbrecher, als Räuber und Mörder eingeliefert worden. Aber er war nicht ein gewöhnlicher Straßenräuber, sondern ein Anhänger der jüdischen Freiheitspartei. Mit anderen Genossen hatte er römische Soldaten angegriffen, es hatte Tote und Verwundete gegeben, ein Aufstand war ausgebrochen, aber er war niedergeschlagen worden; nur die Erinnerung daran war noch frisch. Nach unserem Sprachgebrauch war er ein Revolutionär. Er wollte die römische Herrschaft abwerfen, das Joch der Besatzung. Barabbas wollte die Rolle übernehmen, die früher Aufständische in Israel übernommen hatten: Judas Makkabäus, der sich gegen die griechische Herrschaft, gegen das griechische Joch gewehrt hatte. Pilatus versuchte, den Ausgang der Sache zu verwirren, indem er einen Gefangenen aussuchte, der unter der gleichen Anklage stand wie Jesus; beide waren revolutionärer Umtriebe beschuldigt worden. Barabbas berief sich auf nationale Notstände, nationale Missstände; Christus berief sich auf das Gewissen. Barabbas wollte Fesseln sprengen und ignorierte die Sitten; Jesus wollte die Sünde besiegen, die Menschen von der Sünde befreien, und danach würden sich die Fesseln von selbst lösen. „Welchen soll ich euch freigeben: den Jesus Barabbas oder den Jesus, der Christus genannt wird?“, so lautete die Frage des Pilatus. Die Menschen, an die diese Frage gerichtet war, das Volk von Jerusalem, wollten Jesus an sich nicht töten. Aber die Oberpriester und die Ältesten wiegelten das Volk auf, „versetzten es in Wut“, wie Markus schreibt, und brachten es gegen Jesus auf; sie führten einen Umschwung in der Volksmeinung herbei. Die Massen sind stets für Schlagworte und Demagogie zugänglich. Es finden sich immer Menschen, die gewissenlos und liederlich genug sind, sich zu irgendetwas überreden zu lassen. Das Volk kann immer durch falsche Führer irregeführt werden. Die einen schreien am Sonntag „Hosanna“, und dieselben schreien am Freitag „Kreuzige!“. Deshalb beredeten die Oberpriester das Volk mit Erfolg, den Barabbas freizulassen. Pilatus hatte sich verrechnet. Er hatte übersehen, dass Barabbas ein populärer Mann war. Die Massen stellen keine hohen moralischen Anforderungen an ihre Helden.

Hierin liegt die große Gefahr der Demokratie. Denn was hier geschah, kommt immer wieder in der Geschichte vor. Immer besteht die Gefahr, dass die Menschen zur Masse herabsinken. Was ist der Unterschied zwischen Menschen und Masse? Menschen sind Personen, die ihre eigene Entscheidung fällen, die ein Gewissen haben und die der Stimme des Gewissens folgen. Masse hat keine moralischen Grundsätze. Die Masse lässt sich nicht vom Gewissen, sondern von außen her leiten und ist deswegen psychologisch immer für die Sklaverei vorbereitet. Am Karfreitag erlagen die Menschen dem Einfluss der Propaganda und wurden zur Masse. Wenn eine Demokratie ihre moralischen Empfindungen verliert, dann wird sie zur Tyrannei. Ich habe in den vergangenen Jahrzehnten gelegentlich Vorträge vor Studenten gehalten über die Zeit des Nationalsozialismus – ich habe sie ja hautnah miterlebt. Im Anschluss daran wurde ich gewöhnlich gefragt: „Können Sie sich vorstellen, dass sich eine solche Entwicklung wiederholen könnte?“ Ich habe geantwortet: „Ich halte das für möglich. Lassen Sie einmal große Teile des Volkes lange Zeit in Arbeitslosigkeit, Hunger und Elend darben; lassen Sie einmal eine Regierung unfähig sein, das Elend zu beenden. Dann werden die Massen dem Führer folgen, der verspricht, die Not zu wenden.“ Ich bin sogar der Meinung, dass das heute noch wahrscheinlicher ist als 1933. Warum? Weil unser heutiges Volk viel mehr religiös und sittlich ausgelaugt ist als die Menschen von 1933. Sie können noch viel weniger und mögen noch viel weniger ertragen als die Menschen von damals. Vor Akten der Verzweiflung schützen keine Verfassung und kein Verfassungsgericht.

Als Pilatus fragte: „Wen soll ich euch freigeben?“, war dies keine echte Wahl. Er nahm an, eine Abstimmung bedeutet das Recht, zwischen Schuld und Unschuld, zwischen gut und böse, zwischen Recht und Unrecht zu wählen – das ist falsch. Die wahre Demokratie wählt nicht zwischen Schuld und Unschuld, denn sowohl Pilatus als auch Herodes hatten die Unschuld des Herrn bereits festgestellt. Eine gerechte und dauerhafte Staatsform setzt voraus, dass es etwas Absolutes gibt, worüber nicht abgestimmt wird und nicht abgestimmt werden kann. Es gibt Wahrheiten, die nicht der Abstimmung unterliegen, die nicht in Zweifel gezogen werden können. Ist das, meine lieben Freunde, ist das unter der Herrschaft des Mehrheitsprinzips möglich? Kann nicht die Mehrheit von heute die Minderheit von morgen sein, und die Minderheit von heute die Mehrheit von morgen? Der große jüdische Rechtsdenker Hans Kelsen hat die Behauptung aufgestellt, die Demokratie sei wesentlich dem Relativismus verpflichtet, d.h. was heute als wahr gilt, kann morgen als falsch angesehen werden. Hat er Unrecht? Demokratie behauptet, die Rechte des Menschen zu schützen – sie tut das ja auch bis einem gewissen Grade –, aber sie schützt nicht die Rechte Gottes: sein Recht auf Achtung, Ehrfurcht und Anbetung, sein Recht auf Schutz vor Verleumdung, Verspottung und Verunglimpfung. Sie schützt nur Menschenrechte, aber sie schützt nicht Gottesrechte. Es steht zu fürchten, dass dort, wo die Gottesrechte missachtet werden, auch bald die Menschenrechte den Bach hinuntergehen.

Das Volk von Jerusalem hatte die Wahl zwischen einem Aufrührer und einem angesehenen Propheten, aber die Menge rief auf die Frage des Pilatus: „Gib uns Barabbas frei!“ Es kann sein, dass Pilatus höchst überrascht war; auch Barabbas hat wahrscheinlich seinen Ohren nicht getraut. Sollte er die Freiheit wiedererlangen? Zum ersten Mal durfte er hoffen, seine Aufrührertätigkeit fortzusetzen. Es ist denkbar – ich weiß es nicht, es steht auch nicht in der Schrift, aber es ist denkbar –, dass Barabbas und Jesus neben der Tribüne des Pilatus standen, sodass sie einander in die Augen schauen konnten. Aber das Volk schrie: „Hinweg mit diesem! Gib uns Barabbas frei!“ „Was soll ich denn mit dem tun, den ihr den König der Juden nennt?“ „Kreuzige ihn! Kreuzige ihn!“ Und Pilatus gab nach. Er entschied, dass ihrem Verlangen stattgegeben werde. Er gab den wegen Aufruhr in den Kerker Geworfenen, den sie verlangten, frei; Jesus aber überließ er ihrem Willen.

Das Mehrheitsprinzip, meine lieben Freunde, mag in gewissem Umfang seine Berechtigung haben, aber Mehrheit hat nicht immer Recht; sie kann in relativen Dingen, aber nicht in absoluten Dingen entscheiden. In Fragen der Religion und Sittlichkeit Mehrheitsentscheidungen herbeiführen, heißt Religion und Sittlichkeit dem Belieben der Masse ausliefern. Die Deutsche Bischofskonferenz hat sich mit ⅔ Mehrheit für die falsche Ehelehre der Kardinäle Kasper und Marx ausgesprochen. Ein unerhörter, ein noch nie vorgekommener Vorgang! Die Herren wissen nicht mehr, was Lehre der Kirche ist, oder sie wollen es nicht mehr wissen! Eine wahrhaft gespenstische Situation. Unsere deutschen Dichter sind skeptisch gegenüber Mehrheiten. Goethe hat einmal geschrieben: „Nichts ist widerwärtiger als die Mehrheit; denn sie besteht aus wenigen kräftigen Vorgängern, aus Schelmen, die sich anpassen, aus Schwachen, die sich angleichen, und der Masse, die nachtrollt, ohne im mindesten zu wissen, was sie will.“ Schiller schreibt im Demetrius: „Was ist Mehrheit? Mehrheit ist Unsinn, Verstand ist stets bei wenigen nur gewesen. Man soll die Stimmen wägen und nicht zählen. Der Staat muss untergehen, früh oder spät, wo Mehrheit siegt und Unverstand entscheidet.“ Worte unseres großen Dichters Friedrich Schiller. Die Wahrheit siegt nicht, wenn Zahlen gegen Zahlen stehen. Zahlen können höchstens über eine Schönheitskönigin entscheiden, aber nicht über die Gerechtigkeit. Recht bleibt Recht, auch wenn niemand dafür ist; und Unrecht bleibt Unrecht, auch wenn niemand es wahrhaben will. Der erste Wahlgang in der Geschichte des Christentums war unrecht.

Wir wissen nicht, was Barabbas gedacht hat, als er durch die Amnestie freikam. Wir können versuchen, uns vorzustellen, wie es in ihm ausgesehen haben mag. Wahrscheinlich war er sprachlos über eine Gunst, die seine kühnsten Hoffnungen übertraf. Er hatte für die politische Freiheit gekämpft, die Verräter gebrandmarkt, Einrichtungen der Römer sabotiert, eine Organisation von Patrioten begründet und durch seine Einkerkerung Ansehen gewonnen. Doch das alles war nichts gegenüber dem ohrenbetäubenden Geschrei, das jetzt an sein Ohr klang und das ihn als nationales Vorbild und Helden feierte. Er war kein Geächteter mehr, sondern ein freier Mann. Barabbas war frei, und zwar in mehrfacher Hinsicht: Er war frei von der Furcht; er hatte kein römisches Gefängnis mehr zu fürchten. Er war frei von der Not; er brauchte nicht mehr bei trockenem Brot und Wasser zu fasten. Er hatte Freiheit der Rede; er konnte wieder für die Revolution sprechen. Er hatte Freiheit der Religion; es stand ihm frei, gegen die Religion aufzustehen. Freiheit bedeutete für ihn Freiheit von etwas, aber es war eine leere Freiheit. Er musste feststellen, dass niemand, nach der Abstimmung, ihm folgte. Es war die merkwürdigste Abstimmung der Weltgeschichte. Für den Sieger Barabbas wurde kein Fackelzug veranstaltet, man hob ihn nicht auf die Schultern, die Menge folgte ihm nicht mit „Hochrufen“, sondern sie folgte einem anderen, einem anderen, der auf einen Hügel namens Golgotha geführt wurde. Und es steht zu vermuten – obwohl wir das nicht wissen –, dass Barabbas sich der Menge anschloss; er wollte doch auch sehen, wie die Sache ausgeht mit dem Jesus von Nazareth. Er sah, dass zwei seiner Mitgefangenen auch zur Hinrichtung geführt wurden. Sie hatten nicht das Glück gehabt, zur Wahl gestellt zu werden: Dismas zur Rechten, Gestas zur Linken Jesu am Kreuze. Er hörte Gestas zur Linken fluchen und schimpfen und flehen, heruntergenommen zu werden, aber er hörte auch Dismas zur Rechten Christi bitten, hinaufgenommen zu werden: „Gedenke meiner, wenn du in dein Reich kommst!“ Und er vernahm, dass dieser Bitte das göttliche Versprechen folgte: „Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein.“ Was für eine Freiheit war das, die Dismas zu befriedigen schien. Er war ans Kreuz genagelt, und doch ein Freier, denn der in der Mitte, der war der Schenker der Freiheit. Da erkannte vielleicht Barabbas, dass wahre Freiheit nicht die Freiheit von etwas ist, sondern die Freiheit zu etwas. Was nützt die Freiheit von der Furcht, wenn wir niemanden haben, den wir lieben. Was nützt die Freiheit von der Not, wenn es keine Gerechtigkeit gibt, der wir dienen können. Was nützt die Freiheit der Rede, wenn es keine Wahrheit gibt, die wir zu verkündigen haben. Was nützt die Religionsfreiheit, wenn es keinen Gott gibt, den wir anbeten. Barabbas hat vielleicht verstanden, dass ans Kreuz geheftete Liebe frei ist. Und das sollte man allen Revolutionären sagen: Revolutionäre, folgt nicht dem revolutionären Barabbas, der die Gesellschaft umformen will, um die Menschen zu ändern. Sondern folgt dem Revolutionär, der die Menschen ändern will, um die Gesellschaft umzuändern. Das Wichtigste ist nicht, die Welt zu verbessern, sondern die Menschen zu bessern. Die Revolutionäre erwarten zu viel von der Politik und zu wenig von der Religion. Man kann den Revolutionären sagen: Ja, glaubt an die Gewalt, aber nicht an die Gewalt, die das Schwert zieht gegen einen Nachbarn, gegen eine Klasse, gegen eine Rasse oder gegen eine Farbe. Sondern zückt das Schwert gegen euch selbst, gegen die Wollust, gegen den Neid, gegen den Hass in Euch. Seid nicht gewalttätig gegen Eure Mitmenschen, sondern gegen die Selbstsucht. Denn das Himmelreich leidet Gewalt, und die Gewalttäter reißen es an sich. Alle, die in einem freien Lande leben und leichtsinnig über die Freiheit daherreden, mögen wahr haben, dass die wahre Freiheit, die einzig wahre Freiheit, die Freiheit ist, ein Heiliger zu werden.

Amen.     

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