Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
16. August 2009

Wenn der Mensch gebunden ist in der Seele

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Alles Sichtbare ist ein Gleichnis unsichtbarer Dinge. Alles Geschaffene ist eine Offenbarung des Schöpfers. Alle äußeren Dinge und Ereignisse sind ein Wellenschlag aus dem gewaltigen Wogenmeer im Inneren der Seele. So waren auch die Wunder Jesu nicht bloß Hilfeleistungen in körperlichen Leiden, nein, in ihnen brach sich das Reich Gottes Bahn. „Wenn ich mit dem Finger Gottes die Dämonen austreibe, dann ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen.“ So sagt einmal der Herr. Er konnte das leibliche Brot vermehren, weil er das Brot vom Himmel war. Er konnte den Blinden heilen, weil er das Licht der Welt war.

Wir haben soeben im Evangelium gehört, wie er einen Taubstummen geheilt hat mit dem gewaltigen Befehl „Epheta!“ – Tu dich auf! Das ist ein geheimnisvolles, ein hinreißendes Wort. Das ist zum Losungswort der Kirche geworden, das bei der Taufe gesprochen wird und das im Beichtstuhl seine wunderbare Kraft entfaltet. Tu dich auf!

Das Wort war gerichtet an ein übermächtiges Leidensschicksal. Was ist das ein schreckliches Geschick, taub und stumm zu sein, nicht hören zu können und nicht reden zu dürfen! Der Taubstumme war in einem doppelten Sinne geschlagen. Er war taub für den Klang der Wellen, die durch die Welt gehen, für das Raunen und Rauschen, für das Dröhnen und Tönen. Er war stumm. Seine Zunge war gebunden; er konnte nicht reden. Es kam in ihn nichts herein, und es kam auch nichts aus ihm heraus. Aber als Jesus ihn berührte, da wurde sein Gehör aufgetan, und da wurde seine Zunge gelöst. Das Leid der gebundenen Sinne war von ihm genommen.

Dieses Leid der körperlichen Bindung ist schlimm. Aber noch viel schlimmer ist die Bindung der Seele. Viel schlimmer als das Leid der gebundenen Sinne ist das Leid der gebundenen Seele. Wieso und warum? Nun, meine Freunde, das Glück, die Gesundheit, die Kraft und die Seligkeit unseres Lebens besteht ja darin, dass wir aufnahmefähig sind, aufnahmefähig für das Wirkliche, für die Wirklichkeit, die uns umgibt, für die Welt. in der wir stehen, und für den Gott, an den wir glauben. Unsere Sinne nehmen die irdische Wirklichkeit wahr, die körperliche Wirklichkeit, in der wir leben. Aber das ist nur ein kleiner Bereich. Wir haben ihn erweitert, diesen Bereich. Was das Gehör bisher nicht vernahm, das wird durch den Ultraschall uns geoffenbart, und was wir mit den Sinnen, mit den Augen nicht erschauen konnten, das offenbart uns das Röntgenbild. Und dennoch bleibt all unser Hören und Sehen weit hinter dem zurück, was in der Wirklichkeit existiert und geschieht. Wir vermögen nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit mit unseren Sinnen zu ergreifen. Von unendlich größerer Bedeutung ist das, was wir mit dem Geiste erfassen, unser Erkennen. Wir vermögen die geschaffene Welt und die ungeschaffene Welt Gottes mit unserem Geiste zu erkennen. Die Natur, die Menschenwelt, die Ereignisse der Menschenwelt, die Menschenwerke, das Leid und das Glück, den Tod und das Leben, die Kirche und ihre Hierarchie, die großen Ereignisse der Weltgeschichte und des Völkerlebens, das alles wird uns zugänglich durch unser Erkennen, ein ungeheures Meer von Wirklichkeit, das wir ergreifen können. Und der Mensch, der wirklich frei ist, der ungebunden ist, der nimmt das alles im Laufe seines Lebens wirklich auf. Er nimmt teil an der Raumfahrt, er begreift, was ein Schiffsunglück ist, er versteht, was es bedeutet, wenn große Firmen Tausende von Männern und Frauen entlassen. Er freut sich, und er weint, er frohlockt, und er trauert mit der Wirklichkeit. Unter dem Ansturm der Wirklichkeit bebt es in ihm. Es kann uns nicht gleichgültig sein, meine lieben Freunde, wenn wir am vergangenen Mittwoch in der Presse gelesen haben: Vor 20 Jahren war Guatemala zu 100 Prozent katholisch, heute sind es noch 40 Prozent. 60 Prozent sind abgewandert zum Protestantismus! Das kann uns nicht gleichgültig sein!

Ein Mensch, dem all das gleichgültig ist, ein Mensch, der davon nichts merkt, ist ein gebundener Mensch. Ein Mensch, der die Schicksalsschläge der Uhren Gottes nicht vernimmt, ein solcher Mensch, der die Brandung nicht merkt, mit der die ewigen Dinge an unsere Zeitlichkeit schlagen, ein Mensch, der nichts von dem Mahnen und Werben Gottes spürt, das ist ein zugemauerter, ein gebundener Mensch, ein verriegelter Mensch. Das Einströmen der Wirklichkeit in unsere Sinne und in unsere Seele soll ja ein Echo finden. Wir sollen antworten auf das, was wir hören, was wir sehen, was wir aufnehmen. Wir sollen eine Antwort finden. Die naturhafte Wirklichkeit und die Schöpfung und die göttliche Wirklichkeit, die soll etwas in uns hervorbringen. Wir sollen etwas schaffen, etwas leisten, etwas gestalten. Die Welt ist uns aufgegeben. Wir sind für unser Tun verantwortlich zu unserem Teil. Und vor allem die übernatürliche Welt, die Welt Gottes, die Welt der göttlichen Offenbarung, die soll eine Antwort in uns finden. „Was willst du, o Gott, dass ich tun soll? Rede, Herr, dein Diener hört! Siehe, da bin ich!“ Das soll die Antwort sein, die wir auf Gottes Wellen, die an unsere Seele schlagen, finden.

Ein Mensch, der zu einer solchen Antwort nicht fähig ist, ist ein gebundener Mensch. Die Zunge seines Geistes ist nicht gelöst. Ein Mensch, der niemals freudig und staunend oder bereitwillig in Bewegung gerät, der niemals eine Stunde eines großen und begeisterten und starken Wollens erlebt, ein Mensch, der auf alle Einwirkungen Gottes hin träge bleibt und bewegungslos, der sich dem Führen und Rühren Gottes widersetzt, ein solcher Mensch ist ein gebundener Mensch, ein tauber, ein stummer Mensch, dem alles egal ist mit Ausnahme seines eigenen Wohlergehens.

Wie kommt es, dass ein Mensch so gebunden sein kann? Es gibt drei Ursachen, drei mögliche Ursachen für diese Gebundenheit. Zumeist ist es die Einseitigkeit und Oberflächlichkeit des alltäglichen Lebens. Der Mensch, der nur auf sinnliches Behagen ausgeht, auf seine augenblickliche Lust und Laune, der jeden Blick in die Weite und die Ferne sich versagt, der jeder Erschütterung des inneren Lebens aus dem Wege geht, damit er in seiner Alltäglichkeit und Bequemlichkeit nicht gestört wird. Ein solcher Mensch verliert allmählich die Fähigkeit, sich von einer großen Kraft ergreifen und mitreißen zu lassen. Das sind die Kaninchenseelen, die in der Beschaffung von Nahrung, Kleidung und Wohnung aufgehen. Ihr Lebensgrundsatz ist: Klein, aber mein.

Die zweite Ursache ist die Schuld, die Schuld, die den Menschen bindet, die ihn kleinmütig, trotzig, verzagt und müde macht. Die Schuld kann zuweilen rettend auf einen Menschen wirken, erschütternd, befreiend, zumal wenn es die erste Schuld ist in einem jungen Leben. Das ist wie ein Stoß, den Gott einem Leben versetzt. Aber meist ist es doch so, dass die Schuld den Menschen nur verzagter, gleichgültiger, haltloser, trotziger macht. Die Schuld liegt wie ein Bleigewicht auf seiner Seele. Er kann seine Schwingen nicht entfalten, er kann nicht rüstig ausschreiten. „Der Übel größtes ist die Schuld“, steht nicht umsonst bei Friedrich Schiller.

Die dritte Ursache für die Gebundenheit kann eine Leidenschaft sein, ein Leidenschaft, eine wilde, betörende, betäubende Leidenschaft, die den Menschen innerlich fesselt. Ein hemmungsloses Begehren, ein wahnwitziger Haß, eine bittere und verbitternde Vergiftung der Seele, eine vergiftende Bitterkeit. Diese Leidenschaft nimmt die Seele so in Anspruch, dass sie für irgendwelche große und schöne Bewegungen keinen Raum mehr hat und keine Kraft mehr. Der Mensch mag dann nichts anderes mehr hören und sehen und begehren als das, was seiner Leidenschaft dient. Er ist verschlossen für alle Wirklichkeiten, die seine Leidenschaften nicht nähren.

Kann ein Mensch, meine Freunde, aus solcher Gebundenheit befreit werden? Wohl niemals aus eigener Kraft. Er nimmt nicht den Anlauf, der nötig wäre, und Erzieher, Freunde, Priester, Berater vermögen nicht in die Tiefe der Seele hinabzugreifen, um ihn zu befreien. Es bedarf nämlich zu einer Befreiung eines Hineinlangens in die untersten Tiefen der Seele, eines schöpferischen Anrufes, eines belebenden Geisteshauches, und das ist Menschen in der Regel nicht möglich. Aber es ist Gott möglich und den Werkzeugen, die Gott sich auserwählt, die gleichsam die Finger Gottes sind. Denen ist es möglich. Gott kann Dinge, Geschehnisse auch äußerer Art gebrauchen, um einen Menschen zu heilen. Eine Krankheit, ein Tod, eine Träne, ein Verlust, eine Wiege, ein Grab, alles, was dem gebundenen Menschen nahe kommt, kann von Gott mit so gewaltiger Kraft auf ihn geschleudert werden, dass es seinen Eispanzer durchdringt. Eine Erschütterung kann von Gott bewirkt werden, die das ganze bisherige Leben zum Einsturz bringt, die eine Unruhe, einen Schrecken, aber auch eine Freude im Menschen erweckt, wie sie ihm bisher unbekannt geblieben waren. Ein solcher Mensch ist dann hineingeworfen in einen tosenden See, aber gerade die Erschütterung macht ihn frei. In der Erschütterung wirft er seine Fesseln ab.

Wenn wir, die wir hier sind, so etwas nicht erlebt haben, dann gibt es dafür zwei Erklärungen. Entweder wir sind noch so gebunden, dass Gott uns gar nicht in Angriff genommen hat, oder wir sind schon so frei, dass Gott durch uns ohne jede Behinderung hindurchgehen kann. Es kann sein, dass ein Mensch Jahre und Jahrzehnte in seiner Oberflächlichkeit, in seiner Erstarrung, in seiner Trägheit, in seiner Stumpfheit verharrt und sich dieses furchtbaren Zustandes nicht einmal bewußt wird. Gott ist immer noch an ihm vorübergegangen. Er wartet noch Jahre, lange, viele Jahre. Aber einmal kommt die Stunde, und es kann die letzte Stunde sein wie bei dem Schächer am Kreuze, in der Gott in die Friedhofsruhe dieser Seele hineinschlägt, und plötzlich alles in ihr in Aufruhr kommt. Zuweilen ist es nur ein Augenblick, der in einem solchen Menschen blitzschnell neue Erkenntnisse aufreißt, den Blick in neue Höhen und Tiefen freigibt und einen solchen Stoß gegen seine bisherigen Gewohnheiten führt, dass er geradezu gezwungen ist, auf die Knie zu fallen und zu sprechen: „Gott, mein Gott, sei mir gnädig!“ Es gibt aber auch Menschen, deren Seelenfestung Gott gleichsam jahrelang belagert, wo Gott wartet und wartet und immer neue Ansätze macht, bis die Menschen ihm die Tore öffnen. Wenn sich der Mensch aber nicht endlich ergibt, dann geht sein Zustand in die Erstarrung über, aus der es keine Befreiung mehr gibt. Dann zieht sich Gott zurück, und der Mensch bleibt in der Bindung.

Ganz frei, ganz ungebunden, ganz beweglich, ja biegsam für Gott sind wir alle nicht. Darum müssen wir aus großer Sorge flehen und immer wieder flehen: „Herr, gehe nicht an mir vorüber, bis ich aufgemerkt habe! Höre nicht auf zu pochen an meine Tür, zu schlagen und zu stoßen, bis ich dir aufgemacht habe.“

Amen.

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