Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
5. Juli 2009

Dem Nächsten von Herzen verzeihen

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Das Thema des heutigen Evangeliums ist Verzeihung. Verzeihung bezeichnet den Entschluß bzw. die Handlung, erlittenes Unrecht dem Täter nicht anzulasten, nicht nachzutragen. Wer das Menschenherz kennt, weiß, wie schwer es dem Menschen wird, von Herzen zu verzeihen. Gerade an dieser Forderung stößt das menschliche Herz mit dem Gesetz Gottes zusammen. Hier ist der Geist des Herrn entgegengesetzt dem Geiste der Welt. Tausenderlei Ausreden und Entschuldigungsgrüne erfinden die Menschen, erfinden wir Menschen, um nicht verzeihen zu müssen, um das Gebot zu umgehen. Vergeben erscheint manchen als Schwäche; sie wollen nicht als schwache Menschen dastehen. Andere sagen: Ja, man möchte schon gern verzeihen, aber schuld ist doch der andere, und deshalb muss er den ersten Schritt tun. Wieder ein anderer sagt: Ach, der Streit ist schon so lange her, da ist alles so tief eingefressen, da kann man doch nichts machen. Wieder ein anderer: Es fruchtet ja nichts. Wir werden über kurz oder lang wieder in Streit miteinander geraten. Wir werden, auch wenn wir uns heute vertragen, morgen wieder eine Auseinandersetzung haben. Und ein anderer wieder sagt: Ich will ja dem anderen nichts Böses, aber ich will mich von ihm distanzieren, ich will mit ihm nichts zu tun haben. Eine kühle Distanzierung, das scheint mit das Beste zu sein.

Was hat doch das selbstsüchtige menschliche Herz für Ausreden, wenn es um das Gebot des Herrn geht! Was für schlechte Gründe für eine schlimme Sache! Der Heiland läßt alle diese Gründe nicht gelten. Wir haben eben gehört, wie streng er das Zürnen geahndet wissen will mit menschlichem, ja mit dem göttlichen Gericht. Die drei genannten Gerichte, von denen der Herr hier spricht, dienen lediglich der Veranschaulichung der verschieden großen Schuld, der drei angeführten Arten des Zornes. Jesus nennt Einrichtungen der Justiz, um seinem rein religiösen Gedanken Ausdruck zu verschaffen. Das alttestamentliche Gesetz verbot und strafte nur die äußere Tat, den vollendeten Mord. Jesus stellt als neuer Gesetzgeber sein Gebot dagegen: Schon wer dem Bruder zürnt, verdient die Strafe, die nach dem bisherigen Gesetz auf Mord steht. Darin liegt die gewaltige Steigerung und Verschärfung, die das neue Gebot Jesu gegenüber dem alttestamentlichen Gesetz bedeutet. Die Strafe, die das Alte Testament auf den vollendeten Mord setzt, wird auf die Gesinnung des Zornes gesetzt. Das Prinzip, das der Herr uns lehrt, ist dieses: Für die sittliche Beurteilung einer Tat ist die Gesinnung maßgebend, und deswegen wiegt der Zorn, der schließlich zur bösen Tat, u. U. auch zum Mord, führt, schon so schwer wie der Mord.

Von ganzem Herzen müssen wir dem Beleidiger verzeihen. In keiner Sache betrügt und belügt sich der Mensch mehr als in dieser. Aber der Herr hat uns eindeutige Weisungen hinterlassen. In der Bergpredigt heißt es: „Wenn ihr den Menschen ihre Sünden verzeiht, dann wird auch euer himmlischer Vater euch eure Sünden vergeben.“ Wenn ihr aber den Menschen nicht verzeiht, dann wird auch euer himmlischer Vater euch eure Sünden nicht vergeben. Was heißt das? Göttliches Vergeben und menschliches Verzeihen sind miteinander verbunden. Man kann nicht von Gott Vergebung erwarten, wenn man selbst nicht bereit ist zu verzeihen. Wir vertrösten uns gern mit der göttlichen Barmherzigkeit, und sie ist ja auch unsere einzige Hoffnung im Gerichte. Denn wir wissen um unsere unzähligen Sünden, Fehler und Nachlässigkeiten. Aber dieses Vertrauen auf die göttliche Barmherzigkeit darf nicht die Schranke übersehen, die Schranke, die Gott seiner Barmherzigkeit gesetzt hat. Und diese Schranke heißt: Wenn ihr den Menschen ihre Schulden nicht verzeiht, wird auch euer himmlischer Vater euch eure Sünden nicht vergeben. Das Wort ist klar und bestimmt, und man kann nicht daran rütteln. Die Reue der Maria Magdalena, das Flehen des Schächers, der Reueschmerz des Petrus und der Eifer des Paulus würde ihnen nichts genutzt haben, wenn sie auch nur gegen einen einzigen ihrer Brüder und Schwestern Zorn und Unversöhnlichkeit bewiesen hätten. Erst muss man sich versöhnen, dann kann man zu Gott kommen, um zu opfern. All unser Kirchengehen, all unser Beten, all unser Beichten, all unser Kommunizieren ist nichts vor Gott, wenn wir nicht den Geist wahrer christlicher Güte, den Geist des Erbarmens und des Verzeihens gegen unsere Mitmenschen in uns tragen.

Wir haben eben im Evangelium gehört: „Wenn du deine Gabe hinbringst zum Opferaltar und dich erinnerst, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, dann laß die Gabe zunächst einmal liegen und geh zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder. Dann komm und opfere deine Gabe.“ Der Grundgedanke dieser Worte ist nicht der, dass die Pflicht der Versöhnung des Bruders wichtiger ist als der Gottesdienst, sondern dass Gott ohne vorausgegangene Versöhnung kein Opfer annimmt, ich wiederhole: dass Gott ohne vorausgegangene Versöhnung kein Opfer annimmt. Gott nimmt von dem Menschen kein Opfer an, wenn dieser mit dem Mitmenschen im Unfrieden lebt. Es handelt sich hier um zwei Personen. Die eine hat sich schuldig gemacht gegen die andere, und die schuldige Person will jetzt ein Opfer darbringen. Aber zuvor muss sie die Versöhnung setzen. Der Zürnende, der ein Unrecht erfahren hat, ist also nicht der Opfernde, sondern der Opfernde ist vielmehr schuld daran, dass sein Bruder etwas gegen ihn hat. Der Opfernde hat sich gegen seinen Bruder verfehlt, deswegen muss diese Verfehlung eingestanden und aus der Welt geschafft werden. Das geschieht in der Verzeihung.

„Selig die Friedfertigen!“ So steht auch im Evangelium, und Friedfertigkeit zeigt sich eben in der Versöhnungsbereitschaft. Friedfertigkeit zeigt sich im Verzeihen. Aus dem Leben des heiligen Franz von Assisi wird eine denkwürdige Begebenheit berichtet. Es war im Jahre 1226, als er schon todkrank war. Da ließ er sich von seinen Brüdern nach Assisi tragen und hörte, dass der Bischof mit dem Bürgermeister im Streit liege. Er betete und sann darauf, wie er die beiden versöhnen könne. Und so dichtete er zu seinem „Sonnengesang“ eine letzte Strophe. Sie lautete: „Sei gelobt, mein Herr, durch jene, die verzeihen aus Liebe zu dir. Selig sind sie, die da dulden im Frieden, weil sie von dir, o Höchster, die Krone empfangen.“ Dann ließ er den Bürgermeister und den Bischof kommen, und seine Brüder sangen den beiden diese Strophe vor. „Sei gelobt, mein Herr, durch jene, die verzeihen aus Liebe zu dir. Selig sind sie, die da dulden im Frieden, weil sie von dir, o Höchster, die Krone empfangen.“ Da konnte der Bürgermeister nicht an sich halten. Er warf sich vor dem Bischof nieder und sprach: „Aus Liebe zu unserem Herrn Jesus Christus und zu seinem Diener Franz bitte ich dich: Verzeih mir, und ich vergebe von ganzem Herzen.“ Und der Bischof nahm ihn auf und sagte: „Ich bitte als Bischof kraft meines Amtes um Verzeihung. Ich weiß, dass ich zum Stolze neige. Habe Mitleid mit mir!“ Das war echte Verzeihung zweier Männer des öffentlichen Lebens. Das ist keine Schwäche, sondern es ist eine unglaubliche Stärke, weil man sich dabei selbst überwindet. Wenn mehr Verzeihung, wenn mehr Einräumung der Schuld in unseren Ehen und Familien wäre, dann sähe es dort anders aus.

Es gibt bestimmte Regeln für das Verzeihen. Am besten ist natürlich, am macht sich gar nicht erst schuldig, man überwindet den Zorn, der in einem aufkommen möchte. Es lohnt sich nicht, meine lieben Freunde, sich wegen geringfügiger Dinge zu erregen, wild gegen den anderen zu werden, loszugehen, ihn mit Vorwürfen zu überhäufen, ihn durch Schimpfworte zu erbittern. Nein, die Neigung zum Zorn muss man überwinden; ruhig, bleiben, die Aufwallung des Herzens unterdrücken. Der Zorn schafft nicht Gutes. Wir haben es noch jedesmal bereut, wenn wir zornig gewesen sind. Warum also zornig werden? Warum das tun, was wir doch bereuen müssen? Leider kommt es trotz guter Vorsätze immer wieder zum Zorn. Dann gilt das Wort des heiligen Paulus: „Zürnt ihr, so laßt es nicht zur Sünde kommen! Die Sonne gehe nicht unter über eurem Zorne!“ Das heißt: Bevor der Tag zu Ende geht, soll man Frieden machen, nicht mit Groll und mit Bitterkeit in die Nacht hineingehen, nicht den Streit fortsetzen, sich fortsetzen lassen zur Bitterkeit, zur Ablehnung, zur Entfremdung. Das Verzeihen wird nicht leichter, wenn man es aufschiebt.

Von dem Bischof von Alexandrien. Johannes dem Almosengeber, wird berichtet, dass er mit dem Statthalter von Alexandrien in Streit geraten war wegen seiner Mildtätigkeit. Es wurde Abend, da kamen, vom Bischof gesandt, zwei Geistliche zum Statthalter und richteten aus: „Herr, die Sonne will untergehen.“ Der Statthalter verstand die Anspielung und versöhnte sich noch zur Stunde mit dem Bischof.

Besonders schwer fällt uns das Verzeihen, wenn es immer wieder notwendig wird. Da möchte mancher sagen: „Jetzt reicht es.“ Das hat auch Petrus gedacht. Er trat einmal zum Herrn und sprach: „Herr, wie oft muss ich meinem Bruder vergeben, wenn er wider mich sündigt, etwa sieben Mal?“ Jesus antwortete ihm: „Ich sage dir: Nicht etwa sieben Mal, sondern siebzig Mal sieben Mal“ – das heißt immer.

Wer nicht verzeiht, in dem wächst eine bittere Wurzel, man nennt sie Groll. Groll ist die nicht überwundene Rachsucht. Wer einem anderen grollt, trägt ihm etwas nach, wartet auf die Stunde der Vergeltung, will es ihm heimzahlen. Dadurch wird die Kette des Bösen nur fortgesetzt. Wenn der andere genauso denkt, will er wieder Rache für das, was ihm angetan worden ist, haben. Und so kommt das Böse nie zu einem Ende. Es kommt nur zu einem Ende, wo einer ist, der sagt: Ich vergelte nicht Böses mit Bösem, wenn einer sagt: Ich vergebe von Herzen. Da wird die Kette des Bösen zerrissen.

Die Vergebung muss bedingungslos sein. Man darf sie nicht von einer Vorleistung des anderen abhängig machen. Womöglich sieht der andere gar nicht ein, dass er schuldig geworden ist und dass er eine Vorleistung erbringen soll, und wenn er sie nicht erbringt, unterbleibt die Verzeihung. Nein, Verzeihen ohne Bedingungen zu stellen, verzeihen, ohne Vorleistungen zu fordern, das müssen wir uns zur Angewohnheit machen.

Wer nicht verzeiht, meine lieben Freunde, der vergiftet sich selbst. In ihm wächst eine giftige Wurzel, und diese Wurzel vergiftet ihn und die Beziehungen zum Nächsten. Wieso? Wer nicht verzeiht, wird unfrei. Er ist ein Gefangener seines Grolls, er ist ein Gefangener seiner Unversöhnlichkeit. Er kann nicht unbefangen mit dem anderen verkehren. Wer nicht verzeiht, wird auch freudlos, denn die Unversöhnlichkeit frißt und nagt in ihm. Er wird seelisch und manchmal auch körperlich krank. Ich bin überzeugt, dass manche Krankheiten, etwa die mit der Galle oder mit der Leber zu tun haben, vielleicht auch der Krebs, dass manche Krankheiten aus der Unversöhnlichkeit kommen. Der unversöhnliche Mensch ist ein friedloser Mensch. Er findet keine Ruhe. Wer nicht verzeiht, der schadet sich selbst am meisten. Für ganz gefährlich und äußerst schädlich halte ich das trotzige Schweigen gegenüber einem anderen, der einem angeblich oder wirklich Unrecht getan hat. Man nennt das Schmollen. Mit der Verweigerung des Sprechens will man dem anderen zeigen, wie betroffen man ist, wie unrecht er hat. Das Verstummen gegenüber einem Hausgenossen oder einem Arbeitskollegen entfremdet die Menschen voneinander, denn das Sprechen verbindet sie. Das Verstummen, das trotzige Verstummen entfernt sie. Wenn sie aus Beleidigtsein das Reden unterlassen, trennen sich die Menschen voneinander, vertiefen sie den Spalt, der durch einen Wortwechsel, eine unbedachte Handlung, einen Streit entstanden ist. Deswegen: Nicht verstummen, weil einem Unrecht widerfahren ist, weil man meint, ein Recht zu haben, beleidigt zu sein.

Unser unvergeßlicher Erzbischof von Breslau, Kardinal Bertram, hat ein schönes Buch geschrieben: „Charismen priesterlicher Gesinnung“. Darin hat er uns dargestellt, wie wir sein sollen als Priester. Und da kommt er auch darauf zu sprechen, dass Priester oft auch angegriffen, verleumdet, hintergangen werden. Und was rät er uns? Er rät uns, sich gegenüber dem Beleidiger so verhalten, als ob nichts gewesen wäre. Sich gegenüber dem Beleidiger so verhalten, als ob nichts gewesen wäre. Ihm unbefangen, freundlich, höflich, hilfsbereit gegenübertreten. Ich glaube, einen besseren Rat kann man nicht geben. Wer sich durchringt zum bedingungslosen Verzeihen, wird frei von Komplexen, von Befangenheit, von Ansprüchen an den anderen. Die Empfindlichkeit, die Ehrsucht spricht: Das kann ich nicht hinnehmen. Der Heiland sagt: Du kannst, wenn du willst. Du kannst, weil du mußt!

Vor einigen Jahren, es ist schon eine Reihe von Jahren her, lebte eine Arbeiterfamilie in einer kleinen Wohnung. Schimpfnamen, ja Mißhandlungen von seiten des Mannes waren das tägliche Brot der Frau. Eines Abends machte der Mann wieder eine Szene und schickte sich an, unter Drohungen die Wohnung zu verlassen. Auf der Stiege kehrte er um und beobachtete durch die ein wenig geöffnete Tür, wie die Frau das Kind zu Bett brachte, vorher ihm die Hände faltete und sprach: „Jetzt beten wir noch ein Vaterunser für deinen guten Vater.“ Da stürzte der Mann mit Tränen ins Zimmer und war fortan ein anderer Mensch. Die Frau hatte durch ihr großes Verzeihen das Glück der Familie gerettet.

Amen.

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