Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
5. November 1995

Die Ordnung des menschlichen Willens

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Die Sinne des Menschen müssen ausgebildet und erzogen werden; aber auch die geistigen Kräfte bedürfen der Ausbildung und der Erziehung. Am vergangenen Sonntag haben wir uns mit der Bildung des Verstandes beschäftigt. Wir haben heute die Aufgabe, uns der Erziehung des Willens zuzuwenden. Der Wille ist an und für sich eine blinde Macht. Der Verstand ist sein Licht und muß ihm voranleuchten. Der Wille kann nur das wollen, was ihm der Verstand vorstellt; darum hat der Verstand eine Überlegenheit gegenüber dem Willen. „Nichts ist gewollt, was nicht vorher erkannt ist“, so sagt ein Axiom der christlichen Philosophie. Dieses Axiom ist richtig; wir können nur wollen, was wir als wertvoll, als gut erkannt haben. Aber der Wille hat auch wieder eine gewisse Macht über den Verstand, denn von ihm hängt es ab, ob sich der Verstand überhaupt geistig betätigt. Der Wille ist auch dafür verantwortlich, mit welchen Gegenständen sich der Verstand befaßt. Und schließlich das Traurigste von allem: Der Wille kann sich auch gegen das vom Verstand vorgestellte Gute wenden. Der Wille bleibt frei. Es war ein Irrtum einer Reihe von griechischen Philosophen, daß sie meinten, der Mensch müsse notwendig das als gut Erkannte tun. Nein, der Mensch besitzt die Freiheit, sich gegen das als gut Erkannte zur Wehr zu setzen und es beiseite zu lassen. Niemand hat diesen Sachverhalt ergreifender geschildert als der Apostel Paulus im 7. Kapitel des Briefes an die Römer: „Was ich wirke“, so schreibt er, „kenne ich nicht, tue ich doch nicht das, was ich will, das Gute, sondern ich tue das Böse, das ich hasse. Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, so stimme ich dem Gesetze bei, daß es gut ist. Dann aber bin nicht ich mehr der Täter, sondern die in mir wohnende Sünde. Ich weiß, daß in mir, das ist in meinem Fleische, nichts Gutes wohnt, denn das Wollen liegt mir nahe, aber das Vollbringen des Guten nicht.“ Hier sehen wir den Zwiespalt, der im Menschen obwaltet und den der Apostel in bitterer Selbsterfahrung beklagt.

An sich ist der Wille geneigt, das Gute, das ihm der Verstand vorstellt, zu tun. Wir brauchen nicht allzu düster über diese menschliche Grundbefindlichkeit zu denken. Je eindringlicher die Vorstellung des Wertes durch den Verstand erfolgt, um so größer ist die Chance, daß der Wille ihr folgt. Aber der Verstand ist ja selber getrübt. Durch die Erbsünde ist der Wille geschwächt und der Verstand verdunkelt. Deswegen kann es leicht zur Täuschung kommen, daß der Verstand dem Willen ein Scheingut vorstellt, das er erstreben soll, und daß er auf diese Weise den Willen in die Irre führt. Selbst das höchste Gut, Gott, zwingt nicht den Willen, ihm notwendig anzuhangen und zu ihm hinzustreben.

Dazu kommt die Empörung der sinnlichen Triebe. Wir alle wissen, daß in uns ein anderes Gesetz lebt, das dem Gesetze des Geistes widerstrebt, und diese sinnlichen Triebe machen sich den Verstand zunutze und zwingen ihn gleichsam in ihren Dienst; der Verstand stellt dann dem Willen ein Scheingut vor, das er anzustreben sich bemüht.

Wir können ohne die Gnade nicht einmal die Forderungen des natürlichen Sittengesetzes erfüllen. Der Wille muß gekräftigt, gestärkt, gefestigt werden durch die Gnade. Allein auf natürliche Kräfte bauen, wenn man den Willen zum Guten erziehen will, das reicht nicht aus. Ohne die Gnade Gottes ist der Wille nicht fähig, auch nur das, was das natürliche Sittengesetz vorschreibt, zu erreichen. So müssen also Gnade und freier Wille zusammenwirken. Wenn sie allerdings zusammenkommen, dann ist man nicht nur imstande, die Forderungen des Sittengesetzes zu erfüllen, dann ist man auch fähig, die evangelischen Räte auf sich zu nehmen, ja dann kann man zu den höchsten Stufen der Heiligkeit emporsteigen. Denken Sie, meine lieben Freunde, an unsere Heiligen, die in der Kraft der Gnade, manchmal nach einem verfehlten Lebensabschnitt, sich emporgerungen haben zur Erfüllung der Gebote und zu den höchsten Höhen der Vollkommenheit.

Im Kampf gegen das Böse und im Ringen um das Gute muß man die rechten Mittel anwenden. Ich nenne zwei: Das erste Mittel besteht darin, daß wir die Wahrheiten des Glaubens uns aneignen. Uns aneignen! Das ist mehr als sie bloß kennen. Die Wahrheiten des Glaubens sollen unser Eigentum werden. Wir sollen von ihnen überzeugt sein. Überzeugt ist man, wenn man von der Wahrheit einer Sache überführt, gleichsam bezwungen ist, wenn das, was geglaubt wird, zum innigen und innersten Besitz des Menschen geworden ist. Wenn das der Fall ist, dann werden die Wahrheiten zu einer Kraft, zu einer Kraft, die gerade dann zur Verfügung steht, wenn die Stürme in unserem Inneren toben. Dann werden die Wahrheiten des Glaubens zu Grundsätzen, die einem über die Fährnisse des Lebens hinweghelfen. Solche Grundsätze müssen wir uns aneignen. Die Wahrheiten des Glaubens müssen zu Maximen, zu Grundprinzipien unseres Handelns werden. Ich nenne als Grundsatz beispielsweise den: „Die Sünde betrügt immer.“ Man muß fest davon überzeugt sein, daß es metaphysisch unmöglich ist, daß die Sünde einen wirklichen Wert zu schaffen imstande ist. Die Sünde kann nichts Gutes schaffen; es ist von der Weltordnung her unmöglich. Oder ein anderes Prinzip: „Die Sünde drängt nach Wiederholung.“ Es ist nicht damit getan, daß man sich einmal mit der Sünde scheinbar eine gewisse Entlastung schafft, weil eben der Trieb gedrängt hat. Nein, die Sünde drängt nach Wiederholung und auch Verschärfung, sie fordert immer stärkere Dosen. Auch ein weiteres Prinzip muß man sich vor Augen führen, nämlich „Usu crescit – numquam satiatur“. Der Trieb wird durch den Gebrauch stärker, er wird niemals gesättigt. Es ist nicht wahr, daß man darin eine Befriedigung finden könnte. Nein, usu crescit – durch den Gebrauch, durch das Nachgeben wächst er; numquam satiatur – er wird niemals satt. Solche Grundsätze müssen wir uns aneignen, damit sie uns jederzeit zur Verfügung stehen und uns kräftigen zur Überwindung, wenn die Versuchung an uns kommt.

Dann muß man aber auch die Grundsätze anwenden. Die Anwendung ist ein lebenslängliches Geschäft. Es ist nicht so, daß man ein einmaliges „Fiat“ – Es soll so sein – sprechen kann; nein, das ganze Leben über wird uns die Augabe, uns sittlich aufzubauen, nicht abgenommen. Das Ringen hält an bis zum letzten Tage unseres Lebens. Und man muß bei dieser Aufgabe mit Klugheit vorangehen. Man muß zunächst einen bestimmten, nämlich den Hauptfehler sich vornehmen und ihn bekämpfen, indem man am Morgen den Vorsatz faßt: Ich will diesen Fehler meiden, und am Abend sich Rechenschaft gibt, wie dieser Kampf verlaufen ist, und gleichzeitig den Vorsatz für den nächsten Tag erneuert. Man muß bei der Bekämpfung der Fehler die rechten Schritte setzen.

Man treibt heute gern Spott mit früheren Praktiken, die wir vor allem den Kindern empfohlen haben, z.B. gelegentlich keinen Zucker in den Kaffee zu tun, auf Süßigkeiten zu verzichten. Diese sogenannten Kleinopfer sind in Wirklichkeit unentbehrlich. Sie sind die wirksamen Mittel, um bestimmte Haltungen im Menschen zu schaffen. Durch fortwährende Überwindungen und durch ständiges Setzen des Guten wird eine heilsame Gewohnheit in uns erzeugt, werden Bahnen ausgeschliffen, in denen man dann leichter im Guten wandeln kann. Diese Gewohnheit hat die Kraft einer natürlichen Neigung, und schließlich wird einem das, was man durch Willensanspannung sich erworben hat, zum Bedürfnis, ja zum Vergnügen. Wir müssen also diese Überwindungen setzen, vor allem natürlich im Essen, im Trinken, im Rauchen. Ich gebe ein paar praktische Hinweise für das Sich-Beherrschen bei der Nahrungsaufnahme: Etwas weniger nehmen, als man möchte und könnte. Man soll sich ruhig sattessen, aber wir essen ja häufig mehr, als zur Sättigung notwendig ist; deswegen etwas weniger nehmen als möglich oder notwendig ist. Dann: Von den weniger begehrenswerten Speisen mehr nehmen und von den begehrenswerten weniger; sich also überwinden bei der animalischen Lust am Essen, am Genießen. Die Überwindung im Essen ist grundlegend für jede andere. Wer sich hier nicht beherrschen kann, kann sich auf anderen Gebieten auch nicht beherrschen. Man ist nicht nur unbeherrscht auf einem Gebiet.

Auch im Umgang mit anderen gibt es schöne, ja unerläßliche Übungen. Im Gespräch sollte man so wenig wie möglich von sich selbst sprechen. Man sollte auch mehr zuhören als reden, und man sollte es sich versagen, bestimmte Gags einzubringen, die einen in gutem Licht erscheinen lassen. Man sollte es unterlassen, auf Kosten anderer geistreich zu erscheinen. Man sollte sich dazu erziehen, Gutes von anderen aufzudecken und zu bemerken. Im Umgang mit anderen ist auch eine wichtige Forderung der Selbsterziehung, daß man den Menschen, die man nicht leiden mag, mit besonderer Höflichkeit und Freundlichkeit begegnet. Sie nicht meiden, sondern sie in aller Freundlichkeit aufsuchen, nicht aus Heuchelei, sondern aus Überwindung der eigenen Abneigung. Auf diese Weise lernen wir allmählich unseren Willen in die Gewalt bekommen. Wir stärken unseren Willen durch jede Überwindung, und wir festigen ihn durch jedes Tun des Guten.

Freilich muß auch die Gnade zu diesem Werk herbeigerufen werden. Sie wird erlangt durch Gebet und Empfang der Sakramente. Wir sollen beten, regelmäßig, ausdauernd, beharrlich, andächtig, konzentriert, gesammelt. Wir sollen die Sakramente empfangen, würdig, mit Zerknirschung des Herzens, mit echter Sehnsucht, nicht gewohnheitsmäßig. Vor allem das Bußsakrament ist unerläßlich für den Aufbau der sittlichen Persönlichkeit. Regelmäßig, gut, reuig, demütig beichten, das bringt den Menschen voran. Das Aussprechen der eigenen Schuld vor Gott und seinem armen Stellvertreter hat allein schon heilende Wirkung auf die Seele. Weil das Beichtsakrament weitgehend verloren ist, deswegen füllen sich die Sprechzimmer der Nervenärzte!

Wir müssen also die Gnade zu Hilfe rufen, aber noch einmal, meine lieben Freunde: Man darf nicht von der Gnade erwarten, was man durch eigene Willesanstrengung erwerben soll. Jawohl, auf die Gnade vertrauen, als ob alles von ihr abhinge, aber auch auf den eigenen Willen setzen, als ob er allein für die Überwindung des Bösen und das Erringen des Guten ausreichend wäre. Der heilige Ignatius sagte einmal: „Was dir nur durch Bändigung deiner Neigungen werden kann, das erwarte nicht vom Gebet mit ungebändigter Neigung!“

Die Religion, das Christentum, die Kirche ist die einzige richtige Erziehungsmacht, die es auf dieser Erde gibt. Sie vermittelt uns die Wahrheit, sie gibt uns die Grundsätze zum Streben, sie bietet uns die Gnade, um in der Kraft Gottes die sittliche Persönlichkeit aufzubauen. Wir sollten uns an die bewährten, Jahrtausende alten Weisungen der Kirche halten; wir sollten danach streben, daß unser Wille immer mehr mit dem göttlichen Willen übereinstimmt. Es gibt eigentlich kein schöneres Gebet als das: „Herr, laß mich deinen heiligen Willen allezeit freudig anbeten und ihm folgen!“ Ein Dichter hat einmal geschrieben:

„Ich will! – Das Wort ist mächtig.

Ich soll! – Das Wort wiegt schwer.

Das eine spricht der Diener,

das andere spricht der Herr.

Laß beide eins dir werden

im Herzen, ohne Groll!

Es gibt kein Glück auf Erden,

als wollen, was man soll!“

Amen.

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