Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
6. März 1988

Die Nächstenliebe

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Aus der Gottesliebe fließt die Nächstenliebe Der Nächste ist jeder Mensch, der unsere Hilfe braucht, ohne Rücksicht auf die Religion, die Nationalität, den Stand, das Geschlecht. Wir sollen den Nächsten lieben,

1. weil Christus es befohlen hat,

2. weil der Nächste ein Kind und Ebenbild Gottes ist,

3. weil wir alle aus derselben Menschheitsfamilie stammen und zur gleichen Seligkeit berufen sind.

Wir sollen den Nächsten lieben, weil Christus es befiehlt. „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!“ Was Christus befiehlt, ist uns Gesetz, denn er ist der Herr und der Gesetzgeber. Seine Worte sind für uns verbindlich. Wir sollen den Nächsten lieben, weil er ein Bild und ein Kind Gottes ist. Wir haben denselben Vater, Gott, und deswegen gehören wir zu einer Familie. Ein jeder Mensch ist ein Kind dieses Vaters, ja er ist ein Abbild, ein Ebenbild, ein Gleichbild dieses Vaters, und wegen dieser Ähnlichkeit mit Gott sind wir verpflichtet, einen jeden Menschen zu lieben. Wir sind auch drittens Angehörige derselben Menschheitsfamilie, stammen vom selben Elternpaar ab und sind zur selben Seligkeit berufen. Der Apokalyptiker Johannes sah eine zahllose Menge aus allen Völkern, Stämmen und Nationen um den Thron Gottes versammelt. Sie trugen weiße Kleider und Palmen in ihren Händen und sangen den Lobgesang zur Ehre Gottes. – Wir sollen den Nächsten lieben in dreifacher Weise,

1. durch Wohlwollen,

2. indem wir ihm nicht schaden, sondern

3. indem wir ihm wohltun.

Wir sollen dem Nächsten Liebe erweisen durch Wohlwollen. Es muß eine gute Gesinnung gegenüber dem Nächsten in uns sein, es muß uns etwas liegen am Nächsten. „Man teilt sein Wohlwollen, indem man sich mit den Freuenden freut und mit den Weinenden weint,“ so hat es der heilige Paulus uns vorgeschlagen. Das Wohlwollen zeigt sich auch im Gruß, den wir dem anderen bieten. Es zeigt sich in den Glückwünschen, die wir ihm darbringen bei Gelegenheiten des Namenstages, des Geburtstages, der Festtage. Das Wohlwollen ist allerdings nicht bloß eine gefühlsmäßige Wallung, sondern ein fester Entschluß, ein entschiedener Wille, seine Anteilnahme und Geneigtheit auch in der Tat zu bezeugen.

Das geschieht zunächst einmal, indem wir dem Nächsten nichts Böses, indem wir ihm keinen Schaden antun. Wir dürfen dem Nächsten nicht schaden am Leben und an der Gesundheit, an der Ehre, an seinem Vermögen, an seinem Eigentum und müssen auch bemüht sein, Schaden von ihm abzuwenden, der ihm von dritter Seite droht. Wir müssen bereit sein, dem Nächsten zu helfen, vor allem, wenn er in Not ist. Das ist das Wohltun, das von uns verlangt wird. Wohltun vor allem in den Werken der leiblichen und geistlichen Barmherzigkeit. Diese Werke verlangt Christus von uns; sie sind unerläßlich für den, der ins Leben eingehen will.

Das Wohlwollen muß sich also im Wohltun, in der Hilfe, die wir dem Nächsten gewähren, zeigen. Wir müssen den Nächsten lieben wie uns selbst. So verlangt es der Herr. Er hat dafür die goldene Regel aufgestellt: „Alles, was ihr wollt, daß euch die Menschen tun, das sollt ihr ihnen tun!“ Man braucht sich also nur in sich selbst hineinzuversetzen, um zu wissen, was wir dem Nächsten tun sollen, ja was wir ihm tun müssen. Wir brauchen ihn nicht mehr zu lieben als uns selbst, aber wir müssen ihn so lieben wie uns selbst. Die klugen Jungfrauen haben damals den törichten nichts von ihrem Öl abgegeben, weil sie fürchteten, daß es nicht für sie selbst reichen könnte. Das war nicht unrecht, freilich war es auch nicht die Vollendung der Liebe, denn die Vollendung der Nächstenliebe besteht darin, daß man auch von dem Seinen, ja daß man das Seine gibt, um dem Nächsten zu helfen, das ist die heroische Liebe. „Eine größere Liebe hat niemand, als wer sein Leben gibt für die Seinen.“

So haben es viele getan. So hat es der heilige Karl Borromäus getan im Jahre 1576, als er die Pestkranken pflegte und sich der Gefahr der Ansteckung aussetzte. Die Behörden waren geflohen, und die Reichen hatten Mailand verlassen, aber er begab sich zu den Pestkranken und pflegte sie.

Alles, was wir dem Nächsten tun, tun wir Christus. „Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ Christus stellt sich gleichsam vor jeden Menschen, um ihn zu schützen. Als Saulus die Christen verfolgte, hörte er vor Damaskus den Anruf: „Saulus, Saulus, warum verfolgst du mich?“ Ja, er hat doch nur die Christen verfolgt. Wie kann der Herr sagen: „Warum verfolgst du mich?“ Der Herr spricht deswegen so, weil er sich mit den verfolgten Christen gleichsetzt, weil er sich vor sie hinstellt. Wer die Christen verfolgt, der verfolgt ihn. Ähnlich ging es dem heiligen Martin. Als er vor den Toren von Amiens dem Bettler seinen halben Mantel schenkte, da hatte er in der Nacht ein Traumgesicht. Es sah Christus, begleitet von Engeln, der den halben Mantel vorwies und sagte: „Mit diesem Gewande hat mich – mich! – Martin bekleidet!“ Wahrhaftig: „Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan!“

Wer die Nächstenliebe übt, gewinnt mit Sicherheit die ewige Seligkeit. Vom heiligen Johannes wird berichtet, daß er gegen Ende seines Lebens immer nur sagte: „Kindlein, liebet einander!“ Und seine Jünger wurden schon überdrüssig, daß er immer nur sagte: „Kindlein, liebet einander!“ Sie fragten ihn: „Warum sagst du das dauernd?“ „Weil es das Gebot des Herrn ist,“ sagte Johannes, „und wenn ihr das tut, habt ihr das Gesetz erfüllt.“

So hat es auch der Apostel Petrus gelehrt. „Wer die Nächstenliebe übt, der erfüllt das Gesetz,“ denn er wird alle anderen Tugenden mit dieser Tugend auch erwerben. „Willst du zum Leben eingehen, so halte die Gebote!“ sagte der Herr zum reichen Jüngling, und dann zählte er die Gebote der zweiten Tafel auf: „Du sollst nicht töten, du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht stehlen, du sollst kein falsches Zeugnis geben.“ Wir sollen dem Nächsten also keinen Schaden zufügen, sondern ihm nutzen, ihm wohlwollen, ihm Wohltaten erweisen.

Der Herr nennt das Gebot der Nächstenliebe ein „neues“ Gebot. Wieso ist es neu? Weil die Liebe, die er verlangt, grundlos ist. Sie ist nicht eine Wiedervergeltung, eine Belohnung dafür, daß andere uns wohlgetan haben, sondern wir sollen die Nächstenliebe üben auch an denen, von denen wir keine Vergeltung erwarten können. Wir sollen die Nächstenliebe üben sogar an unseren Feinden. Deswegen ein „neues“ Gebot.

Die Nächstenliebe, meine lieben Freunde, schließt uns den Himmel auf. Sie ist das große Meer, aus dem alle Tugenden fließen und in das alle Tugenden münden.

Amen.

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