Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
15. August 1998

Mit Leib und Seele im Himmel

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte, zur Feier der Aufnahme Mariens in den Himmel Versammelte!

Unser Glaube sagt uns, daß der Mensch, wenn sein Leib stirbt, nicht untergeht. Es gibt im Menschen ein geistiges Prinzip, das unteilbar und unvergänglich ist; wir nennen es Seele. Wenn wir die Leiber unserer Angehörigen in die Erde senken, so wissen wir: Es bleibt etwas; es bleibt das Entscheidende. „Was wir bergen in den Särgen, ist der Erde Kleid. Was wir lieben, ist geblieben, bleibt in Ewigkeit!“ Es gibt eine unsterbliche Seele.

Aber das ist nicht der Inhalt des heutigen Festes. Maria hat selbstverständlich auch ihre Seele in die Herrlichkeit Gottes eingebracht wie andere Menschen, aber darüber hinaus ist mit ihr etwas geschehen, was keinem sonstigen Menschen widerfahren ist: Sie wurde auch leiblich in die Herrlichkeit des Himmels aufgenommen.

Die leibliche Aufnahme Mariens in den Himmel ist nur zu verstehen, wenn man sie im Anschluß an die Auferstehung Jesu begreift. Jesus wurde lebendig gemacht, und zwar seinem Leibe nach. Wir glauben an die leibliche Auferstehung Jesu. Der tote, entseelte Leib des Herrn wurde am dritten Tage durch die Macht Gottes lebendig gemacht, verklärt und in die Herrlichkeit des Vaters geführt. Ähnliches ist mit Maria geschehen. Auch ihr Leib ist mit der Seele in die Herrlichkeit Gottes aufgenommen worden. Warum ist es an ihr und nur an ihr geschehen? Warum geschieht es nicht an uns, auch an uns? Der Grund für die einzigartige Auszeichnung Mariens ist ihre Verbundenheit mit Gott und ihrem Sohne. Weil sie voll der Gnade ist, weil sie die Mutter Gottes ist, weil sie die Vollerlöste ist, deswegen durfte ihr Leib die Verwesung nicht schauen. Wer ganz erlöst ist, dem muß auch der Leib erlöst sein. Natürlich hat nicht ein irdischer Leib die himmlische Herrlichkeit erlangt, sondern ein verklärter, ein verwandelter, ein lichthell durchwirkter Leib. Maria ist die Ganzerlöste und die Vollerlöste und deswegen mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen. Sie zeigt an, was uns bevorsteht. Wir dürfen den Glaubensartikel von der Auferstehung des Fleisches nicht unter den Tisch fallen lassen. Er mag der zeitgenössischen Kritik so bequem oder unbequem sein wie immer. Die Auferstehung des Fleisches ist ein Glaubensartikel, der nicht aus dem Credo entfernt werden darf. Aber für uns steht die Auferstehung des Leibes noch aus. Sie wird geschehen am Ende der Tage, dann, wenn der Herr alle aus den Gräbern rufen wird. Dann werden auch wir, deren Seele – hoffentlich – im Himmel ist, mit einem verklärten Leibe bekleidet werden; dann sind auch wir ganz erlöst. Was Maria jetzt geschehen ist, das soll uns einst widerfahren.

Gegen diesen Inhalt des heutigen Festes erheben sich zwei Einwürfe. Der erste lautet: Wo steht das in der Heiligen Schrift? Die Antwort: Nirgends. Es steht nicht in der Heiligen Schrift. Aber wie können wir dann daran glauben? Weil der katholische Christ seine Wahrheit nicht nur aus der Heiligen Schrift bezieht, sondern auch aus der göttlichen Tradition. Wir müssen die alte Wahrheit wieder zum Leben erwecken, daß uns die Offenbarung durch zwei Quellen zukommt, nämlich durch Schrift und Tradition, durch das geschriebene Wort Gottes und durch das mündliche Wort Gottes. Die Tradition bewahrt uns die Wahrheit von der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel auf. Es ist keine katholische Frage, zu fragen: Wo steht das in der Heiligen Schrift? Katholisch würde die Frage, richtig gestellt, heißen: Wo ist es in dem lebendigen Lehrwort der Kirche bezeugt? Und das lebendige Lehrwort der Kirche umfaßt eben Schrift und Tradition. Ich verstehe die provokatorische Frage: Wo steht das in der Heiligen Schrift? auch deswegen nicht, weil ich bedenke, daß dieselben, die diese Frage stellen, viele Ereignisse, die in der Heiligen Schrift bezeugt sind, unter den Tisch fallen lassen. Dieselben Leute, die uns vor die Heilige Schrift, vor den Richterstuhl der Heiligen Schrift fordern, dieselben Leute leugnen die leibhafte Auferstehung Jesu, leugnen seinen Seewandel, leugnen die wunderbare Brotvermehrung. Ja, was hätte es denn für sie einen Sinn, wenn die leibliche Aufnahme Mariens in der Heiligen Schrift bezeugt wäre? Sie würden das genauso als Mythos, als Legende, als Gemeindebildung ausgeben wie alles andere auch. Also laßt doch diese provokatorische Frage: Wo steht das in der Heiligen Schrift?! Es ist in der geistgeleiteten Kirche als ständiges Lehrwort enthalten, und das genügt.

Freilich gibt es in der Heiligen Schrift Stützen für diese Wahrheit, eben die Auferstehung Jesu, die leibhafte Auferstehung Jesu, eben die Berufung zur allgemeinen Auferstehung am Ende der Tage, eben die Auszeichnung Mariens. „Selig werden mich preisen alle Geschlechter!“ Ja, warum denn? Weil ihre Würde alle anderen überragt, weil ihre Auszeichnung so groß ist, daß sie keinem anderen zukommt.

Der zweite Einwand geht davon aus, daß durch die Aufnahme Mariens in den Himmel die Einzigartigkeit Christi verdunkelt werde. Man sagt: Christus allein ist doch auferstanden von den Toten. Wie könnt ihr da noch seine Mutter als leibhaft Verherrlichte bekennn? Die Auferstehung Jesu von den Toten und die Aufnahme Mariens in den Himmel unterscheiden sich in drei wesentlichen Punkten. Wir stellen Maria nicht Jesus gleich, nein, wir unterscheiden in drei Punkten die Aufnahme Mariens in den Himmel von der Auferstehung Jesu; erstens schon wörtlich. Wir sprechen von der Ascensio Jesu, also vom Aufstieg Jesu, und wir sprechen von der Assumptio Mariä, von der Aufnahme. Das heißt: Jesus ist durch eigene Kraft in den Himmel aufgefahren, Maria wurde durch die Macht Gottes in den Himmel aufgenommen. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Auffahrt und Aufnahme.

Der zweite Unterschied besteht darin, daß Jesus zur Herrlichkeit an der Seite des Vaters (ad dexteram Dei) erhoben wurde. Jesus sitzt zur Rechten des Vaters. Seine Himmelfahrt war eine Thronerhebung, und zwar auf den Thron des himmlischen Vaters. Maria ist dagegen nicht an die Seite Gottes gesetzt worden, sondern in die Gemeinschaft der Erlösten aufgenommen worden, allerdings als deren Königin. Sie wurde nicht ad dexteram patris erhoben, nicht zur Rechten des Vaters, sondern als eine Erlöste, freilich als die erste unter allen Erlösten von Gott in die Herrlichkeit berufen. Das ist der zweite Unterschied.

Der dritte Unterschied besteht darin, daß die Auffahrt Jesu in den Himmel sich öffentlich vor den Augen der Zeugen vollzog. Die Jünger haben gesehen, wie eine lichte Wolke den Herrn umhüllte, und er in die Herrlichkeit des Vaters aufgenommen wurde. Anders bei Maria. Es gibt keine Zeugen. Es gibt keinen Zeugen, der die Aufnahme Mariens in den Himmel beobachtet hätte. In geheimnisvoller Weise, in unsichtbarer Weise hat Gott ihren Leib in seine Herrlichkeit aufgenommen. Das ist ein wesentlicher Unterschied zu der Auffahrt Jesu in den Himmel.

Also: Wenn wir heute das Fest der Aufnahme Mariens in den Himmel feiern, dann verdunkeln wir nicht die Ehre unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus. Er ist als erster, nein, als einziger durch eigene Kraft aus den Toten erstanden und in den Himmel eingegangen. Maria wurde durch die Macht des himmlischen Vaters in den Himmel aufgenommen. Wir wollen uns weder durch eine falsche Berufung auf die Heilige Schrift noch durch den Vorwurf einer angeblichen Minderung der Herrlichkeit Jesu an unserer Marienverehrung irremachen lassen. Wir wollen uns nicht irremachen lassen an der Feier ihrer Aufnahme  in den Himmel.

Als der Bischof Ketteler in Mainz seinen Dienst antrat, war eine seiner ersten Amtshandlungen, daß er die Erzbruderschaft von der Muttergottes, von der unbefleckten Muttergottes einführte. Er wußte: Ich muß mein Werk unter den Segen Mariens stellen. Und das soll auch die Aufforderung sein, die für uns von diesem Feste ausgeht: Wir wollen unser Werk unter die mütterliche Hand Mariens bergen. Wir wollen zu ihr rufen und flehen. Wir wollen ihr sagen: Zu dir, du Königin der Barmherzigkeit, geht unser Rufen und geht unser Sehnen, geht unser Flehen, geht unser unstillbares Weinen. Und wir wissen, daß wir in deiner Hand geborgen sind, jetzt und in alle Ewigkeit.

Amen.

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