Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
10. März 2013

Pilatus fällt das Todesurteil

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wir hatten uns zu Beginn der Vorfastenzeit vorgenommen, das Leiden unseres Herrn und Heilandes zu betrachten. Am letzten Sonntag waren wir bis zur Verurteilung des Herrn zur Geißelung gelangt. Aber damit war die Pein des Herrn erst eröffnet, nicht beendet, denn die Soldaten, die die Geißelung vorgenommen hatten, ergriffen die willkommene Gelegenheit, einen prominenten Vertreter des ihnen verhassten Judenvolkes zu demütigen und an ihm ihren rohen Übermut auszulassen. Sie hatten gehört, dass er sich als König bezeichnet hatte, und das nahmen sie jetzt zum Anlaß, ihn als einen Spottkönig auszustaffieren. Sie wussten, ein König hat einen Königsmantel, er hat ein Zepter, ein Rohr als Zeichen seiner Macht in der Hand und um die Stirn einen Lorbeerkranz. So hängten sie Jesus einen alten Soldatenmantel um, gaben ihm ein Schilfrohr in die Hand und flochten aus Dornen eine Krone, die sie ihm auf sein Haupt setzten. Dann verhöhnten sie ihn, indem sie das Knie vor ihm beugten: „Sei gegrüßt, König der Juden!“ Sie spuckten ihn an, und sie schlugen ihn mit dem Stab auf das Haupt. Vom Hofraum des Prätoriums, wo diese Szene stattfand, wurde Jesus, angetan mit den Spottkleidern, wieder zu Pilatus gebracht. Dieser war immer noch entschlossen, Jesus freizugeben, und er machte einen neuen Ansatz, um ihn vor dem Äußersten zu retten. Er konnte diesen Schritt um so leichter tun, weil noch keine förmliche Verurteilung Jesu zum Tode erfolgt war. Pilatus trat also hinaus vor das Prätorium zu den Juden und sprach: „Seht, ich führe ihn euch heraus, damit ihr erkennt, dass ich keine Schuld an ihm finde.“ Aus dem Aufzug, der Jesus hier bereitet wurde, aus diesem Aufzug sollten die Juden sehen, dass Pilatus Jesus für eine Spottfigur, aber nicht für einen gefährlichen Aufrührer hält. Pilatus hat also offensichtlich das Narrenspiel seiner Soldaten geduldet, vielleicht mit Absicht, um eben eine mitleidserregende Figur den Juden vorstellen zu können und um sie damit von der Harmlosigkeit Jesu zu überzeugen. So trat also Pilatus heraus, Jesus neben ihm mit dem Dornenkranz und mit dem Purpurmantel angetan. Und Pilatus sprach zu ihnen: „Seht, da ist der Mensch.“ Wie Pilatus selbst den Herrn für schuldlos hielt, so wollte er, dass auch der Hohe Rat mit seinem Anhang durch den Anblick des so unmenschlich zugerichteten Herrn zur Milde gestimmt und sich mit dem bisherigen Strafverfahren zufrieden geben würde. Sein Leib war zerfleischt von den Geißelhieben, sein Haupt verwundet durch die Dornen, sein blasses Antlitz mit Unrat beschmutzt und von Blut gerötet. Und doch leuchtete aus dieser Jammergestalt Ruhe, Würde und Unschuld. Jetzt schauten die Juden den Knecht Jahwes, wie ihn der Prophet Isaias vor Jahrhunderten vorausgesehen hatte. „Nicht Schönheit ist an ihm noch Gestalt, dass wir ihn anschauen möchten. Das Aussehen ist nicht so, dass wir Verlangen nach ihm trügen. Er ist der Verachtete und Letzte der Menschen, der Mann der Schmerzen, vertraut mit Leiden. Wie einen Gezeichneten, vor dem man sein Antlitz verhüllt, haben wir ihn verachtet und unser Antlitz von ihm abgewandt.“ Jetzt erfüllte sich, meine lieben Freunde, auch das Wort des 21. Psalms: „Ich bin ein Wurm und kein Mensch, ein Verachteter des Volkes.“ „Da ist der Mensch“, sagt Pilatus. Das ist ein Appell, ein Appell an die Menschlichkeit der Juden. Der Anblick des übel zugerichteten Angeklagten, dessen Gestalt die frischen Spuren der erlittenen blutigen Misshandlung trägt, soll ihren lodernden Hass besänftigen. Es kam natürlich Pilatus auch darauf an, die Ungefährlichkeit des angeblichen Thronprätendenten den Juden vor Augen zu führen. Er erwartete, dass die Menge angesichts dieser Karikatur eines Königs die darauf gegründete Anklage als lächerlich ansehen würde.

Aber nein. Die Hoffnung des Pilatus erfüllte sich nicht. Es gibt einen Grad der Verhärtung, meine lieben Freunde, dem jede Regung des Mitleids fremd geworden ist. Als die Hohenpriester und Diener sahen, wie Jesus aussah, da schrien sie: „Ans Kreuz mit ihm, ans Kreuz mit ihm!“ Es war nicht genug, was ihm schon angetan worden war. Pilatus war unwillig: „Nehmt ihr ihn doch und kreuzigt ihn!“ Daraus spricht seine Erregung. Er war fassungslos, dass Menschen so grausam sein konnten, wie die Juden es vor ihm waren. Die Juden suchten nun eine neue Argumentation, um Pilatus zur Verurteilung Jesu zu bewegen. „Wir haben ein Gesetz und nach diesem Gesetz muss er sterben, denn er hat sich selbst zum Sohne Gottes gemacht.“ Jesus ist nach ihrem eigenen Recht ein todeswürdiger Verbrecher. Zum ersten und letzten Mal rücken die Juden vor Pilatus mit ihrer Anklage wegen Gotteslästerung heraus. Dieses neue Argument soll ihre eigene Anklage stützen. Pilatus war ja der Meinung, dass sie ihn aus Neid, aus Eifersucht überliefert hatten. Nein, jetzt wollen sie ihm klarmachen, wir haben ihn überliefert aus Achtung vor dem Gesetz. Wir haben ihn dir überstellt, weil er ein Gotteslästerer ist. Er soll also den Angeklagten mit anderen Augen ansehen. Er soll wissen, dass sie aus Ehrfurcht vor der Religion gehandelt haben. Diese Anklage, Jesus habe sich zum Sohne Gottes gemacht, brachte den Pilatus in große Verlegenheit. „Jetzt fürchtete sich Pilatus noch mehr“, schreibt Johannes der Evangelist. Warum? Pilatus muss nicht ganz unreligiös gewesen sein. Er war ein Heide, aber auch die Heiden hatten ja auch eine Religion und hatten eine Achtung vor dem Numinosen, vor dem Göttlichen. Und auch sie kannten Göttersöhne, wenn auch nicht in dem Sinne, wie die Juden und das Christentum, aber sie kannten Göttersöhne. Und diese Bemerkung, „er hat sich selbst zum Sohne Gottes gemacht“, machte Pilatus nachdenklich. Er ging in das Innere des Palastes, wo Jesus war, und begann ein neues Gespräch mit ihm. „Woher bist du?“ Das heißt natürlich nicht: Wer sind deine Eltern, oder wo bist du geboren, sondern bist du vielleicht himmlischer Herkunft? Pilatus erwartete, dass Jesus sich erklärt, aber Jesus schweigt. Jesus gibt keine Antwort. Er schweigt, weil Pilatus für die Belehrung über die Gottessohnschaft gar nicht empfänglich ist als Heide. Da fühlt sich Pilatus verletzt: „Du schweigst? Weißt du nicht, dass ich Macht habe, dich freizugeben oder dich zu kreuzigen?“ Auf diese Entgegnung gibt Jesus eine Antwort. Er führt Pilatus in die Tiefenschicht seines Prozesses hinein. „Du hättest keine Macht über mich, wenn sie dir nicht von oben gegeben wäre.“ „Von oben“, das heißt, von Gott. Damit ist der geheimnisvolle Wille Gottes gemeint. Ohne diesen Willen wäre Pilatus nie in die Lage gekommen, über den Sohn Gottes zu Gericht zu sitzen. Im Gottesplan ist der römische Beamte dazu ausersehen, Jesus ans Kreuz zu bringen. Und wenn er sich auch dagegen sträubt, er wird es tun müssen, weil er sich weder den Plänen Gottes noch dem Zwang der irdischen Verhältnisse entziehen kann. Daran knüpft Jesus die Bemerkung: „Jener, der mich dir überlieferte, hat eine größere Schuld.“ Das heißt, die Sünde, die die Juden durch die Verurteilung und Auslieferung Jesu an Pilatus begehen, ist größer als die Sünde, deren sich der Prokurator durch die Verurteilung Jesu schuldig macht. Die größere Verantwortung liegt bei den Juden, nicht bei dem in Angst versetzten Pilatus.

Immer noch versuchte Pilatus Jesus freizugeben, aber er kam nicht dazu, sein Vorhaben auszuführen. Sobald nämlich die Juden merkten, dass er im Begriffe war, sich über ihre Forderungen endgültig hinwegzusetzen, spielten sie ihren letzten Trumpf aus: „Wenn du diesen freigibst, bist du kein Freund des Kaisers mehr, denn wer sich zum König macht, widersetzt sich dem Kaiser.“ Sie drohen ihm mit der Anzeige bei dem Kaiser Tiberius. Der höchste kaiserliche Beamte Judäas muss sich von den Vertretern eines Volkes, das von Hass gegen die Römer erfüllt war, der mangelnden Kaisertreue bezichtigen lassen. So widersinnig diese Drohung dem Prokurator vorkommen mag, er konnte sich keiner Illusion darüber hingeben, dass die Juden fähig waren, mit ihrer Drohung ernst zu machen. Wenn er in Rom wegen der Freilassung eines Menschen, der sich erwiesenermaßen als König bezeichnet hatte, angezeigt wurde, dann musste er beim kaiserlichen Gericht den Verdacht der Nachlässigkeit, der Untreue, der Begünstigung eines Thronprätendenten auf sich nehmen. Nach Lage der Dinge würde es ihm schwer fallen, sich von diesem Vorwurf zu reinigen. Er musste also gewärtig sein, dass er selbst wegen Majestätsverbrechens vor Gericht gestellt und verurteilt würde, denn Tiberius war ein rücksichtsloser Herrscher. Er war sehr empfindlich, wenn eine Anklage zu ihm kam wegen Majestätsverbrechens. Vor diesem Kaiser hatte er Anlass, sich zu fürchten. Pilatus stand jetzt vor der Frage: Entweder wird Jesus verurteilt oder ich verliere meine Position. Unter dieser Drohung brach er zusammen. Größer als seine Scheu vor dem geheimnisumwitterten Angeklagten war seine Angst vor dem finsteren und argwöhnischen Kaiser Tiberius. Wichtiger als ein vorübergehender Triumph über die ihm unsympathischen Ankläger war seine persönliche Sicherheit. Und so ging er daran, jetzt das Endurteil zu fällen. Es musste „ex superiori“ – von oben – gefällt werden und öffentlich. Und so setzte er sich auf die Bäma, auf die Richterbank, und ging daran, das Urteil zu fällen. Aber er gab dem Urteil eine Form, die nochmal ein Hieb auf die Juden war. Er sagte nämlich nicht: „Er hat sich zum König der Juden gemacht“, sondern er bediente sich der ironischen Worte: „Da ist euer König!“ Das heißt, er stellt sich so, als würde er den Königsanspruch Jesu anerkennen und die Juden als dessen Gefolge, als dessen Volk, betrachten. „Dieser Hochverräter ist euer König.“ Damit hat er sich gerächt an den Juden und ihnen die Staatstreue abgesprochen. Aber die erboste Menge schrie: „Hinweg mit ihm, hinweg mit ihm. Kreuzige ihn!“ Da knüpfte er noch einmal an mit Ironie und sagte: „Euren König soll ich kreuzigen?“ Die Juden gaben zurück: „Wir haben keinen König als den Kaiser“; so sprachen sie, obwohl sie den Kaiser verachteten und hassten. Nun bekannten sie sich zu Kaiser Tiberius. Jetzt erst verkündete Pilatus die Strafe für das von ihm festgelegte Verbrechen. Es war das „Crimen laesae maiestatis“, wie es die Römer nannten, das Verbrechen an der Majestät des Kaisers, das „Crimen laesae maiestatis“. Es wurde mit dem Tode, und zwar in den Provinzen mit dem Tode am Kreuze bestraft. Das Strafurteil lautete: „Ibis in crucem“, du wirst zum Kreuze gehen. Ibis in crucem. Er übergab ihn den Juden und den Soldaten zur Kreuzigung. Das ist die Umschreibung des Todesurteils „Ibis in crucem“. Das Urteil war sofort rechtskräftig. Es brauchte keine Revision, keine Appellation abgewartet zu werden. Den Termin der Hinrichtung bestimmte der Richter. An Strafaufschub war nicht gedacht. Die Exekution wurde verfügt durch den Befehl des Statthalters an einen Offizier, den Verurteilten abzuführen. Das Kommando der Exekution bestand aus vier Soldaten und dem sie befehligenden Zenturio. Dem Prokurator unterstanden keine Legionen, sondern nur Hilfstruppen, Auxiliartruppen. Und diese Auxiliartruppen rekrutierten sich aus der Landschaft, und zwar aus Nicht-Juden, also aus Syrern und Samaritanern, die beide einen ganz infamen Hass gegen die Juden hatten. Statt des Purpurmantels, den Jesus seit der Verspottung trug, gaben ihm die Soldaten jetzt seine Kleider zurück. Das wird eigens vermerkt, und es war notwendig. Denn normalerweise wurden zum Kreuze Verurteilte nackt durch das Gebiet der Stadt geführt. Sie gaben ihm seine Kleider zurück. Die übrigen Verurteilten wurden deswegen unbekleidet zur Verurteilung geführt, weil sie während des Kreuzweges dauernd gegeißelt wurden. Jesus wurde nicht mehr gegeißelt. Er hatte diese furchtbare Strafe ja hinter sich gebracht, und es hat den Anschein, dass man befürchtete, er könnte, wenn er jetzt noch weiter gegeißelt würde, auf dem Wege erliegen. Er wurde so mit Begleitung zum Richtplatz geführt. Die Dornenkrone hat man ihm (wie den Spottmantel) nach aller Wahrscheinlichkeit abgenommen. Wenn auf unseren Kreuzwegen der Herr immer wieder mit der Dornenkrone zu sehen ist, so ist das geschichtlich unwahrscheinlich.

Meine lieben Freunde! Der Prokurator Pontius Pilatus ist der Mann, der Jesus lange Zeit retten wollte. Er ließ ihn dann fallen, um seine eigene Position nicht zu riskieren. Wir stehen mit Erschütterung vor der Tatsache, dass er einen Justizmord beging, weil es sonst um ihn selbst geschehen wäre. Und doch können und wollen wir Pilatus nicht verurteilen. Wer von uns kann mit Gewissheit sagen, dass er standhalten werde, wenn es um die Alternative geht: Gott oder ich? Wer von uns kann das sagen? Ich fürchte, dass die Masse der Menschen in einer vergleichbaren Situation genauso handelt, wie Pilatus gehandelt hat. Wie viele Christen haben es Pilatus nachgemacht, haben den Heiligen und Gerechten verleugnet, um ihr Leben, ihr Vermögen, ihre Stellung zu retten. In Japan werden heute noch die Kreuze gezeigt, die in vergangenen Jahrhunderten den Christen vorgelegt wurden, damit sie auf sie treten und dadurch dem Christentum abschwören. In der Zeit der Französischen Revolution bildete sich eine staatshörige, schismatische, konstitutionelle Kirche. Jeder, der sich dieser Kirche anschloss, hatte Ruhe vor den Revolutionären. Der Priester konnte seine Stelle behalten, und doch haben Tausende, Zehntausende von Priestern auf ihre Stelle verzichtet. Aber auch Zehntausende haben den Eid geleistet und ihre Stelle behalten. In den Jahren des Nationalsozialismus, und ich habe sie erlebt, in diesen Jahren haben sich Hunderttausende von der Kirche losgesagt, weil sie vorankommen, befördert oder in Ruhe gelassen werden wollten. In der Zeit der Kommunistenherrschaft in der Ostzone, und ich war fünf Jahre in der Ostzone tätig, in der Zeit der Kommunistenherrschaft haben sich Tausende von der Kirche losgesagt, weil sie aufsteigen, weil sie dem Regime zu Willen sein wollten. Glücklich der, dem die Situation erspart bleibt, wo es um die Frage geht: Soll ich Gott die Treue halten oder an mein irdisches Wohlergehen denken?

Jesus hat diese Situation vorausgesehen und warnend erklärt: „Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, aber Schaden leidet an seiner Seele.“ Er hat auf die Folgen der Verleugnung Gottes hingewiesen. „Wer sich meiner und meiner Worte schämt vor diesem ehebrecherischen und gotteslästerlichen Geschlecht, dessen wird sich auch der Menschensohn schämen, wenn er kommt mit seinen Engeln in der Herrlichkeit des Vaters.“ Und er mahnt uns deswegen: „Fürchtet nicht den, der den Leib töten kann, sondern fürchtet den, der Leib und Seele ins Verderben der Hölle stoßen kann. Ja sage ich, den sollt ihr fürchten!“

Amen.

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