Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
28. Februar 1993

Über Christus als den Wesensgrund des christlichen Lebens

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wenn man fragt, welches das Wesen des Christentums ist, so gibt es darauf nur eine Antwort: Das Wesen des Christentums ist Jesus Christus! In ihm ist Gott in die menschliche Geschichte eingetreten. Er hat das menschliche Schicksal auf sich genommen, verantwortet und dadurch überwunden. In ihm ist Himmel und Erde versöhnt.

Was man sonst noch als wesentlich am Christentum bezeichnen kann, seine Lehre, seine Forderungen, seinen Gottesdienst, seine Sakramente, das ist nichts anderes als Anspruch, Auswirkung und Vergegenwärtigung Christi. Die Lehre des Christentums ist Ausdeutung seiner Person. Die Sittlichkeit des Christentums ist Nachfolge Christi. Der Kult des Christentums ist Teilnahme an seiner Verherrlichung. Er ist die Mitte von allem, und er ist das Ziel von allem. Von ihm geht alles aus, und in ihn mündet alles ein. Ein Christ ist nur derjenige, der das Ja zu Christus vollzieht, der den Gehorsam gegen Christus beweist, der in Gemeinschaft mit Christus steht. Das unterscheidet das Christentum von jeder anderen Religion.

Ein Buddhist ist, wer den Weg Buddhas geht. Ein Mohammedaner ist, wer sich an die Weisungen Mohammeds hält. Aber ein Christ ist nur derjenige, der sich Christus überantwortet, der sich von Christus in Besitz nehmen und der mit Christus gleichsam zusammenwächst.

Der Apostel Paulus nennt diese Daseinsweise des Christen das Sein in Christus. Das Sein in Christus wird begründet in der Taufe. Da übereignet sich der Mensch Christus, da wächst er mit ihm zusammen, da wird er durchherrscht von Christus, und diese Vereinigung mit Christus, diese innige Verbindung mit ihm ist grundsätzlich unauflöslich. Wer einmal mit Christus vereinigt war, kommt in einem bestimmten Sinne nie mehr von ihm los. Er bleibt immer geprägt von seiner Zugehörigkeit zu Christus, auch wenn er die Daseinsweise der Hölle wählen würde.

Wenn die Verbindung des Christen mit Christus derart intensiv ist, wenn er von Christus durchherrscht ist, da erhebt sich die Frage, ob es nicht unerträglich ist, von einem anderen in dieser Weise besessen und gleichsam überwältigt zu sein. Muß sich nicht das menschliche Selbst, das menschliche Selbstbewußtsein, auch der menschliche Stolz dagegen auflehnen, daß nichts in ihm ist, was er nicht teilt mit einem anderen? Wer ist der und wer muß der sein, der so geartet ist, daß seine Gemeinschaft mit dem Menschen nicht dazu führt, das menschliche Ich zu bedrücken, zu belasten, in unerträglicher Weise zu entfremden? Die Antwort lautet: Wenn Christus mit dem Menschen zusammenwächst, dann ist das nicht ein Fremder, sondern er ist derjenige, der den Menschen zu sich selbst bringt, der die tiefsten Tiefen des Menschen erfüllt, der den Menschen zu seiner Erfüllung führt. Das zeigt sich auf Erden und im Jenseits. Im Diesseits: Der Mensch ohne Christus und vor Christus ist Natur. Der Mensch in Christus und mit Christus ist übernatürlich. Er ist verähnlicht worden mit Christus, er ist Blutsbruder Christi und damit Kind des himmlischen Vaters geworden. Das ist die letzte Sehnsucht, das ist das tiefste Verlangen, das ist das größte Ziel, dem der Mensch zustrebt. Und erst recht im Jenseits! Da wird das Verlangen des Menschen nach Fülle, nach Freude, nach Friede in einer alles Sehnen und Verlangen übersteigenden Weise erfüllt. In der Daseinsweise des Himmels, wo wir Gott schauen und Gott lieben und Gott besitzen werden, da wird der Mensch in einer Weise über sich hinausgehoben, daß diese Erfüllung alles übersteigt, was er sich ausdenken kann. Die Vereinigung mit Christus ist also keine Verfremdung, sondern sie ist eine Erfüllung der tiefsten Sehnsüchte des Menschen, ja eine Übersteigerung seiner Sehnsüchte, sie ist eine Erfüllung über alle menschlichen Maße und über alle menschlichen Vorstellungen hinaus.

Das Dasein und das Sosein des Menschen kann man unterscheiden. Kein Mensch geht so in sein Werk ein, daß er nicht auch außerhalb desselben bleibt. Bei Christus aber sind Person und Werk eins. Er ist sein Werk! In ihm ist das Leben erschienen, er ist die in das irdische Leben eingetretene Liebe Gottes. Wer ihm begegnet, der begegnet dem Leben, wer ihm die Hand gibt, der empfängt die göttliche Liebe. In seiner Menschwerdung sind Himmel und Erde vereint. Die Menschwerdung hat die Erlösung begonnen. Sie hat sie noch nicht vollendet, aber sie hat sie begonnen. In dem ganzen göttlichen und menschlichen Leben Jesu vollzieht sich die Erlösung. Das Leben Jesu ist ja nicht in einem Augenblick verbraucht worden, sondern es hat sich entfaltet in einem jahrelangen Arbeiten, Mühen und Leiden. Er hat die Enge und die Bedrängnis, den Hunger und den Durst und das Leid des menschlichen Lebens auf sich genommen, und er hat es durchgetragen, und dadurch hat er es überwunden. Indem er, der Gottessohn, das göttliche Leben in Verborgenheit führte, indem er das menschliche Leben in seiner Redlichkeit auf sich nahm, hat er die Hinfälligkeit dieses Lebens überwunden. Durch seinen Tod hat er den Tod überwältigt. In seiner Auferstehung und Himmelfahrt zeigt sich, daß dieses Leben, das äußerlich wie ein irdisches Leben irgendeines Menschen verlief, voll war von göttlichen Geheimnissen, voll von dem göttlichen Geheimnis unserer Erlösung, unseres Heils.

Man kann also bei Christus Leben und Werk nicht trennen. Wer das versucht, verliert Christus. Wer von seiner göttlichen Person Abstriche macht, der zerstört auch sein menschliches Leben. Wenn er nicht der Gottessohn war, dann sind Krankenheilungen, Sündenvergungen und Totenerweckungen Märchen. Und umgekehrt: Wenn er das nicht gewirkt hat, was die Heilige Schrift von ihm erzählt, wenn er nicht Wohltaten spendend durch die Lande ging, dann war er auch nicht das, was Paulus im Kolosserbrief schreibt: das Ebenbild des lebendigen Gottes, in dem die ganze Fülle der Gottheit wohnt.

Es ist unmöglich, von Christus nur die Worte behalten, die Taten aber eliminieren zu wollen. Ohne seine Taten wäre er ein Weisheitslehrer, aber kein Erlöser gewesen. Weisheitslehrer hat die Geschichte viele gekannt. Aber unser Christus überdauert die Zeiten; er steht eben nicht wie ein Weisheitslehrer in grauer Vergangenheit, sondern als unser Lebensgrund in der Gegenwart. Man kann und muß mit ihm hier und jetzt in Verbindung treten, nicht nur auf seine Worte hören und seine Weisungen beherzigen, nein, man kann und muß mit ihm verbunden werden, lebendig und wirklich.

Immer wieder, meine lieben Freunde, wird der Versuch gemacht, das Leben und die Person Jesu auf harmlose menschliche Kategorien zurückzuführen. Vor wenigen Wochen hat sich ein makabres Schauspiel in der Universität zu Tübingen zugetragen. Da wurde einem Theologen namens Eugen Drewermann der Herbert-Haag-Preis überreicht. Bei dieser Gelegenheit sprachen Theologen wie Hans Küng, Herbert Haag und der Geehrte, Eugen Drewermann. Und was sie sagten, das war die Auflösung von Person und Werk Jesu. Eine mir bekannte Dame, die diesem Schauspiel beigewohnt hat, hat sich die Mühe gemacht, in einem Leserbrief im „Schwäbischen Tagblatt“ diesen Vorgang wie folgt zu kommentieren: „Warum trennen sich diese Männer nicht von dieser Kirche und gründen jene religiöse Gemeinschaft, die sie im Sinn haben? Warum vollziehen sie nicht eine ehrliche Trennung von der von ihnen so umfassend verachteten Kirche und gründen ihre eigene, ihnen als gut erscheinende Gemeinschaft und eröffnen damit den Menschen die Kenntnis von jenem Weg zum Heil, den sie für geboten halten? Daß diese Gemeinschaft vom Wesen her anders sein müßte als die katholische Kirche, ist a priori klar, denn sie lehnen alles ab, was zum Wesen dieser Kirche gehört: Glaube an die Gottheit Christi, Gründung einer Kirche durch ihn, Sakramente, Priestertum, gefüllte Liturgie, Dogma. Ich habe nichts gehört, was an dieser Kirche den Rednern noch annehmbar erschien. Also: Warum trennen sie sich nicht ganz ehrlicherweise und gründen ihre Gemeinschaft ohne den Glauben an den dreifaltigen Gott, einen Gottmenschen Jesus Christus, ohne Kirche, ohne Priestertum, ohne Hierarchie, ohne Sakramente, ohne Dogma, ohne geformte Liturgie, ohne überholte Moral und ohne wissenschaftsfeindliche Unterdrückung von Theologen? Viele Menschen wären zweifellos gespannt auf ein Experiment wie dieses. Und Sie kennen doch sicher den Vers: „Allem Anfang wohnt ein Zauber inne.“ Warum also gehen sie nicht endlich ihren eigenen Weg zum Heil und nehmen ihre zahlreiche Lesergemeinde mit sich? Ich jedenfalls möchte ihnen zurufen: Geht endlich davon!“

Was diese, wie Sie merken, gebildete Dame geschrieben hat, ist tatsächlich die einzige Konsequenz, die jemand ziehen muß, der den Glauben an Christi Person und Christi Werk verloren hat. Es ist nicht möglich, sich weiter einen Christen zu nennen, wenn man Christus nicht als den Grund unseres Lebens festhält, wenn man ihn nicht als den fleischgewordenen Gottessohn bekennt, wenn man seine Wunder und Machttaten, seine Dämonenaustreibungen und Krankenheilungen nicht als das sieht, was sie nach dem Bericht der Zeugen sein wollen, nämlich wirkliche Geschehnisse in Raum und Zeit, freilich mit einer Hintergründigkeit, wie sie eben nur göttliches Wirken in menschlicher Gestalt haben kann.

Wir wollen, meine lieben Freunde, diesem Christus des Glaubens treu bleiben, der kein anderer ist als der Jesus der Geschichte. Wir wollen den Zeugen, die mit ihrem Wort und mit ihrem Werk, mit ihrem Leiden und mit ihrem Tod für die Wahrheit ihres Zeugnisses eingestanden sind, glauben. Wir wollen auch denen, die diesen Glauben verloren haben, das Zeugnis unseres Glaubens geben. „Ob sie es wissen oder nicht“, schreibt einmal der italienische Schriftsteller Papini, „sie suchen ihn, sie brauchen ihn.“ Der abgefallene Katholik Rudolf Augstein, der ausgetretene Katholik Jürgen Möllemann und der abtrünnige Priester Drewermann, sie brauchen ihn, auch wenn sie es nicht wahrhaben wollen. Wir aber wollen uns an ihn klammern, wollen ihn festhalten und sagen: „Herr, zu wem sollen wir gehen? Du allein hast Worte – ach was – du allein bist das ewige Leben.“

Amen.

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