Die Wahrheit verkündigen,
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Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
31. August 2025

Die Unsichtbarkeit Gottes

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Manche, vielleicht viele Menschen sehnen sich danach, Gottes Wirken im eigenen Leben und in der Gesellschaft erleben zu können. Sie möchten Gottes Eingreifen in die Nöte und Irrungen des Einzelmenschen und der Menschengemeinschaften erfahren. Sie glauben zwar, dass Gott die Lebensläufe der Menschen und die Schicksale der Völker lenkt. Aber sie dürsten danach, die Spur der göttlichen Herrschaft zu sehen. Es gibt auch Menschen, die Anstoß daran nehmen, dass sie Gott und sein Wirken nicht mit ihren leiblichen Augen sehen können. Ein Arbeiter in einer sächsischen Industriestadt war verstimmt wegen der Verborgenheit Jesu im Tabernakel. Er sagte wehmütig zu mir: „Wenn er doch einmal herauskäme!“ Doch Gott kommt nicht heraus. Andere nehmen es Gott übel, dass er angesichts entsetzlicher und anhaltender Schrecken nicht mit mächtiger Hand eingreift, wie sie es sich vorstellen, und machen ihm deshalb Vorwürfe. Als die Gräuel der Bolschewiken in Russland in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts jedes Maß überschritten, ließ der Schriftsteller Edwin Erich Dwinger das Buch mit dem Titel „Und Gott schweigt“ erscheinen. Im äußersten Fall folgern sie daraus, dass Gott nicht existiert.

Tatsächlich ist Gott für das leibliche Auge des Menschen unsichtbar. Er ist nicht unmittelbar zugänglich und greifbar. Gott wird seine Gründe dafür haben, dass er für das leibliche Auge des Menschen unsichtbar ist. Einige vermögen wir zu erkennen. Die Unsichtbarkeit Gottes für das leibliche Auge des Menschen folgt aus der physischen Einfachheit oder puren Geistigkeit des göttlichen Wesens (Ex 33,20; 1 Tim 1,17; 6,10). Gott ist nicht materiell, sondern geistig. Was geistig ist, das ist dem Auge verborgen. Selbst unser Geist kann nicht gesehen werden. Noch viel weniger die unendlich überlegene Geistigkeit Gottes, die nicht etwa der menschlichen Geistigkeit gleichgestellt werden kann. Gott ist der Wirklichkeit und der Wesenheit nach von der Welt verschieden und über sie erhaben. Unsichtbarkeit Gottes bezeichnet – als Moment seiner Unendlichkeit – Gottes absolute Welttranszendenz und prinzipielle Verborgenheit (Jes 45,15) sowie seine Unbegreiflichkeit. Das macht das Gott-Sein Gottes aus, dass er nicht zu dieser Welt gehört, dass er vielmehr der Jenseitige ist. Gott und Welt liegen nicht auf einer Erfahrungsebene. Gott ist nicht nur die Spitze der Seinspyramide. Er steht vielmehr jenseits alles irdischen Seins. Der Schöpfer ist Grund, nicht Teil der Schöpfung. Gott ist nicht der Verhaftete seiner Schöpfung, sondern ihr Herr und Richter. Er steht ihr in überlegener selbstverständlicher Allmacht gegenüber. Gottes Unsichtbarkeit hat also ihren inneren Grund nicht in der Begrenztheit der menschlichen Erkenntnisfähigkeit, sondern darin, dass Gott kein dinglich-erfassbarer Teil dieser Welt ist. Das Bilderverbot macht damit ernst (Dtn 4,15; Jes 40,18; Röm 1,23). „Du sollst dir kein geschnitztes oder gegossenes Bild Gottes machen.“ Aber auch kein gedachtes. Ein eigentliches Sehen Gottes ist unmöglich (Gen 32,31; 33,10; Ex 24,10f.; Num 12,8; Ex 3,2ff.; 33,18-23; 1 Kön 19,9-13; Jes 6,1; Ez 1,1).

Gott ist unsichtbar zu seinem eigenen Schutz. Seine Unsichtbarkeit verhindert, dass die Menschen ihn zum Gegenstand ihrer Neugier oder ihres Vorwitzes machen, statt ihn zu verehren und anzubeten. Er darf nicht unter Mikroskope gelegt oder in Laboratorien seziert werden. Gott ist außerhalb jeder Verführungsmacht der Menschen. Seine Unsichtbarkeit sichert seine Überlegenheit über alle Geschöpfe und macht ihn unangreifbar. Was die Menschen machen, wenn sie Gott in die Hände kriegen, wissen wir. Sie haben keinen Platz für ihn auf ihrer Erde. Sie geißeln ihn, spucken ihn an und nageln ihn an ein Kreuz. Gott hat seine Er-fahrung mit den Menschen.

Die Unsichtbarkeit Gottes ist eine Bezeugung seiner Unbegreiflichkeit. Gott ist wesentlich unbegreiflich, d.h. er übersteigt die menschliche Vernunft prinzipiell. Die Unbegreiflichkeit Gottes bringt zum Ausdruck, dass der Seinsreichtum und die Lebensfülle Gottes von keiner geschaffenen Erkenntniskraft erschöpfend durchschaut werden kann, dass er durch keinen menschlichen Begriff umgriffen, durch keine menschliche Vorstellung umspannt und durch kein menschliches Wort umschlossen werden kann. Gott ist ein undurchdringliches Mysterium. Auch wenn Gott sich dem Menschen aus freier Liebe erschließt, bleibt er der Unbegreifliche. Ja, gerade in seiner Selbsterschließung enthüllt er sich als den Unbegreiflichen. Die Offenbarung hebt das Mysterium nicht auf, sondern stellt es ins Licht. Auch die Seligen des Himmels können Gott nicht begreifen. Weil sie ihn unmittelbar anschauen dürfen, begreifen sie, dass er unbegreiflich sein muss. Ein begriffener Gott ist kein Gott, sondern ein Gemächte der Menschen. Also, noch einmal: Kein geschaffener Geist kann Gott begreifen. Gott kann sich nur selbst begreifen. Er ist sich seiner bewusst und erkennt sich in voller Selbstbegreifung.

Gott offenbart sich in seinem Sprechen und Handeln als den Unbegreiflichen. Er teilt nicht etwa lehrhaft mit, dass er der Unbegreifliche ist. Sondern er redet und handelt so, dass er als der Unbegreifliche erfahren wird. Da wird nicht etwa bloß erzählt, dass Gottes Liebe unfassbar kraftvoll und innig, dass Gottes Zorngericht unbegreiflich furchtbar ist. Die Unbegreiflichkeit seiner Liebe und seines Zornes offenbart sich in seinem Tun: indem er seinen eigenen Sohn in den Tod hineingibt, indem sein Gericht mit schrecklicher Gewalt losbricht gegen die Heiden (Röm 1,18). Im Alten Testament wird bezeugt, dass Gott so ist und handelt, dass die Menschen staunen, sich wundern, ihn bewundern, ja vor ihm erschrecken. Wunderbar und unbegreiflich ist es, wie er die Frommen führt und vor den Heiden schützt. Verwunderlich und seltsam aber kommt es dem Frommen vor, wie er auch die Heiden siegen und seine Getreuen untergehen lassen kann. So rätselhaft ist Gottes Tun, dass der Fromme versucht ist, daran Anstoß zu nehmen (Sir 11,21). Gottes Pläne sind nicht durchschaubar, seine Entschlüsse nicht berechenbar (Is 45,15; Ps 89,47). Sie sind vom Schauer des Geheimnisses umwoben (Is 25,1; Ps 73; Ex 15,11). In der neuen, durch Christus begründeten, letzten Epoche der menschlichen Geschichte wird das Geheimnis Gottes in einer Weise aufgedeckt, die alle bisherigen Gottesoffenbarungen weit übertrifft. Christus ist die Offenbarung Gottes. Aber sie ist um so dichter vom Geheimnis umgeben. Gott hat uns gewiss das Geheimnis seines Lebens in Christus enthüllt. Aber diese Aufdeckung geschah selbst wieder auf geheimnisvolle, auf seltsame und rätselhafte Weise. Das Gottesgeheimnis trat nicht in strahlender Herrlichkeit vor das Auge des Menschen. Sondern in der Knechtsgestalt des Alltäglichen und Gewöhnlichen, ja des Leidens und Sterbens. Gott hat sich in seiner Selbsterschließung an menschliche Schwäche und Unvollkommenheit gebunden. Gerade darin erscheint er als der Unbegreifliche. Durch die Selbsterschließung wird uns deutlich, wie sehr Gott Geheimnis ist. Die Weisheit Gottes wird von dem selbstherrlichen Menschen als Torheit verlacht und verworfen. Gottes Unbegreiflichkeit wird als Unsinn, als Sinnlosigkeit erklärt. Ihre Undurchdringlichkeit tritt am furchtbarsten darin zutage, dass die Menschen Gottes Sohn, in dem Gottes Herrlichkeit schaubar geworden ist, als Gottes Feind töten. Gott bleibt auch für den vom Geiste Erleuchteten, dem Christus die Binde von den Augen genommen hat, der Unbegreifliche, der in einem unzugänglichen Lichte wohnt (1 Tim 16,6). Gott kann das Geheimnis seines personalen Lebens gar nicht vollkommen enthüllen. Denn er kann sein In-sich-sein, sein Sich-besitzen nicht preisgeben. Der Mensch kann Gott sein Bei-sich-sein nicht entreißen. Er müsste, um dies zu können, selbst Gott sein.

Die Unsichtbarkeit Gottes hat die Unsagbarkeit Gottes zur Folge. Gott ist für jeden geschaffener Geist unbegreiflich und daher auch unaussprechlich. Gott steht als Grund von allem jenseits alles Seienden und ist darum unsagbar; sein Wesen bleibt in heiligem Dunkel verborgen. Die Versuche des Menschen, Aussagen über Gott zu machen, sind ausnahmslos unzulänglich. Wenn wir ihn Gott heißen, so ist das nur ein Wort unserer Hilflosigkeit, auf dass wir nicht ganz von ihm schweigen müssen. Von Gott lässt sich präzise sagen, was er nicht ist, jedoch nicht in begreifender Erkenntnis, was er ist (Thomas v. Aquin). Die Unbegreiflichkeit Gottes führt zu der schwierigen Frage, ob Gott mit einem Namen genannt werden kann. Die Kirchenväter nennen daher Gott häufig den Namenlosen. Sie drücken damit aus, dass kein Name geeignet ist, Gott so zu benennen, dass sich darin sein Wesen erschöpfend darstellt. Gottes Name ist ein Geheimnis. Er wird uns nur bekannt, wenn Gott selbst ihn in der (natürlichen und übernatürlichen) Offenbarung bekannt gibt. Mit der Unbegreiflichkeit Gottes ist auch schon die Unaussprechlichkeit derselben erkannt, da die Worte Ausdruck unserer Begriffe sind. So gibt es auch für Gott keinen Namen, der ihn adäquat bezeichnete. Weil es keinen Namen gibt, mit dem Gottes Geheimnis erschöpfend ausgedrückt werden kann, bedarf es vieler Namen, durch die wir uns das unerschöpfliche Gottesgeheimnis vergegenwärtigen. Diesem Sachverhalt tragen die Kirchenväter Rechnung, wenn sie Gott nicht nur den Namenlosen, sondern auch den Vielnamigen, ja den Allnamigen nennen.

Trotz seiner Unzugänglichkeit wissen wir von Gott, seiner Existenz, seinem Wirken. Wir können Gott erkennen. Die uns mögliche Erkenntnis ist die Analogie. Die Analogie der Erkenntnis erfasst ein Seiendes nach seinem Verhältnis zu einem anderen. Das Sein eines Seienden wird durch Vergleich mit einem anderen verdeutlicht. Die Analogie setzt voraus, dass das Seiende, mit dem verglichen wird, bekannter sei als das andere und dass zwischen beiden Übereinkunft und Verschiedenheit zugleich bestehe. Gott kann nicht unmittelbar geschaut werden. Das Wissen um Gott wird durch Wirklichkeiten vermittelt, die nicht er selbst sind, also durch Außergöttliches. Tatsächlich gewinnen wir alle Gotteserkenntnis auf dem Umweg über die Geschöpfe, sei es über die Dinge, sei es über den Menschen (als Einzelwesen oder als Gemeinschaft), sei es über die Geschichte. Der unsichtbare Gott wird immer vermittelt erkannt: durch die Schöpfung, durch die Heilsgeschichte und durch die angenommene und verherrlichte Menschheit des Logos. Denn Christus „ist das Bild des unsichtbaren Gottes“ (Kol 1,15); durch ihn sieht man den in unzugänglichem Licht wohnenden, von keinem Menschen je gesehenen Gott und Vater (1 Tim 1,17; 6,16; Joh 1,18; 14,9; 1 Joh 1,1ff.). Die Offenbarung ändert die Natur unseres Intellekts nicht. Wir können auch die durch die Offenbarung uns mitgeteilten Inhalte nur durch analoge Begriffe uns nahebringen. Die Weise, wie die durch unsere analogen Begriffe ausgedrückten Inhalte bei Gott verwirklicht sind, ist uns unbekannt, und wegen der Unbegreiflichkeit Gottes ist sie uns notwendig unbekannt. Analoge Erkenntnis ist nicht wertlos. Insofern die Analogie Übereinkunft besagt, überwindet sie aber ein völliges Auseinanderfallen von Welt und Gott und ermöglicht ein Erkennen Gottes. Gott ist in der Welt erfahrbar, aber nur indirekt, vermittelt „wie in einem Spiegel“, „in rätselhaften Umrissen“ (1 Kor 13,12). Wir erkennen Gott nicht so, wie er in sich ist, sondern nur so, wie er seine unendliche Vollkommen-heit in der natürlichen und übernatürlichen Offenbarung darstellt.

Nun ist dem Menschen die Anschauung Gottes, also sein Innewerden, im ewigen Leben verheißen. Es gibt einen Himmel oder ein ewiges Leben, in dem die Gerechten an der Seligkeit Gottes teilnehmen. Sie schauen Gott und lieben Gott. Die Anschauung Gottes ist die unmittelbare intuitive Erkenntnis des dreieinigen Gottes durch den Intellekt der vollendeten und von aller Unvollkommenheit gereinigten Seelen. Sie ist dem menschlichen Intellekt in seinen natürlichen Kräften unmöglich. Der Grund liegt darin, dass der Seinsmodus Gottes den Seinsmodus der erkennenden Natur übersteigt (S.th. I q.12 a. 4; IV Sent. d. 49 q. 2 a. 6; De verit. 8,3; 3 Gent. c. 52). Nur wenn der Mensch durch das lumen fidei bzw. lumen gloriae über die Grenzen seiner Natur gnadenhaft erhoben wird, wird ihm ein „Sehen Gottes“ als Anteilgabe an der unendlichen Intelligibilität, in der Vater und Sohn sich im Geist erkennen, zuteil (DH 800, 895, 3001). Gottes Wesen wird unmittelbar geschaut. Der Mensch schaut Gott in seinem Wesen, er sieht dieses Wesen zwar totum, aber nicht totaliter. Die Transzendenz Gottes bleibt gewahrt, kein Seliger vermag Gott völlig zu erfassen und zu durchschauen. In der Anschauung Gottes erfüllt sich die Sehnsucht der Jahrtausende, die Sehnsucht der vorchristlichen Philosophie und der hellenistischen Mysterienkulte nach der Schau des Göttlichen, besonders aber die Erwartung der an Gottes Offenbarung Glaubenden. Die Kirche hat die Anschauung Gottes durch ihre unfehlbare Lehrverkündigung zur Gewissheit erhoben. Papst Benedikt XII. (1334-1342) erklärte in der Dogmatischen Konstitution „Benedictus Deus“ (29.1.1336): „Die Seelen aller Heiligen sind auch vor der Auferstehung ihres Leibes und dem allgemeinen Gericht im Himmel und schauen die göttliche Wesenheit in intuitiver Schauung von Angesicht zu Angesicht, ohne dass irgendein Geschöpf sich als Mittel und eigentlich angeschauten Gegenstand dazwischenstellt“ (D 500). Papst Eugen IV. (1431-1447) wiederholte diese Lehre im Decretum pro Armenis (22.11.1439): „Die Getauften, die sterben, ehe sie eine Schuld auf sich geladen haben, gelangen sofort in das Himmelreich und zur Anschauung Gottes“ (D 696). Die Gottesschau der Vollendeten hebt die Unbegreiflichkeit Gottes nicht auf. Auch die Seligen des Himmels können Gott nicht begreifen. Weil sie ihn unmittelbar anschauen dürfen, begreifen sie, dass er unbegreiflich sein muss.

Im 2. christlichen Jahrhundert lebte der athenische Philosoph Athenagoras. Im Herbst 176/177 überreichte er den Kaisern Marc Aurel und Commodus eine Schrift zur Verteidigung der verfolgten Christen. Darin legte er die christliche Lehre von Gott vor, die wir noch heute bekennen. Darin heißt es: „Jener ist unser Gott, der ungeworden und ewig ist, unsichtbar, unwandelbar, unbegreiflich, unfassbar, nur mit Verstand und Vernunft erkennbar, von Licht und Schönheit, von Geist und Kraft in unaussprechlich hohem Grad umgeben.“ Diesem Bekenntnis fehlt nichts und ist nichts hinzuzufügen. Welches Glück ist es, in einer Kirche zu leben, welche die Wahrheit über Gott zweitausend Jahre rein und unverändert bewahrt hat! Welchen Frieden tragen jene in sich, die von Gott ebenso denken wie die Apostel Jesu Christi!

Amen.

Schrift
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