Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
14. Juni 1987

Die heiligmachende Gnade

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Am vergangenen Sonntag hatten wir uns mit dem Wirken des Heiligen Geistes beschäftigt, und am Montag hatten wir eine dieser Wirkungen des Heiligen Geistes betrachtet, nämlich die einwirkende Gnade. Einwirkende Gnaden, das sind vorübergehende – vorübergehende! -  Impulse des Heiligen Geistes, die den Menschen zum Guten anleiten, antreiben wollen. Wenn der Mensch mit der einwirkenden Gnade mitwirkt, dann wird ihm die heiligmachende Gnade geschenkt. Wenn der Mensch mit der einwirkenden Gnade mitwirkt, dann verleiht nämlich der Heilige Geist, der in seine Seele eindringt, dieser Seele einen Glanz und eine Schönheit, die den Menschen der Freundschaft Gottes würdig macht. Wenn der Mensch mit der einwirkenden Gnade mitwirkt, dann tritt der Heilige Geist in seine Seele ein. Es ist ähnlich, wenn man einen Eisenstab ins Feuer hält. Der Stab fängt an zu glühen, er wird golden, er strahlt. Ähnlich, freilich auch unähnlich ist es mit einer Seele, in die der Heilige Geist eindringt. Sie wird von einer neuen Qualität erfaßt, sie erhält eine neue Befindlichkeit, eine veränderte Beschaffenheit, und diese Prägung nennt man heiligmachende Gnade. Im Unterschied zu der einwirkenden Gnade ist sie nicht vorübergehend, sondern bleibend, solange der Mensch nicht die Gnade verliert, solange er nicht aus der Gnade herausfällt. Aber die heiligmachende Gnade ist darauf angelegt, im Menschen zu bleiben, ihn zu erhöhen, ihn in eine andere Wirklichkeit zu erheben.

Der Heilige Geist stattet die Seele mit einem besonderen Glanz aus, mit einem besonderen Licht. Die Seele wird durchfeuert und durchleuchtet vom Heiligen Geist. Sie erlangt dadurch eine besondere Schönheit. Die Heilige Schrift spielt darauf an, wenn sie vom hochzeitlichen Gewande spricht. So wie ein Mensch, der ein feines, ein hervorragendes, ein glänzendes Gewand trägt, durch dieses Gewand gehoben wird in den Augen der Menschen, ähnlich-unähnlich ist es, wenn die heiligmachende Gnade die Seele in eine übernatürliche Wirklichkeit erhebt. Der Heilige Geist ist in der Seele, nicht wie die Sonne im Zimmer, denn nur mit ihren Strahlen dringt die Sonne in das Zimmer ein, nein, er ist wirklich und wahrhaftig in der Seele, er wohnt in der Seele wie in einem Tempel.

Die heiligmachende Gnade ist also nicht nur – das war ein Irrtum der Männer, die im 16. Jahrhundert auftraten – eine Gunst Gottes, sondern sie ist eine neue Seinsqualität im Menschen. Der Heilige Geist kommt und nimmt Wohnung im Menschen. Dafür hat die Heilige Schrift manche Ausdrücke, wie „Rechtfertigung“, ein Ausdruck, der uns fremd anmutet, aber er kommt vor beim Apostel Paulus, „Wiedergeburt“, das ist eine bessere Bezeichnung, Wiedergeburt zu einem neuen, zu einem besseren, zu einem schöneren Leben, „Anziehen des neuen Menschen, Ausziehen des alten Menschen“, das alles sind Worte, welche die Wirkung der heiligmachenden Gnade im Menschen beschreiben wollen.

Der so mit Schönheit erfüllte Mensch wird der Freundschaft Gottes gewürdigt. Gott zum Freunde haben, das heißt gewissermaßen auf eine Ebene mit Gott treten, denn zwischen Freunden besteht ja eine Art Gleichheit, und eine solche Gleichheit wird tatsächlich durch die heiligmachende Gnade begründet. Die einwirkende Gnade bereitet den Weg für das Empfangen der heiligmachenden Gnade. Unter dem Einfluß der einwirkenden Gnade fängt der Mensch an zu glauben, Gott zu fürchten wegen seiner Sünden, auf Gott zu hoffen wegen seiner Barmherzigkeit, Gott zu lieben wegen seiner Güte und seine Sünden zu bereuen, und auf diese Weise wird er hingeführt zu den beiden großen Heilssakramenten, die die heiligmachende Gnade in die Seele tragen, zum Taufsakrament und zum Bußsakrament. Sie vollenden die Bekehrung. Hier vollzieht sich das, was tatsächlich in der heiligen Schrift steht: „Bekehret euch zu mir, und ich will mich zu euch kehren.“ Da geschieht das, was der Herr vorausverkündet hat: „Wir werden kommen und Wohnung bei ihm nehmen.“

So wichtig ist die einwirkende Gnade und so mächtig ist das Mitwirken des Menschen mit der einwirkenden Gnade, daß da, wo keine Gelegenheit zum Empfang des Tauf- oder Bußsakramentes besteht, die Rechtfertigung, die Wiedergeburt sich auch ohne diese Sakramente vollziehen kann. Etwa in der Zeit vor Christus; da gab es weder ein Taufsakrament noch ein Bußsakrament. Aber die Erzväter, die Patriarchen und die Propheten, die mit der einwirkenden Gnade mitgewirkt haben, die an Gott und an seinen Messias geglaubt haben, die von Reue erfüllt waren über ihre Sünden, wie etwa David, diese Männer und Frauen haben damals die Rechtfertigung, die Wiedergeburt auch ohne die Taufe, auch ohne das Bußsakrament von Gott empfangen. Das ist auch heute noch möglich, denn wir wissen, nicht jedem ist es gegeben, einen Priester zu finden, um zum Taufsakrament und zum Bußsakrament Zutritt zu erlangen. Wenn diese Menschen mit der einwirkenden Gnade mitwirken, können sie gerechtfertigt, geheiligt, wiedergeboren, mit dem Heiligen Geiste erfüllt werden.

Der Heilige Geist ist der Lebensspender oder der Lebendigmacher, wie man das Wort vivificans im Glaubensbekenntnis nun übersetzen mag. Wo Gott wirkt, da wirkt er Leben, und so gibt er auch unserer Seele ein neues Leben. Selbstverständlich hat unsere Seele schon ein Leben, sogar ein unsterbliches Leben. Sie belebt auch unseren Leib, aber das ist ein natürliches Leben, das ist ein Leben, das jedem, der auf diese Welt kommt, der geboren wird, eigen ist. Über dieses Leben hinaus aber gibt es ein anderes, ein göttliches Leben, ein Leben, das uns Gott verwandt macht, und das ist das Leben der heiligmachenden Gnade, ein übernatürliches Leben. Dieses Leben wird uns durch den ankommenden Heiligen Geist vermittelt. Es erhebt uns in einer höhere Sphäre, in eine neue Seinsqualität. Es ist ähnlich, freilich unähnlich, wie wenn ein verkrüppelter, ein durch Krankheit und Alter verbrauchter Mensch wieder zu einem jugendlichen Menschen wird. So ähnlich, freilich auch unähnlich ist es, wenn die heiligmachende Gnade uns das übernatürliche Leben mitteilt. Das ist der größte Besitz, das ist der größte Schatz, den ein Mensch in sich tragen kann. Das ist das Wasser, das weitersprudelt ins ewige Leben. Das ist der Anfang des ewigen Lebens. Tatsächlich, so ist es: Das ewige Leben ist in dem Menschen, der die heiligmachende Gnade in sich trägt. Nur wird, wenn er vom Leibe gelöst ist, Gott ihm im Himmel die Vollendung schenken, aber das übernatürliche Leben ist der Anfang des himmlischen Lebens.

Es werden also gleichsam Samen in uns eingesetzt, Keime der Unsterblichkeit, des himmlischen Lebens, und zwar nicht bloß für die Seele, auch für den Leib. Der den Leib Christi, der tot war, lebendig gemacht hat, dieser selbe Geist wird auch einmal unsere Leiber lebendig machen in einer Weise, die wir uns nicht vorstellen können. Aber es gibt vieles, was man sich nicht vorstellen kann und was dennoch wirklich ist, und das wird wirklich sein, weil Gottes Wort es uns verbürgt.

Die heilige Magdalena von Pazzi hat einmal gesagt: „Wenn der Mensch wüßte, wie Gott einen in der heiligmachenden Gnade befindlichen Menschen liebt, dann würde er sterben vor Glück.“ Wir sind also, wenn wir in der heiligmachenden Gnade sind, Geliebte Gottes, seiner Freundschaft, seiner Freundschaftsliebe gewürdigt. Wen Gott reich gemacht hat, den kann kein Mensch mehr arm machen. Niemand, keine Macht auf Erden, kann einem Menschen die heiligmachende Gnade entreißen. Wer in der heiligmachenden Gnade ist, der besitzt etwas, was ihm niemals genommen werden kann, außer er fiele selbst aus der Gnade heraus durch eigene Schuld.

Wenn wir deswegen, meine lieben Freunde, lächelnde, glückstrahlende Menschen sehen, etwa im Fernsehen, oder wenn wir von den Erfolgen der Sportler und den angeblichen oder wirklichen Taten der Politiker hören, dann wollen wir nicht etwa eifersüchtig oder neidisch auf diese Männer und Frauen sein. Nein, wir wollen sie herzlich beglückwünschen zu ihren Erfolgen. Aber wir wollen auch die einzig entscheidende Frage stellen: Sind diese Männer und Frauen im Zustand der heiligmachenden Gnade? Tragen sie das in sich, was einzig lohnt auf dieser Erde? Oder laufen sie vergänglichem Talmiglanz nach, der vergeht, wenn das wahre Leben erscheint?

Halten wir uns an die Gnade, leben wir aus der Gnade, vermeiden wir alles, was uns aus der Gnade herausfallen lassen könnte! Wen Gott reich gemacht hat, den kann kein Mensch arm machen!

Amen.

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