Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
Gericht
3. Dezember 2023

Der Tempel zerstört

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Die Apostel sind im Gefolge ihres Meisters die breiten Tempelstufen hinabgestiegen und in der Lichtfülle dieses palästinensischen Tages auf der Höhe des Berges Sion vor der majestätischen Fassade stillgestanden. Der Tempel ist ihnen ein Gegenstand der Bewunderung    geworden. Nie schienen ihnen die Säulen wuchtiger, die Dächer glühender, die Massen gehaltener und ewiger als heute. Da begab sich etwas. Über ihre galiläischen Lippen floss das überschwängliche Lob des Tempels. Es war ihnen alles „unerhört“, „fabelhaft“, „unbeschreiblich“. Die Pracht des von Herodes dem Großen in jahrzehntelanger Arbeit geschaffenen Neubaus des Tempels war sprichwörtlich. Der Meister sagte zuerst nichts; dann holte er tief Atem, schloss die Augen und presste die schmalen Lippen sichtbar aufeinander, wie wenn er noch ein letztes Mal dieses Wort und dieses Urteil zurückstellen und einfangen wollte. Aber die Stunde war gekommen. Er öffnete seine Mund und sagte mit fester Betonung: „Kein Stein dieses Riesenbaues wird auf dem anderen bleiben.“ Wie er sich dann mit ihnen zur Stadt wandte, schwiegen sie alle; keiner wagte zu fragen, bis der Abend kam und sie sich an die Halde des Ölberges setzten und zu ihren Füßen die unbeschreiblich schöne Stadt Jerusalem lag. Diese Stadt sollte sterben? Dieser Bau, auf den Fundamenten Sions aufgericht, sollte zerstört werden? Kein Marmorblock auf dem anderen bleiben? Das war in ihren jüdischen Köpfen gleich Weltuntergang. Der Tod Jerusalems bedeutete den Tod der Welt! Nun werden sie ihn fragen. Einer wagt sich vor. Dann wird der zweite fragen. Diesen ganzen Abend füllt das ängstliche Gespräch über die letzten Dinge. So bietet der Lukastext des ersten Adventssonntages wie der Matthäustext des letzten Kirchenjahrsonntages dieselbe Aufeinanderfolge von Äußerungen zum Untergang der Welt und zum Untergang der Stadt. Christus malt die Weltkatastrophe in den riesenhaften Bildern der Literatur seiner Zeit. Zeichen an der Sonne, am Mond, an den Sternen! Bedrängnis auf Erden. Das Meer wirft seine Fluten über die Ufer. Den Menschen geht der Atem aus. Die Kräfte des Himmels werden erschüttert. Damit ist der grandiose Gedanke der Uroffenbarung vom Ende der ganzen Welt gemalt. Es ist das kein dramatisches Naturtheater, wie es die Stunden des Christustodes auf dem Kalvarienberg umspielt, sondern es ist der wirkliche Weltenbrand, in dem der Kosmos zusammenbricht.

Auf dem Hintergrund solch apokalyptischen Dunkels malt Christus seine Parusie, die Wiederkunft des Herrn. Feuer bricht aus den Himmelstoren und flutet um den Weg, über den der Nazarener zur Erde steigt. Auf einem Wolkenwagen sprengt er in die Welt hinein. In der Sprache der jüdischen Bücher war die Wolke stets Nähe Gottes. Damit steigt das Selbstzeugnis Christi von sich selber untrüglich zur Höhe der Proklamation seiner Gottgleichheit. Er nennt sich den mit Macht und Herrlichkeit ausgestatteten „Menschensohn“. Dieses Wort ist zur klassischen Bezeichnung des Herrn geworden. Er hat dieses Wort offenbar für geeigneter gehalten, die Intelligenz seines Volkes zum Verständnis seines Leidens und seines Todes zu führen, als irgendeine andere Bezeichnung. Das Wort „Gottessohn“, dessen Inhalt er unerbittlich forderte, blockierte den Gedanken des Gekreuzigten. Das antike Denken hat keinen Platz für den gekreuzigten Gott gehabt. Auch das Wort „Davidssohn“, auf das er als der Träger der israelitischen Messiasidee Gewicht legte, scheint ihm zur Einführung in das Mysterium seiner Passion ungeeignet. Das kleine Volk im syrischen Winkel des Mittelmeeres sträubte sich, dem Streit gegen die Gewaltherrscher seiner Geschichte die blassen Züge des dornengekrönten Galiläers zu geben. So traf das Wort „Menschensohn“ wirklich das Dogma, um dessen Einprägung der Nazarener vor allem in der letzten Zeit seines öffentlichen Wirkens unausgesetzt kämpfte. Auf dieses Bild folgt, mit bewusster Abbiegung der Schreckenswirkung, das große Wort der vollendeten Seelenruhe. Für alle, die in der Reinheit ihres Gewissens bewusst oder unbewusst Christen sind, für alle, die nicht die Schiebung, nicht die Lüsternheit, nicht den Egoismus, sondern wirklich den Nazarener bejahen, ist seine Parusie keine kriminalistische Angelegenheit. Sie dürfen ihre Häupter erheben, denn ihnen ist er die „Erlösung“.

Aber kaum hat der Herr den universalen Ausklang seiner Vorhersage gegeben, da wendet sich ein anderer Apostel an ihn. Er ist über das Wort dieses Morgens noch nicht hinweggekommen. Seine Augen haften trunken an den Säulen, an den Dächern, an den Massen des Tempels, der jenseits des Cedron über das Tal hinweg am Hügel liegt. Er will wissen, wann das Furchtbare kommt und ob man die Katastrophe der Zerstörung Jerusalems ein paar Monate vorauswissen kann. Die Katastrophe fällt in das Jahr 70 nach Christus. Wir kennen die Kaiser, die den Feldzug leiteten, Vespasian und Titus, Vater und Sohn, und die palästinensische Revolution, die ihnen Anlass dazu gab. Jerusalem wurde belagert, ausgehungert, erstürmt. Das römische Heer bestand aus der 5., 10., 12. und 15. Legion. In erbitterten Kämpfen drangen sie in die Stadt ein und eroberten die Burg Antonia. Dann erfolgte der Angriff auf den Tempel. Die Römer hatten beschlossen, ihn zu erhalten. Doch ein römischer Soldat schleuderte durch ein Fenster an der Nordseite des Tempels einen Feuerbrand in das Tempelhaus. Der Feldherr Titus befahl zu löschen, aber die wie rasend gewordenen Soldaten warfen von neuem Feuer in den Tempel und metzelten alles nieder, was ihnen in den Weg kam. Als das Feuer immer mehr um sich griff, betrat Titus mit seinen Offizieren das Allerheiligste, das noch nicht vom Feuer ergriffen war, und gab noch einmal Befehl zu löschen. Aber die Erbitterung gegen die Juden war stärker als sein Befehl. Am 6. August des Jahres 70 ging der Tempel in Flammen auf. Danach ließ Titus den letzten Rest der Stadt zerstören. Im folgenden Jahr feierte er mit seinem Vater Vespasian und seinem Bruder Domitian einen Triumph in Rom, wo man auch die Prachtstücke des Tempels mittrug. Wir kennen die Skulpturen des Titusbogens am römischen Forum, die uns den Wegtransport des siebenarmigen Leuchters und die Gefangennahme der zu Sklaven degradierten jüdischen Empörer gemeißelt schildern.

Der Apostel, der den Herrn fragte, wann sich seine Vorhersage erfüllen werde, steht noch Jahrzehnte vor der schrecklichen Katastrophe. Man ist am Anfang der dreißiger Jahre. Kann man irgendwie wissen, wann das Schreckliche eintritt? Da fasst ihn der Herr bei der Hand und belehrt ihn mit einem Beispiel aus der Landwirtschaft. Der Apostel wird sich vom See Genesareth her der Feigenbäume erinnern, und er wird wissen, dass dieses trockene Holz im Frühjahr, wenn die Säfte steigen, weich wird und anschwillt. Die Knospen, die ansetzen und auftreiben, könnte man dann, wäre man selbst blind und wäre man geruchlos und hätte man das Gefühl für die Temperatur verloren und spürte die syrische Sonne nicht, die über den steinigen Feldern bei Bethsaida liegt, diese Knospen könnte man mit der Hand abtasten. Zwischen ihnen und dem beginnenden Sommer bestehen innere Zusammenhänge. Ohne Bild gesprochen: Ja, man wird aus der Entwicklung des gesamten Lebens des israelitischen Volkes wissen können, ob und wie lange das noch dauert. Wenn es so weitergeht drüben in Jerusalem, wenn die offizielle Religionsgemeinschaft so tot bleibt, wenn die führenden Schichten des Volkes den großen Sinn ihrer Geschichte so wenig begreifen; wenn im Lande nur noch ein paar stille Menschen wahrhaftig fromm sind und den großen Gott in ihrer Seele tragen; wenn bis in den Tempel hinein die Anarchie tobt und wenn sie aus dem Gotteshaus ein Warenhaus machen; wenn die Geldkurse und Steigen und Fallen des Denars sie mehr interessiert als die Beobachtung des Gesetzes Gottes in stillen Nächten des Gebetes und in heiliger Arbeit des Tages, wenn die Veräußerlichung sie zu Schminke und Lustbarkeit treibt und darüber verdorren die werdenden Kindern und verwildern Zucht, Ehrlichkeit und Opfersinn des heimischen Herdes, dann ist die Katastrophe nicht mehr zurückzuhalten; dann ist das Feuer dieser Opferstätte ausgelöscht. Auch dieses gigantische Bild schließt mit einem starken Appell an die christlichen Menschen: Wenn das geschieht, sollt ihr wissen, dass das „Reich Gottes“ nahe ist. Auch Markus kennt dieses Wort. Matthäus, der stärker als die beiden anderen Synoptiker im Jüdischen wurzelt, scheut sich, den heiligen Gottesnamen hüllenlos auszusprechen. So nennt er die neue Zeit das „Himmelreich“. Ihnen allen aber ist klar, dass mit Christus eine neue Epoche beginnt, an deren Schwelle das rein völkische und rein politische Jerusalem versagt hat. Es reicht nicht aus, das blaue Blut der Patriarchen und Könige in den Adern zu führen. Das neue Reich spannt seine Gezelte und seine Gesichte weiter. Die nämlichen Ereignisse, welche die Menschen in Bestürzung und Schrecken versetzen, sollen den niedergedrückten Christen die Anzeichen sein, dass die Stunde ihrer Erlösung nahe ist. In dem Augenblick, da auf Erden die Menschen von Entsetzen erfüllt sein werden über die ungeheuren Ereignisse, deren Zeugen sie sein sollen, wird der Menschensohn, von einer Wolke getragen, aus der himmlischen Welt erscheinen.

Die Kirche kommt zu Beginn des Kirchenjahres auf die Lehre vom Ende zurück, um die Gläubigen zu einer richtigen Auffassung des Lebens zu erziehen. Zwei Grundhaltungen sind vor allem für Christen verpflichtend: Wachsamkeit und Hoffnung. 1. Wachsamkeit: Die Parusie wird nicht mehr als nahe bevorstehend betrachtet; vielmehr muss mit einer noch unbestimmt langen Dauer der Geschichte gerechnet werden. Darum die Mahnung zur Wachsamkeit (Luk 21,34-36). Was jeden Tag eintreten kann, ist immer nahe. Man muss nur bereit sein. Ein Christ darf nicht aufgehen im einstweiligen Leben und so tun, als komme nichts mehr nach. Das gilt vom Genuss, von der Sünde, aber auch von der Sorge des Alltags, also von seinen Plänen und Aktivitäten. Es genügt auch nicht die Bereitschaft, am Schluss des Lebens noch alles in Ordnung zu bringen. Es wäre zu riskant, und das Evangelium warnt ausdrücklich vor dieser Haltung. 2. Wachsamkeit allein genügt nicht. Darum besteht das Evangelium auf der Hoffnung als christlicher Grundhaltung. Wer wachsam ist, darf hoffnungsvoll an das Ende denken; denn es bedeutet Erlösung, nicht einfach nur Belohnung des Guten und Bestrafung des Bösen. Erlösung ist mehr. Die Erlösung bedeutet das Ende aller Drangsale und Verfolgungen der Christen. Denn der Tag der Parusie bringt wohl den Heiden das Gericht und damit das Verderben, ihnen aber Befreiung. Der ringende Mensch darf hoffen, dass der Kampf nicht immer dauert. Der reuige Sünder darf hoffen, dass seine Schuld verziehen wird. Der armselige Mensch braucht nicht zu verzweifeln, weil Erlösung die endgültige Gabe des wiederkommenden Christus sein wird.

Jesus hat das Geschick des Tempels Jahrzehnte vorher gewusst und ausgesagt. Er kennt das Schicksal der Menschen und der Institutionen. Ihm ist nichts verborgen. Und was er vorausgesehen und vorhergesagt hat, das trifft unaufhaltsam ein. Wahrhaftig: „Himmel und Erde werden vergehen, aber eine Worte werden nicht vergehen.“ Seine Worte sind absolute Wahrheit und haben darum ewige Geltung, wie sie nur Gottes Wort haben kann.

Amen.    

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